Von Schiffen, Fischen und Elefantenköpfen


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Von Schiffen, Fischen und Elefantenköpfen

Didaktische Überlegungen zum Umgang mit religiösen Geschichten im Fach ERG/RKE

Geschichten aus verschiedenen Religionen gehören zum ERG- bzw. RKE-Unterricht. Doch welches sind die Stolpersteine und wo liegen die Chancen? Klärung dieser Frage bringt die Differenzierung der beiden Fachanliegen «Religionen, Kulturen» und «Ethik». Der Artikel regt praxisbezogen zur Auseinandersetzung mit diesem Thema an. Im Fokus stehen die biblischen Geschichten der jüdisch-christlichen Tradition; grundsätzlich gelten die Erwägungen jedoch für jede religiös oder weltanschaulich geprägte Geschichte.
Von Olivia Franz-Klauser

1. Lehrplan und Bildungsauftrag

Geschichten im Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft ERG bzw. Religionen, Kulturen, Ethik RKE[1] zu thematisieren, bedeutet, eine Perspektive auf religiöse Texte und Traditionen zu eröffnen. In diesem Kontext erfüllen die Geschichten keinen Selbstzweck, sondern der Text und seine Wirkungsgeschichte werden als Phänomen wahrgenommen und den entsprechenden religiösen Traditionen zugeordnet.

Der Umgang mit religiösen Phänomenen der Lebenswelt ist in der Schweiz im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern im Curriculum der öffentlichen Schulen verankert, ohne dass eine Dispensmöglichkeit besteht. Dahinter steht das Bildungsziel, es Kindern zu ermöglichen, sich in einer multikulturellen Gesellschaft angstfrei, tolerant und der eigenen Tradition bewusst zu bewegen. Entsprechend ist die Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler im Unterricht zu wahren. In Bezug auf Geschichten bedeutet dies insbesondere, dass man Kindern die Chance bietet, Geschichten aus der Distanz zu betrachten und an ihnen zu lernen, was Pluralität und Binnendifferenz – die Vielfalt innerhalb einer Religion – bedeuten.

2. Einführung ins Thema

Geschichten tauchen als Elemente kultureller Traditionen in den allermeisten Gesellschaften auf. Oft sind sie verbunden mit der Verehrung von Gottheiten oder mit der Erinnerung an herausragende Menschen. Manche erklären heilige Orte und Objekte, andere sind Teile von Festtraditionen. Auch in Literatur, Musik und bildender Kunst können religiöse Geschichten anklingen. Im Judentum und im Christentum hat sich mit der Überlieferung vieler Geschichten, die Bezug nehmen auf die Hebräische Bibel oder das Neue Testament, eine narrative Theologie entwickelt; eine Theologie, die durch das Erzählen einer Geschichte statt durch eine anspruchsvolle Predigt Texte interpretiert und theologische Anliegen vermittelt. Auch in den Hadithen, den Überlieferungen der Aussprüche Mohammeds, finden sich viele Geschichten, die das Gedankengut des Korans weitertragen.

Für die Herausforderung, die hier im Zentrum steht, spielt es eine untergeordnete Rolle, ob die in Frage stehenden Geschichten zur Kernüberlieferung der jeweiligen Religion gehören und Teil der heiligen Schriften sind, oder ob sie im Laufe der mündlichen Überlieferung entstanden und irgendwann verschriftlicht wurden. So oder so sind Geschichten Elemente einer religiös-kulturellen Überlieferung, die wie Festbräuche, Sakralräume oder Objekte zu einer bestimmten Religion gehören.

In der westlichen Welt hat das Christentum – weniger ausgeprägt auch das Judentum – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine unüberschaubare Menge an Kinderbibeln, Geschichtensammlungen und Bilderbüchern hervorgebracht. Diese Publikationen sind in erster Linie für die familiäre Weitergabe religiöser Werte oder für den konfessionellen Unterricht konzipiert. Sie pflegen eine narrative, auf Kinder fokussierte Theologie. Sie entstammen der evangelischen, katholischen oder orthodoxen Konfession, und sie sind vielleicht der persönlichen Frömmigkeit oder der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Auf jeden Fall tragen sie oft ein Anliegen an ihre junge Leserschaft heran.

