Verschweigen oder Zumuten?


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Verschweigen oder Zumuten?

Schülerinnen und Schüler einer 5. Klasse philosophieren über moralische Fragen ausgehend von Geschichten

In diesem Artikel wird gezeigt, welche Merkmale philosophische Fragen aufweisen und welche Anforderungen sie an diejenigen stellen, die solche Fragen bearbeiten wollen. Anschliessend wird erläutert, wie Lehrpersonen Kinder im Unterricht dazu anregen und darin fördern können, über philosophische Fragen nachzudenken. Im zweiten Teil wird diese Didaktik des «Philosophierens mit Kindern» veranschaulicht, indem eine philosophische Unterrichtssequenz mit einer 5. Klasse ausführlich dargestellt wird.
Von Christoph Buchs

Wenn Kinder im Kindergarten oder in der Primarschule philosophieren, geht es nicht darum, dass sie abstrakte Theorien aus der Fachphilosophie erarbeiten. Vielmehr steht die Tätigkeit des Philosophierens in offenen Gesprächen im Zentrum. Ausgangspunkt dafür ist das Interesse der Kinder an philosophischen Fragen, die sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als bedeutsam erachten.

Der Charakter philosophischer Fragen

Für erste oder letzte, grundlegende oder sogenannt philosophische Fragen interessieren sich nicht bloss Erwachsene, sondern auch Kinder. Was ist nun das Besondere an diesen Fragen und in welchen Situationen werden sie für uns – Kinder wie Erwachsene – bedeutsam? Wir alle kennen Fragen und Probleme des Alltags, die wir mehr oder weniger mühelos beantworten können wie etwa «Wo erhalte ich Futter für einen Hamster?» Philosophische Fragen stammen zwar auch aus dem alltäglichen Leben, lassen sich jedoch nicht nach einem Standard-Muster bearbeiten:

Die Tochter weilt im Skilager, da verstirbt zu Hause ihr Hamster. Im Gespräch mit ihrem Mann schlägt die Mutter vor, das verstorbene Tier heimlich durch einen neuen Hamster zu ersetzen, da sie sich um das seelische Wohl ihrer Tochter sorgt, wenn sich diese mit dem Verlust des geliebten Tieres konfrontiert sehen sollte. Ihr Mann hingegen begegnet diesem Vorschlag äusserst skeptisch.

Eine solche Geschichte regt Kinder wie Erwachsene dazu an, grundsätzlich zu überlegen: «Darf man seinem Kind den Tod seines Haustiers verschweigen? Gilt das Wahrheitsgebot nicht uneingeschränkt?» Damit denken die Kinder über Fürsorge, Täuschung, das Wahrheitsgebot und deren wechselseitige Spannung nach. Davon, wie elfjährige Kinder ausgehend von dieser Geschichte philosophieren können, wird weiter unten berichtet.

Philosophische Fragen sind keine Fragen nach Fakten, sondern Sinn- und Bedeutungsfragen. Sie betreffen grundlegende Ideen, Begriffe und Meinungen, an denen wir uns im Leben ganz selbstverständlich und oft unbewusst orientieren. Es geht dabei um Begriffe, die unsere Wertvorstellungen betreffen wie Glück und Unglück, Recht und Unrecht. Es wird philosophiert über Vorstellungen zu unserem Erkenntnisvermögen und zu den Möglichkeiten und Grenzen des Wissens. Es geht um Fragen nach Schein und Wirklichkeit, nach dem Anfang aller Dinge und nach dem Glauben an ein mögliches Leben im Jenseits. Das Philosophieren beginnt dann, wenn einem diese Vorstellungen, Begriffe und Meinungen nicht mehr selbstverständlich, sondern auf einmal fragwürdig erscheinen.

Didaktik der Kinderphilosophie

Obwohl Kinder ein Gespür für philosophische Fragen haben, heisst das nicht, dass sie einfach so in der Lage sind, diese selbständig und ergiebig zu bearbeiten. Begriffliche Fragen erfordern eine philosophische Bearbeitung. Dazu ist ein Know-how im Sinne von speziellen Denk- und Reflexionshandlungen nötig, das die Kinder zunächst in philosophischen Unterrichtssequenzen erlernen und einüben müssen. Genau dies ist das Anliegen didaktischer Ansätze zum Philosophieren mit Kindern. Martens (2003 und 2004) unterscheidet und erläutert in Anlehnung an die philosophische Tradition fünf philosophische Denk- und Reflexionshandlungen, nämlich phänomenologische, hermeneutische, analytische, dialektische und spekulative. Um diese mit den Schülerinnen und Schülern zu erarbeiten, wird – mit Variationen – folgendes methodisches Vorgehen vorgeschlagen (vgl. Schreier 1993, Fröhlich 2004, McCall 2009, Jackson 2013): Während einer philosophischen Unterrichtssequenz werden verschiedene Phasen durchlaufen, in denen es je eine bestimmte Aufgabe durch die Anwendung bestimmter philosophischer Reflexionshandlungen zu bearbeiten gilt. Charakteristisch dabei ist, dass die Kinder diese Aufgaben interaktiv, oft im gemeinsamen Gespräch, angehen und bearbeiten.