Diese Medien stellen eine reiche und gerne genutzte Quelle für den RKE-Unterricht dar. Allerdings können sie auch zum Stolperstein werden für einen Unterricht, der dem Ansatz «teaching about religion» verpflichtet ist. Dies geschieht dann, wenn Absicht und Zielpublikum durch die Lehrperson nicht sorgfältig analysiert und die Geschichte unreflektiert vorgelesen oder erzählt wird.

In jüngster Zeit kommen auch muslimische Kinderbücher auf den Markt. Ihre Autorinnen und Autoren haben deren Vorteile für die religiöse Unterweisung in Familie und Moschee erkannt. Europäisch-westliche Methoden der Pädagogik werden aufgenommen und eine im Islam bisher wenig gepflegte Tradition beginnt sich so zu etablieren.

Für alle diese Kinderbücher gilt dasselbe: Auf die eine oder andere Weise schimmern theologische Überzeugungen im Text oder in der Illustration durch. Deshalb und aus weiteren Gründen sind ein paar Vorüberlegungen angebracht, bevor eine Geschichte im Unterricht der öffentlichen Schule thematisiert wird.

3. Vorüberlegungen zur Thematisierung von religiösen Geschichten im Unterricht der öffentlichen Schule

3.1 Sitz im Leben und Rahmung

Jede religiöse Geschichte hat einen ursprünglichen Sitz im Leben. Im RKE-Unterricht braucht sie deshalb eine Rahmung: Wo steht sie? Wer erzählt sie? Wann wird sie erzählt? Hat sie eine Wirkungsgeschichte wie der barmherzige Samariter?

In einer RKE-Stunde für die 1. Klasse könnte das zum Beispiel so tönen: «Die Geschichte, die ich euch jetzt erzähle, steht im heiligen Buch der Juden. Sie steht auch im heiligen Buch der Christen, und sie kommt auch im heiligen Buch der Muslime vor. (Hier können die Schülerinnen und Schüler ihr Vorwissen zu diesen Schriften einbringen.) Die Geschichte handelt von einem Mann, der Noah heisst. Die Muslime nennen ihn auf Arabisch Nuh

Oder: «Die Geschichte, die wir jetzt lesen werden, steht in der Bibel, im heiligen Buch der Christen. Die Geschichte handelt von Jesus, und Christen denken jedes Jahr an Ostern an diese Geschichte.» Um den Sitz im Leben auch in den Arbeiten der Schülerinnen und Schüler zu unterstreichen, könnten die verschiedenen Geschichten mit einem Symbol der jeweiligen Religion, allenfalls unterstützt durch unterschiedliche Farben, gekennzeichnet werden. Dazu eignen sich beispielsweise die Blickpunkt-Karten[2] in verkleinerter Form. Ebenfalls günstig ist es, die Herkunft der Geschichte auf Arbeitsblättern zu vermerken.

Schülerheft, 2. Klasse 2016, Foto: Olivia Franz-Klauser

Hat man jüdische Kinder in der Klasse, oder ist die Klasse generell sprachlich interessiert und vif, kann man auch den hebräischen Namen von Noah Noach ins Spiel bringen. Ansonsten empfiehlt es sich, die Sache nicht unnötig kompliziert zu machen, auch was die Tatsache anbelangt, dass der erste Teil der christlichen Bibel, das sogenannte Alte Testament, derselbe Text ist wie die heilige Schrift der Juden. Diese vereinfachend als Tora zu bezeichnen, obwohl die Tora nur die fünf Bücher Mose umfasst, ist meines Erachtens ebenfalls sinnvoll auf dieser Stufe. Es betont den Stellenwert der Tora im Judentum gegenüber den anderen beiden Teilen der hebräischen Bibel, den Propheten und den Schriften. In konzentrischen Kreisen kann das Verhältnis der heiligen Texte der drei Buchreligionen im Laufe des Unterrichts in RKE differenziert dargestellt werden.