Phase 1: Problemorientierter Einstieg

Ein philosophischer Gesprächsprozess soll durch einen problemorientierten Einstieg angeregt werden. Ausgangspunkt ist meistens eine für Kinder zugängliche und bedeutsame Geschichte, die bei ihnen ein philosophisches Problembewusstsein auslösen soll und an die sie (philosophische) Fragen stellen oder ausdrücken, was sie daran rätselhaft finden.

Phase 2: Bearbeitung

Rahmenbedingungen: Die gemeinsame, interaktive Bearbeitung einer philosophischen Frage ist nur im Kontext eines emotional und intellektuell geschützten Rahmens möglich. Die teilnehmenden Kinder müssen darauf vertrauen können, dass ihnen durch die Äusserung ihrer Ideen und Meinungen kein Nachteil erwächst, dass sie also deswegen nicht attackiert, verspottet oder abschätzig behandelt werden dürfen. Positiv verstanden bedeutet dieses Gebot Meinungsfreiheit, d. h. dass alle Meinungen (auch «heikle») geäussert werden dürfen, um einer argumentativen Prüfung unterzogen werden zu können. Dass die Bearbeitung interaktiv erfolgen soll, bedeutet zweitens, dass die daran teilnehmenden Kinder versuchen, aufeinander einzugehen, um die einzelnen Beiträge argumentativ zu vernetzen, statt bloss nebeneinander zu stellen.

Die Kinder sollen sich ihrer (kontroversen) Meinungen zu einer ausgewählten (philosophischen) Frage bewusstwerden und diese artikulieren. Unterschiedliche oder sich widersprechende Meinungen sollen nicht bloss nebeneinander stehen bleiben, sondern besser verstanden werden, weshalb die Schülerinnen und Schüler ihre Meinungen erläutern und begründen. Weiter gilt es auch hier, die vorgebrachten Gründe nicht ungeprüft nebeneinander stehen zu lassen. Vielmehr soll das Gespräch kritisch geführt und die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt werden, vorgebrachte Gründe durch Einwände oder kritisches Hinterfragen selbst begründungsbedürftig zu machen, um so die Argumente vertiefend weiterzuentwickeln und damit die ursprüngliche Meinung zu modifizieren, zu plausibilisieren oder aufzugeben.

Phase 3: Auswertung und Metagespräch

In der Auswertungsphase werden einerseits die inhaltlichen Ergebnisse beurteilt, indem sie auf die Ausgangssituation der Geschichte zurückbezogen und in Hinsicht auf ihre diesbezügliche Orientierungsleistung eingeschätzt werden. Zweitens wird auch der Gebrauch der philosophischen Reflexionsmethoden thematisiert und eingeschätzt (Erfolge, Schwierigkeiten, Verbesserungsmöglichkeiten).

Rolle der Lehrperson

Die Lehrperson setzt sich in der Vorbereitung zwar intensiv mit dem gewählten Thema der Unterrichtseinheit auseinander und zieht dabei auch fachphilosophisches Wissen hinzu. Bei der Umsetzung allerdings, d. h. während des philosophischen Gesprächs mit den Kindern, lenkt sie diese nicht zu (vorher) bestimmten Einsichten oder Erkenntnissen hin, sondern ist offen und sensibel für inhaltliche Überlegungen, Einfälle und thematische Verzweigungen. So kann auch (begründete) Verwirrung oder ein unauflösbarer, aber aufgedeckter Widerspruch das Resultat eines Gesprächs sein.

In Bezug auf die Förderung der philosophischen Methodenfähigkeiten der Kinder nimmt die Lehrperson eine aktive, fordernde wie auch fördernde Rolle ein: Im Metagespräch thematisiert der Gesprächsleiter bzw. die Gesprächsleiterin philosophische Methoden, führt sie modellierend ein und gibt Rückmeldung zu deren Gebrauch. Während des Gesprächs regt die Lehrperson im Sinne des Scaffoldings – z. B. durch Impulsfragen – die Kinder dazu an, philosophische Reflexionshandlungen anzuwenden und voneinander einzufordern.