Es empfiehlt sich, Tora, Bibel und Koran als Objekte in der ersten Klasse zu thematisieren. Der Hinweis, dass die besprochene Geschichte in einem oder mehreren dieser Bücher steht, hilft dem Kind, sie zu verorten. Auch kann einmal der Originaltext, zumindest in der Bibel, aufgeschlagen werden. Gerne suchen Erstklässler bekannte Namen in einem für sie sonst schwer lesbaren Schriftbild einer alten Bibel. Viele Gestalten des sog. Alten Testaments haben nicht nur für Juden und Christen eine Bedeutung, sondern sie werden auch im Koran erwähnt, und mehrere gelten im Islam als Propheten, zum Beispiel Adam, Noah, Abraham und Moses aber auch Jesus, Johannes und Zacharias aus dem Neuen Testament. Solche Geschichten eignen sich, wenn es darum geht, Verbindendes zwischen den Buchreligionen zu unterstreichen.

3.2 Text und Rahmenhandlung

Kinderbücher stellen die eigentliche biblische Geschichte oft in eine zusätzliche Rahmenhandlung, welche der Identifikation des Kindes mit der Geschichte dienen soll. Im familiären Kontext oder im konfessionellen Unterricht ist das erwünscht und sinnvoll. Im Rahmen des RKE-Unterrichts gibt es zwei Möglichkeiten mit einer solchen Rahmengeschichte umzugehen:

  1. Man lässt sie weg und wahrt so die Distanz der Kinder zur Geschichte. Ist der Inhalt erschlossen, kann man sich mit den Schülerinnen und Schülern überlegen, warum wohl Christen bzw. Juden oder Muslime ihren Kindern die Geschichte erzählen.
  2. Man deklariert das Buch explizit als ein Objekt der familiären christlichen, jüdischen oder muslimischen Erziehung und überlegt sich im Anschluss an das Lesen oder Erzählen, welche Funktion die Rahmengeschichte hat.

Ein Beispiel für ein Buch mit Rahmenerzählung ist das Bilderbuch «Der grosse Turm»[3], das den Turmbau von Babel mit der Geschichte von zwei Kindern rahmt, die mit Steinen einen Turm bauen. Den kleinen Leserinnen und Lesern wird auf der letzten Seite versichert, dass Gott Kindertürme und spielende Kinder gerne hat, «auch dich». Will man die Illustrationen nutzen, kann man die entsprechenden Bilder samt dem dazu erfundenen König problemlos weglassen und sich in der Erzählung am Originaltext orientieren.

Gleichermassen können übrigens auch Lehrmittel der religiösen Unterweisung im RKE-Unterricht verwendet werden; nicht als allgemeines Sachbuch, sondern als explizit jüdisches, muslimisches oder christliches Buch, das als Informationsquelle verwendet wird.

3.3 Text und Originaltext

Manche biblischen Bilderbücher nehmen es mit dem Originaltext nicht so genau. Möglicherweise spielt dies für den RKE-Unterricht keine Rolle. Es empfiehlt sich trotzdem, den Text kurz darauf zu prüfen – die Sache soll geklärt sein. Wer keine Bibel zur Hand hat, oder das Gesuchte darin nicht findet, verwendet am besten einen Onlinetext.[4] Für diese Online-Bibel-Portale und -Texte gilt im übrigen dasselbe wie für die Kinderbücher, sie gehören alle einer bestimmten theologischen Tradition an.