Bildungswert des Philosophierens mit Kindern

Wozu sollen Kinder in der Schule philosophieren? Die Antwort ergibt sich aus dem Bildungsauftrag, den die Schule hat: «Sich bilden» heisst lernen, sich bei der Meinungsbildung und bei Handlungsentscheidungen selbstständig zu orientieren. Statt sich im Leben beliebig treiben zu lassen oder Wertvorgaben einfach hinzunehmen, sollen die Kinder lernen, ihren Sinn von Werten zu klären und ihre Gültigkeit zu prüfen. Wie oben erläutert erfordert dies die Fähigkeit, mit philosophischen Fragen produktiv umgehen zu können. Insofern ist Philosophieren in der Schule nicht bloss eine Auflockerung des üblichen Unterrichts, sondern hat die Bedeutung einer elementaren Kulturtechnik (vgl. Martens 2003; Buchs & Künzli David 2016).

Beispiel des Philosophierens mit Kindern in einer 5. Klasse

Das folgende Beispiel einer praktischen Umsetzung des Philosophierens mit Kindern beruht auf einer Reihe philosophischer Gespräche, die ich im Herbst 2012 mit sieben Kindern (fünf Mädchen, zwei Knaben) einer 5. Klasse der Primarschule führte. Das hier dokumentierte Gespräch hatte seinen Ausgangspunkt bei einem moralischen Problem, das die Frage nach dem Wahrheitsgebot und dem empfehlenswerten Umgang mit schmerzvollen Ereignissen aufwirft. Das Ziel bestand darin, die Schülerinnen und Schüler zu einer moralphilosophischen bzw. ethischen Reflexion dieses Problems anzuregen. Die Darstellung der Unterrichtseinheit orientiert sich an der oben erläuterten methodischen Vorgehensweise. Dabei werden die Beschreibungen der einzelnen Phasen und Schritte durch Ausschnitte aus dem Gesprächs-Transkript illustriert.

1. Problemorientierter Einstieg

Als Königsweg zur Anregung eines philosophischen Problembewusstseins gilt in der Kinderphilosophie das Lesen/Hören von kurzen, prägnanten Erzählungen, die dafür günstige Merkmale aufweisen. Sie sollten eine problemhaltige Situation skizzieren, die z. B. durch Figuren mit opponierenden Meinungen und Haltungen konstituiert wird und die nach einer philosophisch-begrifflichen Klärung verlangt und den Leser/Zuhörer zu einer eigenen Stellungnahme herausfordert. Die folgende Geschichte (aus Schreier 1993, S. 89), auf die oben bereits in geraffter Fassung verwiesen wurde, erfüllt diese Merkmale:

Katjas Vater sitzt im Büro an seinem Schreibtisch. Es ist elf Uhr morgens. Da klingelt das Telefon. Es ist Katjas Mutter. Sie sagt: «Jürgen, Hermann ist tot.»

Katjas Vater sagt: «Ach du liebe Zeit, wie ist denn das passiert?»

Katjas Mutter antwortet: «Weiss ich auch nicht. Wer kennt sich schon aus bei den Viechern? Gerade eben wollte ich den Käfig sauber machen. Da lag er schon und streckte alle Viere von sich, war schon ganz starr. Ich habe ihn gleich in die Mülltonne geworfen, bevor er noch anfängt zu stinken. Aber das ist nicht das Problem. Du weisst doch, wie sehr Katja an dem Tier gehangen hat. Willst du ihr nicht einfach ein neues besorgen?»

«Du meinst,», fragt Katjas Vater zurück, «ich soll in eine Zoohandlung gehen und einfach einen neuen Hamster kaufen?»

«Genau. Aber pass bloss auf, dass er auch so aussieht wie Hermann. Du weisst ja, mit weissem Bauch und den Flecken auf den Backentaschen. Dann brauchen wir Katja gar nichts davon zu sagen. Sie hat ja heute Nachmittag noch Ballettstunde. Wenn sie dann nach Hause kommt, merkt sie nichts.»

«Aber wenn der neue Hamster in seinem Wesen ganz anders ist?», fragt Katjas Vater. «Wenn er zum Beispiel beisst oder wenn es ein Weibchen ist?»

«Aber das wissen die doch in der Zoohandlung», entgegnet Katjas Mutter ungeduldig. «Also mach mal!»

«Ich weiss nicht, Gabriele», zögert Katjas Vater.

Die Kinder wurden mit der Geschichte vertraut gemacht und formulierten danach das in ihr enthaltene Problem: Die Kinder meinten, dass Gabriele und Jürgen sich in der Frage, wie nach dem Tod von Katjas Hamster zu Recht gehandelt werden soll, nicht einig seien. Anschliessend fragte ich die Kinder in einer Umfrage nach ihrer moralischen Intuition zu diesem Konflikt, ob sie also eher die Überlegungen und die geplante Handlung der Mutter oder die Überlegungen und geplante Handlung des Vaters gut und richtig fänden. Das Resultat fiel mit sieben zu null Stimmen eindeutig zu Gunsten des Vaters aus.