Nach Konsultation des Originaltextes kann entschieden werden, wie nah am Text die Geschichte für die jeweilige Stufe erzählt werden soll. Dieser Arbeitsschritt kann entfallen, wenn der Text aus einem für RKE-geeigneten Lehrmittel stammt und das Bilderbuch nur der Illustration dient. Die Nacherzählungen biblischer Texte von Regine Schindler[5] eigenen sich oft auch als Basis.

3.4 Typen von Illustrationen

Illustrationen in Kinderbüchern zu biblischen und auch anderen religiösen Geschichten kann man in die fünf folgenden Typen einteilen – eine vertiefte Behandlung des Themas würde vielleicht noch weitere Unterteilungen sichtbar machen:

a. Realistische Darstellung

Sie sind mehr oder weniger um eine historische Darstellung bemüht. Sie bieten Anlass, beispielsweise die Bekleidung zur Zeit der Römer (Neues Testament) mit den Schülerinnen und Schülern zu betrachten.

b. Künstlerische Umsetzung

Sie sind eine freie, an künstlerischen Schwerpunkten orientierte oder durch eine bestimmte Technik (zum Beispiel Holzschnitt) geprägte Darstellung der Inhalte. Sie bieten sich an, die Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler auch auf diesem Gebiet zu schärfen, und münden allenfalls in einen gestalterischen Auftrag. Stufengemässe und gleichzeitig künstlerisch anspruchsvolle Illustrationen stammen beispielsweise von Štěpán Zavřel, der u. a. die Kinderbibel von Regine Schindler[6] illustriert hat.

c. Reduktion

Im Sinne einer Fokussierung auf das Wesentliche vereinfachen sie die Szenen. Ein herausragendes Beispiel hierfür sind die zahlreichen Illustrationen zu biblischen Geschichten des Künstlers Kees de Koort[7], die ursprünglich für Kinder mit verminderter Aufnahmefähigkeit konzipiert waren.

d. Verniedlichung

Sie stellen die Figuren vermeintlich kindgerecht dar und sind – oder waren teilweise – oft eurozentrisch in der Abbildung von Mensch und Umwelt. Hier muss man entscheiden, ob die Bilder die Behandlung der Geschichte erschweren oder vereinfachen. Doch auch hier gilt, dass man die Illustration zum Anlass des Gespräches machen kann. Auch mit jungen Kindern kann man überlegen, ob die Häuser vor 2000 Jahren im Orient tatsächlich wie eine europäische Scheune ausgesehen haben mögen.

3.5 Illustrationen zum Thema machen

Auf jeden Fall ist es ein Gewinn, wenn man die Illustration nicht einfach als gegeben hinnimmt, sondern sie auch selbst zum Thema macht. Dies fördert Kompetenzen im ästhetischen Bereich. Gleichzeitig relativiert eine ausgiebige Betrachtung der Illustrationen die Deutungshoheit des Künstlers, der Künstlerin. Dies ist im RKE-Unterricht nicht nur ein angenehmer Nebeneffekt, sondern sollte ein Kernanliegen sein. Durch die Betrachtung der Bilder nehmen die Kinder vorerst die Perspektive des Künstlers ein. Wird diese analysiert, nehmen die Kinder wahr, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt. Soll hier ein Fokus gesetzt werden, bietet sich der Vergleich verschiedener künstlerischer Interpretationen einer Geschichte an. Dieser Vergleich braucht nicht bei verschiedenen Bilderbüchern stehen zu bleiben, sondern es können auch Fresken oder Skulpturen betrachtet werden. Damit schliesst sich ein Kreis insofern, als der Unterricht in RKE dazu beitragen soll, Spuren religiöser Traditionen in der Welt wahrzunehmen und zuordnen zu können. Vielleicht war ja auch der Anlass, die Geschichte zu erzählen, ein Wandgemälde in der Kirche oder eine Skulptur in der Stadt.