2. Bearbeitungsphase

In einem nächsten Schritt stellte ich die Frage nach möglichen Gründen für unsere Intuition, indem ich eine möglichst gründliche Untersuchung der Problemlage vorschlug.

Motive und Gefühle der involvierten Figuren bestimmen

Wir klärten für alle drei Figuren der Geschichte, welche Gefühle sie wohl haben und welche Überlegungen und Motive für ihr geplantes Handeln leitend sind. Dabei stellten die Kinder fest, dass Katjas Vater befürchtet, dass Katja wütend würde und sich getäuscht und betrogen fühlte, wenn sie den heimlichen Ersatz des Hamsters bemerkte. Die Befürchtung des Vaters geht dahin, dass Katja ein Stück Vertrauen in ihre Eltern verlieren würde. In diesem Fall würde sich der Vater schuldig fühlen. Die Mutter auf der anderen Seite befürchtet, dass Katja sehr traurig würde, wenn sie vom Tod ihres Hamsters erfahren würde. Diese Trauer möchte die Mutter ihrer Tochter gern ersparen.

Transkriptausschnitt

G: Also ich denke, Katja geht es ja gut, weil sie weiss es ja noch gar nicht.

E: Ich denke, die Mutter, die fühlt sich recht sicher, dass die das machen soll. Sie fühlt sich also auch gut oder einfach sicher, dass sie, was sie machen will, also ein Hamster ersetzen, ein Tier ersetzen. Das will sie ja machen und sie fühlt sich ja recht sicher bei dem.

H: Ich denke der Vater, der ist, der will auch nur das Beste für Katja, aber er weiss, wenn Katja das rausfindet, dann ist sie sehr wütend auf ihn und auf die Mutter.

LP: Wie könnten wir das formulieren, warum überlegt er so, dass Katja wütend werden wird, wenn sie was herausfindet?

G: Wenn sie herausfindet, dass ihre Eltern, also ihren Hamster durch einen anderen ersetzt haben.

LP: Was ist das Spezielle an diesem Ersetzen?

P: Also es ist nicht das gleiche.

G: Nicht der gleiche Hamster.

H: Und fühlt sich dann einfach angelogen.

G: Vielleicht mag es ja auch nicht das gleiche Fressen.

LP: H. bringt das Wort «angelogen». Ja, G.!

G: Von den Eltern angelogen.

LP: Von den eigenen Eltern. Wie ist jetzt das Gefühl des Vaters? Was überlegt er und wie fühlt er sich dabei?

E: Er fühlt sich, er fühlt sich einfach wie, also genau, also das Gegenteil von der Mutter, also unsicher, also sozusagen. Er fühlt sich wie, wie ähm schuldig, sozusagen, wenn er das machen würde.

H: Und ich denke, die Überlegung hat er richtig gemacht. Weil ich bekomme bald Wellensittiche und wenn ich jetzt denke, ob ich mehr wütend wäre, wenn ich wüsste, dass sie gestorben wären, oder wenn meine Eltern mir das verschweigen würden, ich wäre mehr wütend, wenn sie es mir verschweigen würden.

B: Mein Grossvater, er stirbt jetzt vielleicht dann, und wenn meine Eltern sagen, nein es geht ihm gut, es fehlt ihm nichts, und irgendwann würd‘ ich’s herausfinden, würde ich einfach so traurig sein und einfach auf meine Eltern irgendwie wütend und so, ja wütend, sein.

LP: Wütend, traurig, sagst du?

B: Ja, sie könnte eben dann einfach ihren Eltern nicht trauen, so eben.

LP: Ich möchte noch mal zur Mutter zurückkommen. E. hat gesagt, sie fühlt sich gut, ich möchte nochmals in die Situation gehen. Wie hat sie sich wahrscheinlich gefühlt, als sie den toten Hamster entdeckt hatte? Welche Gedanken könnten ihr durch den Kopf geschossen sein, Katjas Mutter?

H: Also, sie war niedergeschlagen, sie dachte, was soll ich jetzt tun? Und ich will ja nur das Beste für meine Tochter. Und dann ist sie auf die Idee gekommen, ihr einfach einen neuen zu besorgen.

P: Und weil Katja ja so sehr an dem Hamster gehangen hat, dachte sie vielleicht auch, wenn ich ihr jetzt das sagen würde, sie hat so sehr daran gehangen, dann irgendwie fühlt sie sich wahrscheinlich traurig und …

B: Sie hat, glaub ich, sie hat sich Sorgen gemacht, so irgendwie.

LP: Sorgen gemacht, warum?

E: Also, ich denke, sie war geschockt.

LP: Ähm, ja. Jetzt geht’s schnell. B., was hast du gesagt? «Sorgen gemacht», warum?

B: Ja, wenn die Tochter es herausfindet, weil sie will nicht, dass die Tochter traurig ist.

LP: Geschockt, du hast gesagt «geschockt». Was ist der Schock?

E: Ja, dass der Hamster tot ist und auch der Schock. Und also, der Gedanke wird ja durchgeschossen sein: «Was soll ich jetzt tun?» Das gehört auch ein bisschen zum Schock.

LP: Und jetzt könnten wir verknüpfen und sagen, was soll ich tun, wenn das wirklich mein Wunsch wäre, wenn ich unbedingt verhindern will, dass Katja traurig wird?

Der Plan der Mutter ist ungeschickt und (moralisch) falsch

Die Kinder argumentierten weiter, dass der Plan der Mutter kein geschickter Plan sei. Dies wurde damit begründet, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch sei, dass Katja den Ersatz des Hamsters bemerken könnte, weil jedes Tier ein unverwechselbares Individuum sei, so dass sich das eine Tier vom anderen nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich unterscheiden würde. Weil die Wahrscheinlichkeit des Auffliegens sehr hoch ist und bei Katja neben der Trauer um Hermann noch die Wut und Enttäuschung über den Betrugsversuch ihrer Eltern dazu kommt, sei es besser – so schliessen die Kinder –, Katja von Anfang an die Wahrheit zu sagen.

Transkriptausschnitt

W: Also irgendwann findet sie es wahrscheinlich schon heraus, weil, also, der gleiche Hamster wäre es ja eh nicht. Weil, ja, es gibt ja so, so wegen Fressen oder er beisst nicht so viel, oder beisst mehr.

B: Weil irgendwie ist es ja wie der Mensch, weil, es gibt nicht so genau mich, das zweite Mal. So, was ich gerne habe oder meine Krusli-Haare oder meine Augen, oder ja.

P: Jeder Mensch ist einzigartig. Und das ist bei Tieren eben auch so.

LP: Bei Hamstern?

P: Bei Hamstern auch. Man merkt es vielleicht nicht, weil sie vielleicht die gleichen Tupfen haben oder sehen es nicht.

LP: Und der Vater geht ja gerade noch darauf ein, wenn er sagt: «Aber wenn der neue Hamster in seinem Wesen …» – Was bedeutet Wesen?

P: Ich denke in seinem Inneren, wenn er ja andere Gefühle hat wie W. gesagt hat.

LP: Genau, der Punkt war, sogar wenn es gelingt, den Zwillings-Hamster zu finden vom Äussern her, dann könnte es immer noch sein, dass die Persönlichkeit des Hamsters anders wäre. Und W. denkt, dann findet Katja das dann vielleicht sogar heraus und entdeckt den Betrug oder die Lüge. Das, also, das wäre dann ein Grund, warum der Plan dann eben wahrscheinlich auch gar nicht ein geschickter ist. Ob er ein guter ist? Eben, ihr findet ihn so oder so nicht gut und nicht richtig. Aber vielleicht eben auch nicht geschickt, das ist ein Unterschied.

P: Also, ich denke wenn man jetzt Katja es gleich sagen würde, ist sie vielleicht sehr traurig. Schon, weil das ist ein Schock, wenn ein Tier, wo man sehr dran gehangen hat, auf einmal tot ist. Aber ich würd’s besser jetzt sagen. Weil, wenn man’s dann lange irgendwie verheimlicht, dann ist man dann eigentlich noch trauriger. Und dann auch noch wütend. Also, wütend, traurig, viel mehr als einfach nur traurig, wenn man’s ihr gerade gesagt hat.

LP: Also, jetzt haben wir die andere Situation. Wenn Katja dann vom Tod Hermanns erfährt, sei es durch die Mutter, sei es durch den Vater, dann ist sie traurig über den Verlust, wenn wir davon ausgehen, dass sie ihn gerne gehabt hat. Und P. sagt dann aber auch, eben, dass dieses Gefühl ist zwar schlimm für die Person, die es hat, aber, was hast du gesagt?

P: Also traurig ist sicher schlimm. Wenn man dann traurig ist. Aber es ist nicht so schlimm, wie wenn man traurig und wütend und so ist.

LP: Wütend aus welchem Grund?

P: Auf die Eltern, dass sie es verheimlicht haben.

LP: Vorhin hat jemand gesagt, der Vater denkt, was wäre, wenn sie diese Lüge entdecken würde und fühlt sich unsicher und schuldig. Wer hat schuldig gesagt? E.?