3.6 Wahrheitsfrage

Kinder wollen es genau wissen. Sie fragen nach. Wenn sie ins Alter kommen, in dem zwischen Märchen oder Phantasiegeschichten einerseits und einer an Fakten orientierten Berichterstattung andererseits immer deutlicher unterschieden wird, fragen sie vermehrt nach und lernen dadurch, Erzähltes einzuordnen. Um das Einordnen des Erzählten geht es auch hier. Nur muss man dem Kind helfen, das Erzählte geeignet einzuordnen.

Pluralität und Binnendifferenzierung sind in diesem Zusammenhang wichtige Begriffe. Für junge Schülerinnen und Schüler sind solche abstrakten Begriffe jedoch schwer nachvollziehbar. Einfacher ist es, ihnen mehrere Perspektiven mit der Erwähnung verschiedener Menschen verständlich zu machen.

Die einfache Frage der Schülerin: «Sie, ist diese Geschichte wahr?» bringt eine Lehrperson gelegentlich ins Schwitzen: Wie steht sie persönlich zu dieser Frage? Wie wahrt sie mit der Antwort die Religionsfreiheit aller Anwesenden? Wie kann sie die wissbegierige Schülerin zufrieden stellen? Wie kann sie ehrlich sein, ohne die Fragestellerin zu beeinflussen?

In ihrer Not oder in vermeintlicher Offenheit gegenüber verschiedenen religiösen Traditionen, gab eine Studentin auf eine ähnliche Frage folgende Antwort: «Das darf jeder Mensch für sich selbst entscheiden.» Abgesehen davon, dass die Schülerin mit dieser Antwort vermutlich nicht wirklich zufrieden wäre, ist diese Antwort eine unausgesprochene Aufforderung an die Fragestellerin, sich persönlich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, um die Antwort zu finden.

Es ist jedoch nicht der Auftrag der Schule, Kinder zur persönlichen Auseinandersetzung mit religiösen Texten anzuregen. Vielmehr geht es darum, Traditionen zu kennen, zu verstehen und sie einer Religion, einem Fest zuordnen zu können. Der Lehrplan 21 formuliert dazu folgende Kompetenzen (NMG 12.2): «Schülerinnen und Schüler können zum Leben bedeutender Gestalten aus verschiedenen Religionen Geschichten erzählen. Schülerinnen und Schüler können erläutern, wie religiöse Texte und Schriften traditionell verwendet werden.»

Die Wahrheitsfrage zurückzuspielen ist also eine ungeeignete Strategie, die nicht zu den Lernzielen führt. Auch die Antwort «Diese Geschichte ist wahr, aber sie ist nicht passiert», ist im schulischen Kontext unpassend, da sie bereits eine Interpretation ist.

Ein fiktiver Dialog als mögliche Reaktion der Lehrerin
S: «Ist diese Geschichte wirklich wahr?»
LP: «Was meinst du mit wahr?»
S: «Also, ähm, ist sie wirklich so passiert?»
LP: «Das weiss ich nicht.»

Die Schülerin guckt erstaunt.

LP: «Warum ist das so wichtig?»

Die Schülerin denkt nach. Sie könnte auch sagen, dass eine Geschichte, die nicht passiert ist, nicht wichtig ist.

LP: «Erinnerst du dich noch, warum ich die Geschichte erzählt habe?»
S: «Ja, die Muslime erzählen sie am Opferfest. Glauben denn die Muslime, dass die Geschichte wahr ist?»
LP: «Ja, es gibt Muslime, die glauben, dass es genau so war. Andere denken, dass es wahrscheinlich nicht genau so war. Vermutlich gibt es auch solche, denen die Geschichte gleichgültig ist. Aber für viele Muslime ist es schön, diese Geschichte jedes Jahr am Opferfest zu hören. Sie denken vielleicht daran, dass schon ihr Opa ihnen diese Geschichte erzählt hat und dass es gemütlich war, ihm zuzuhören. Darum erzählen sie auch ihren Kindern und Enkeln die Geschichte jedes Jahr gerne. Kannst du das verstehen? Gibt es bei dir zu Hause auch Geschichten, die jedes Jahr erzählt werden?»
S: «Ja, Papa erzählt uns an Weihnachten immer die Geschichte mit dem Stall und den Hirten. Und wir dürfen ganz viele Guetzli essen.»