E: Ja.

LP: Was steckt hinter diesem Wort? Er würde sich schuldig fühlen oder fühlt sich schon schuldig, wenn er daran denkt?

E: Ja, wenn, weil er denkt schon, was danach passieren würde, wenn sie es herausfinden würde, dann fühlt er sich ja schuldig, weil er ja, weil er ja der Mutter sozusagen nicht gerade zugestimmt, aber …

B: Weil er sie angelogen hat.

E: Ja, sozusagen angelogen und einen neuen Hamster gekauft hat und den Hermann ersetzt hat. Und wenn sie das halt herausfinden würde, dann fühlt er sich schon schuldig, weil er sie ja angelogen hat und das will er ja nicht.

P: Und ich hab‘ noch etwas zu der Mutter. Sie will ja nicht, dass Katja traurig wird. Aber irgendwann wird sie es herausfinden und dann ist sie ja auch traurig. Ob sie jetzt traurig ist oder irgendwann später traurig.

B: Und dann ist sie noch wütend dazu.

P: Und dann wütend noch dazu, ja.

Gründe für das Lügenverbot und Gründe für Ausnahmen

Die Kinder griffen das Thema Lügen und Vortäuschen im Allgemeinen auf. Einerseits suchten wir Gründe für ein allgemeines Lügenverbot, auch wenn es eine empirisch feststellbare Tatsache ist – wie G. zu bedenken gab – dass es für einen Menschen kaum möglich sei, nicht zu lügen. Lügen sei generell schlimm, meinten einige Kinder, weil es andere «innerlich» verletzen kann und somit die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen gefährden könne. E. meinte, dass Lügen verboten sei, weil es einfach schlecht ist und weil der Lügner ein schlechtes Gewissen hat. Andererseits sprachen wir auch über Ausnahmen vom Lügenverbot. P. vertrat die Ansicht, dass es auch erlaubte, d. h. gute, «kleine» Lügen gibt, die dazu dienen, sein Gegenüber nicht zu beleidigen oder zu verletzen, wobei als Beispiele falsche Komplimente genannt wurden. Andere Lügen würden dazu dienen, den Respekt des eigenen Freundeskreises zu erhalten oder zu sichern. Bei dieser Diskussion kam auch die Frage auf, ob das stillschweigende Ersetzen des Hamsters und das So-tun-als-ob-Hermann-noch-leben-würde bereits als Lüge bezeichnet werden kann oder eher Vorspiegeln einer falschen Situation.

Transkriptausschnitt

P: Zum Teil gibt es auch gute Lügen. So kleine Lügen, zum Beispiel: «Wow ist das ein schönes T-Shirt.» Zum Teil auch wenn man fragt: «Wie findest du diesen Pulli?» Und eigentlich findet man ihn überhaupt nicht schön, irgendwie hässlich einfach, dann sagt man: «Ja, doch, er gefällt mir eigentlich noch, also ich finde vor allem die Taschen sind cool.» Irgendwie so kleine Lügen, nur damit man nicht beleidigt.

E: Oder zum Beispiel man sagt: «Oh, warst du schon mal hier? So cool dort.» Dann sagt man «ja», obwohl man gar nicht dort war. Das ist auch Anlügen, aber das kommt eigentlich sehr selten raus.

LP: Jetzt sind wir bei der Begründung. Wir haben gesagt, der Vater von Katja, der hat offenbar Bedenken, weil es um die Lüge geht, die er Katja antun würde. Und offenbar ist seine Überlegung von dieser Aussage geleitet: Man soll, man darf nicht lügen. Also, wir wollen untersuchen, wie man diese Behauptungen begründen kann. Jetzt kommen schon erste Ausnahmen. Es gibt vielleicht Ausnahmen. Also, jetzt sind wir in dieser Begründungsaufgabe. Man soll nicht lügen, und du, P., hast gesagt, ein Bespiel: Lügen ist erlaubt, wenn …?

P: Also, Lügen ist eigentlich schon irgendwie erlaubt, einfach, für das Leben, also für das Zusammenleben.

LP: Also, was war dein Beispiel?

P: Ja, so irgendwie: «Wow, ist der Pulli schön.»

LP: Obwohl du ihn nicht schön findest?

P: Ja. Oder wenn jetzt W. irgendwie einen neuen Pulli hat, und ich finde ihn eigentlich überhaupt nicht schön, kann ich sagen: «Ist der Pulli neu?» Und nachher sagt sie zum Beispiel: «Findest du ihn schön?» – «Ja, also, die Taschen find ich cool so.» So, man sagt nicht die ganze Wahrheit.

LP: Was sind die Gründe, damit man falsche Komplimente macht? Was steckt dahinter?

E: Also, um die andere Person, also, der man das Kompliment gibt, sich nicht beleidigt fühlt oder denkt: «Findest du’s jetzt nicht schön?» Oder, zum Beispiel, jemand fragt mich: «Wie findest du meinen neuen Pulli?», dann sag ich: «Nein, überhaupt nicht schön.» Dann denken sie: «Oh, okay» und fühlen sich ein bisschen beleidigt oder sind traurig oder so. Und das will man ja nicht, wenn es jemand ist, den man gut kennt oder so.

B: Man könnte doch einfach sagen «Ja, ich finde den Pulli nicht so schön, aber er steht dir.» Einfach so finde ich ihn nicht schön, aber er steht dir.

H: Mir ist noch etwas eingefallen zu «man soll nicht lügen». Vielleicht denkt der Vater: «Nein, ich darf doch gar nicht lügen.» Aber vielleicht denkt die Mutter: «Wenn die Tochter dann nach Hause kommt, dann fragt sie ja gar nicht ‹Ist das ein neuer?›» Sie sagen ja gar nicht, das ist immer noch der gleiche Hamster. Irgendwie nicht.

LP: Mhm. Also, wenn ich dich richtig verstehe, möchtest du jetzt unterscheiden. Die zwei Fälle, die passieren können. Erstens, Katja kommt nach Hause und merkt nichts. Ist das schon eine Lüge? Eigentlich wurde gar nichts gesagt. Und der zweite Fall, also, die Eltern haben den Hamster einfach ausgetauscht und nichts gesagt. Weder gesagt, dass er tot ist, der Hermann, noch dass jetzt ein neuer da ist. Sondern einfach stillschweigend. Ist das bereits eine Lüge? Oder ist das erst eine Lüge, wenn Katja fragt: «Dieser Hamster kommt mir irgendwie komisch vor. Ist was mit Hermann gewesen? Ist das ein anderer?» Und wenn man dann sagt, Vater oder Mutter: «Nein, das ist Hermann. Der wird sich ein bisschen verändert haben.»

E: Dann ist das Lügen.

LP: Ist das erste auch schon eine Lügen-Situation, wo man eben einfach austauscht, wenn Katja in der Schule ist.

G: Also, ich denke, wenn jetzt Katja in der Schule ist und sie tauschen den Hamster aus, das ist auch schon Lügen.

[Zustimmung von mehreren Kindern.]

H: Es ist etwas, sie verschweigen ihr etwas.

LP: Mhm, etwas verschweigen ist offenbar auch …

H: Vielleicht hat die Mutter das überlegt. Hat gedacht: «Ja, das ist ja nicht Lügen.»

[…]

LP: Jetzt sammeln wir mal nur Gründe für das Lügenverbot. Was spricht dann wirklich dafür? Ohne dass wir jetzt Ausnahmen, wie z. B. falsche Komplimente, machen? Was ist der Hauptgrund, dass man nicht lügen darf?

E: Ja, halt einfach, Lügen ist schlimm. Wenn man lügt oder, ja, wenn man lügt, dann ist das nicht gut. Es ist, man sollte es einfach nicht machen, weil es nicht gut ist. Also, Lügen, es ist nicht grade so schlimm, aber auch so etwas wie stehlen oder abschlagen oder irgend so etwas.

H: Ja.

LP: Und mich nimmt wunder, warum es schlimm ist und nicht gut.

H: Aha, ich denke, man verletzt vielleicht jemand anderes innerlich. Und wenn jetzt ich und P., wir sind beste Freundinnen, wenn sie mich anlügt und ich es herausfinde, wäre ich sehr wütend vielleicht auf sie und vielleicht würde dann auch unsere Freundschaft brechen.

LP: Ich habe aufgeschrieben: «Wenn man lügt, dann verletzt man den Belogenen innerlich.» Und dann ist noch gefallen, dass man ja die Freundschaft verletzt.

E: Aso, ich hab noch etwas. Das Beispiel, wo ich vorher gemacht habe: Die andere Person sagt: «Warst du schon mal dort? Das war mega cool dort.» Und dann sagst du «ja», obwohl man gar nicht dort war, dann sagt so die Person: «Aber es war nur an einem Tag offen und du warst nicht dort.» Dann findet die andere Person ja heraus, dass man nicht dort war. Also, dass man die andere Person angelogen hat und dann fühlt man sich selber ein bisschen, so peinlich. Es ist dann peinlich, irgendwie.

Voraussetzungen, um lügen zu können

Zum Schluss kam die Frage auf, welches die Voraussetzungen dafür sind, um überhaupt lügen zu können. Einige Kinder meinten, dass Säuglinge und Kleinkinder nicht lügen können, weil ihnen die Sprache fehlt oder aber auch der Sinn für absichtliche Täuschung. Sie seien «unschuldig».