Ein solcher Dialog zeigt dem Kind, dass es auf seine Fragen unterschiedliche Antworten geben kann und er lenkt die Aufmerksamkeit auf den Sitz im Leben der Geschichte. Es lernt, dass Geschichten wichtige Funktionen haben können unabhängig von der Frage, ob sie je passiert sind.

3.7 Identifikation

Religiöse Geschichten, die für Kinder aufgeschrieben sind, zielen in der Regel darauf ab, dass sich Kinder mit den Protagonisten identifizieren und sich mit ihnen persönlich auseinandersetzen. Dies ist jedoch nicht das Ziel im RKE-Unterricht. Aber auch wer Geschichten aus den Religionen nach allen Regeln der Kunst erzählt, kann nicht immer verhindern, dass sich jüngere Kinder sofort mit den Protagonistinnen der Geschichte identifizieren. Sie zeigen dadurch meist auch, dass sie den Plot der Geschichte verstanden haben.

Die Aufgabe der Lehrperson ist es nun, den Kindern wieder «aus der Geschichte heraus» zu helfen und die Rahmung in Erinnerung zu rufen. In keinem Fall sollte eine ethische Diskussion, die ja alle Anwesenden zu einer Reflexion ihrer eigenen Werte anregen sollte, auf Grund einer religiösen Geschichte erfolgen. Geht es im Fachanliegen Religion und Kultur um die Begegnung mit Religionen und Weltsichten, so sollen Schülerinnen und Schüler diesen begegnen können, ohne eingeladen zu werden, deren Wertvorstellungen zu evaluieren.

Davon zu unterscheiden ist das Fachanliegen Ethik. Hier kann und soll über eigene Werte gesprochen werden. Eine geeignete Geschichte hierzu ermöglicht jedem Kind einen Zugang und stammt deshalb nicht aus dem Traditionsgut einer Religion. Die Begründung zu dieser Trennung liegt einerseits in der Tatsache, dass religiöse Wertvorstellungen durch das Gesetz der Religionsfreiheit geschützt sind und dass andererseits keine Dispensationsmöglichkeit für dieses Schulfach besteht.

Entsprechend fasst Lehrplan 21 Kompetenzen zu ethischen Fragen unter NMG 11 (Grunderfahrungen, Werte und Normen reflektieren) und Kompetenzen zu Religion und Kultur unter NMG 12 (Religionen und Weltsichten begegnen) zusammen.[8]

Zwei mögliche Verläufe von Unterrichtsgesprächen nach der Erzählung sollen dies verdeutlichen.

Günstiger Gesprächsverlauf
S1: «Ich hätte es auch so gemacht wie der barmherzige Samariter. Es ist gemein, einfach wegzuschauen.»
S2: «Ich hätte den Verletzten zu mir nach Hause genommen.»
S3: «Ich hätte ihn in ein Spital gebracht.»
LP: «Da habt ihr gute Ideen. Erinnert ihr euch, warum Jesus diese Geschichte erzählt hat?»
S1: «Jemand hat ihn doch gefragt, wer der nächste Mensch sei.»
LP: «Genau, du erinnerst dich gut. Jesus gab mit dieser Geschichte eine Antwort. Nun frage ich euch etwas: Was denkt ihr, warum erzählen Christen diese Geschichte gerne ihren Kindern?»
S2: «Vielleicht möchten sie, dass ihre Kinder es auch so machen wie der Samariter.»
LP: «Das denke ich auch. Alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder hilfsbereit sind. Auch in anderen Religionen gibt es Geschichten über die Hilfsbereitschaft. Kennt ihr eine? Fragt mal zu Hause nach.»

Die Klasse hat nun wieder die Rahmung vor Augen und innere Distanz zur Geschichte.

Ungünstiger Gesprächsverlauf

(Äusserungen der Schülerinnen und Schüler wie oben)

LP: «Ihr versteht gut, worum es in der Geschichte geht. Man soll ohne zu zögern helfen, wenn jemand Hilfe braucht. Habt ihr auch schon einmal jemandem geholfen?» Etc.

Die Kinder würden viele Beispiele einbringen. Die Lehrerin macht die Geschichte so zu einem allgemein gültigen Massstab menschlichen Verhaltens. Die Rahmung gerät in den Hintergrund und die Kinder identifizieren sich mit dem Protagonisten aus Samaria, um ihr eigenes Handeln zu überdenken.

In der Folge könnte es passieren, dass ein jüdisches Kind der Klasse zu Hause verkündet, es habe gelernt, dass man andern Menschen in Not helfen müsse, weil der Jesus das seinen Jüngern gesagt habe – und die Lehrerin sage das auch. Zu Recht könnten diese Eltern bei der Lehrerin anrufen und sich beschweren, ihr Kind werde in der Schule religiös beeinflusst.

3.8 Interpretation

Im Judentum und im Christentum spielt die Interpretation der heiligen Schriften seit jeher eine wichtige Rolle. Die Texte werden interpretiert und mit der eigenen Weltsicht und Wertehaltung in Übereinstimmung gebracht. In der Schule werden im Fach Deutsch auch Texte analysiert und interpretiert – Märchen beispielsweise. Es muss daher nicht erstaunen, wenn Schülerinnen und Schüler Fragen nach «warum» und «weshalb» auch an religiöse Texte stellen.

Geht das Gespräch im RKE-Unterricht in diese Richtung, gilt es, sich zwei Dinge zu vergegenwärtigen: Erstens bleibt die Deutungshoheit einer Geschichte bei der Religion, aus der sie stammt. Es gibt keinen Grund, warum eine jüdische Lehrerin einer staatlichen Schule eine christliche Geschichte für ein hinduistisches Kind interpretieren müsste. Sie könnte das Kind ermuntern, bei Christen nachzufragen. Zweitens gilt es immer, Schülerinnen und Schüler zu einer binnendifferenzierten Wahrnehmung hinzuführen.

Mit diesen beiden Aspekten im Hinterkopf könnte die Lehrperson mit den Schülerinnen und Schülern mögliche Erklärungen erwägen und dabei einflechten, dass nicht alle Christinnen und Christen diese Geschichte gleich interpretieren würden. Sie sensibilisiert dadurch ihre Klasse für die Mehrperspektivität einer Sache. Dies wäre auch eine Möglichkeit, die Behauptung eines Schülers zu relativieren, er wisse die richtige Erklärung. Beharrt er auf seiner Meinung, kann man ihn nachfragend darauf hinweisen, dass er nicht alle Christen und Christinnen persönlich kennt und deshalb nicht wissen kann, ob alle seine Meinung teilen. Eine solch anschauliche Erklärung kann einem Kind helfen, Pluralität, Binnendifferenz und Relativität zu verstehen.

3.9 Zwei Fachanliegen – eine Haltung

Je sicherer eine Lehrperson die beiden Fachanliegen auseinanderhalten kann, desto leichter wird es ihr mit der Zeit fallen, über beide gleichzeitig zu sprechen, ohne die Rahmenbedingungen des «teaching about religion» zu tangieren. Denn die ethische Haltung eines Menschen ist immer in seiner Weltsicht oder Religion verankert und kann deshalb nicht unabhängig von dieser betrachtet werden.

Zurück zum barmherzigen Samariter: Es könnte auch sein, dass ein muslimischer Schüler schon sehr verunsichert wirkt, wenn er sieht, dass nun eine Geschichte von Jesus gelesen wird. Aufgefordert, den Text vorzulesen, sagt er vielleicht, er wisse nicht, ob er diesen Text lesen dürfe. Wirkt das Kind wirklich verunsichert, sollte man nicht insistieren, sondern das Gespräch mit den Eltern suchen, das Anliegen des Unterrichts in RKE in Erinnerung rufen und sie bitten, dies mit dem Kind zu klären.

4. Schlussgedanken

Geschichten sind literarische Objekte, wie andere Artefakte Spuren von Religionen und Kulturen, die es zu erforschen gilt. Das Nachdenken über Geschichten eignet sich im Unterricht mit jüngeren Kindern, die mit längeren Texten noch Mühe haben und deshalb keine entsprechenden Rechercheaufgaben übernehmen können. Da sich die Möglichkeiten des Handelns im Fach Religion und Kultur ebenfalls in Grenzen halten, will man nicht mit muslimischen Kindern Osternestchen basteln oder jede Woche mit 25 Erstklässlern backen, so bilden Geschichten eine gute Möglichkeit, mit Kindern über ganz unterschiedliche Dinge ins Gespräch zu kommen und ihnen eine fremde Welt zu erschliessen. Gerade weil Kinder Geschichten meist sehr gerne mögen, ist es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, zu welchem Zweck und in welchem Zusammenhang eine Geschichte zum Thema werden soll. Diese Vorüberlegungen auf eine solide Basis zu stellen war die Intention dieses Artikels. Lehrpersonen sollten praxisbezogen Anregung erhalten, um über das Potential der Gattung nachzudenken und Stolpersteine im Laufe der Vorbereitung zu erkennen.

Abschliessend soll einem Zweitklässler das Wort gegeben werden, der nach längerem Ringen mit sich, dem Fach und den Mitschülerinnen und Mitschülern anwenden konnte, was er im RKE-Unterricht gelernt hatte: In seiner Klasse wurde im Frühjahr die Ostergeschichte besprochen. In Gruppen brachten die Kinder Bilder der Geschichte in die richtige Reihenfolge. Ein Mitschüler lachte über eine Darstellung. Da sagte er zu ihm: «Über dieses Bild darfst du nicht lachen, das ist respektlos. Weisst du, diese Geschichte ist für die Christen besonders wichtig.»

Anmerkungen

[1] Das Fach «Ethik, Religionen, Gemeinschaft ERG» wird in diesem Beitrag durchgehend mit der im Kanton Zürich gültigen Bezeichnung «Religionen, Kulturen, Ethik RKE» genannt.
[2] Blickpunkt-Karten aus: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich (Hrsg.) (2013): Blickpunkt. Religion und Kultur 1, Unterstufe: Klassenmaterial (mit CD-ROM), Zürich.
[3] Sakuma, Takeshi / Kasuya, Masahiro (1977): Der grosse Turm, übers. v. Peter Bloch, Hamburg.
[5] z. B. Schindler, Regine / Zavřel, Štěpán (1996): Mit Gott unterwegs. Die Bibel für Kinder und Erwachsene neu erzählt, Zürich.
[6] ebd.
[7] z. B. de Koort, Kees (1970): Josef, Stuttgart.
[8] Vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, Volksschulamt (Hrsg.) (2018): Ethik in der Volksschule, S. 4.
Artikelnachweis
Franz-Klauser, Olivia (2018): Von Schiffen, Fischen und Elefantenköpfen. Didaktische Überlegungen zum Umgang mit religiösen Geschichten im Fach ERG/RKE, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/franz-klauser-von-schiffen-fischen-und-elefantenkoepfen/

Über Olivia Franz-Klauser

Dr. phil. Olivia Franz-Klauser ist RKE-Fachdidaktikerin und Mitglied der Fachgruppe Natur- und Gesellschaftswissenschaften der PHZH. Sie hat Judaistik studiert und hat sich im interreligiösen Dialog engagiert. Heute ist sie als Mentorin an der PHZH und als Primarlehrerin in einer Unterstufe tätig.