Transkriptausschnitt

G: Okay. Ich hab mal im Fernsehen gesehen, aso gehört, dass Menschen am Tag irgendwie, äh, im Jahr oder ich weiss auch nicht mehr genau, irgendwie fünfhundertmal lügen, oder tausend Mal. Ich weiss nicht mehr genau.

LP: Pro Tag?

G: Nein, pro Jahr, glaube ich. Oder keine Ahnung.

LP: Also, jeden Tag zwei Mal. Ja, etwas weniger als zwei Mal.

P: Jeder Mensch.

B: Ja, ein Baby ist auch ein Mensch.

LP: Ja, was muss man können bereits, dass überhaupt Lügen möglich wird? Ein Baby kann nicht lügen. Warum nicht?

H: Man muss ein Problem haben, also, ich lüge nicht einfach so, denke ich, nur wenn ich ein Problem habe, lüge ich.

E: Oder auch kleine Kinder, sie können auch nicht gut lügen, weil … Zum Beispiel wie meine Schwester. Sie können einfach nicht lügen, weil sie nicht das Böse dafür haben. So, also, je grösser man wird, je mehr, also, je mehr, wie sagt man das? Einfach, man wird einfach mehr und mehr böse. Wenn man klein ist, dann hat man, dann kann man nicht so böse sein und kann auch nicht lügen.

3. Auswertungsphase und Metagespräch

Auf meine Frage «Wie würdet ihr jetzt das Problem rückblickend nochmals beschreiben?», sagte E.: «Ich denke einfach, das Problem ist jetzt, dass wir herausfinden müssen, welches eigentlich besser wäre. Obwohl wir alle jetzt zugestimmt haben, dass die Theorie oder Idee des Vaters besser ist. Und das ist jetzt das Problem.» Darauf reagierten die anderen Kinder mit Lachen. Allerdings hat E. damit einen wichtigen Punkt festgehalten, der darin besteht, dass es einen ziemlichen Aufwand bedeutet, wenn man «herausfinden muss», warum eine Theorie oder Idee die gute oder bessere ist, auch wenn man implizit schon weiss, dass sie gut bzw. besser ist als eine andere.

Literatur

Buchs, Christoph / Künzli David, Christine (2016): Philosophieren mit Kindern. Unterrichtsprinzip oder Fach? In: Uhlig, Bettina / Duncker, Ludwig (Hrsg.): Fragen – Kritik – Perspektiven. Theoretische Grundlagen des Philosophierens mit Kindern, München, S. 35–63.
Fröhlich, Michael (2004): Philosophieren mit Kindern: ein Konzept, Münster.
Jackson, Thomas (2013): Philosophical Rules of Engagement. In: Goering, Sara / Shudak, Nicholas J. / Wartenberg, Thomas E.: Philosophy in Schools: An Introduction for Philosophers and Teachers, New York.
Martens, E. (2003): Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik, Hannover.
Martens, E. (2004): Philosophieren mit Kindern als elementare Kulturtechnik. In: Müller, H.-J. / Pfeiffer, S. (Hrsg.): Denken als Didaktische Zielkompetenz, Baltmannsweiler.
McCall, Catherine C. (2009): Transforming Thinking: Philosophical Inquiry in the Primary and Secondary Classroom, London / New York.
Schreier, Helmut (1993): Über das Philosophieren mit Geschichten für Kinder und Jugendlichen. Fragen, Antworten, und noch mehr Fragen auf der Suche nach Zeichen im Labyrinth der Existenz, Heinsberg.

 

Die Pädagogische Hochschule FHNW führt eine Fachstelle «Philosophieren mit Kindern». Diese umfasst eine Medienabteilung (didaktische Konzepte, diverse Materialien für die Praxis) an den Standorten Solothurn und Liestal, führt Projekte und Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema durch. Kontakt: email hidden; JavaScript is required
Artikelnachweis
Buchs, Christoph (2017): Verschweigen oder Zumuten? Schülerinnen und Schüler einer 5. Klasse philosophieren über moralische Fragen ausgehend von Geschichten, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/buchs-verschweigen-oder-zumuten/

Über Christoph Buchs

Christoph Buchs ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Professur für Bildungstheorien und interdisziplinären Unterricht der Pädagogischen Hochschule der FHNW in Solothurn. Er leitet dort den professurinternen Themenschwerpunkt Philosophieren mit Kindern. Die Fachstelle unterstützt Lehrpersonen, die im Unterricht mit ihren Schülerinnen und Schülern philosophieren wollen: https://www.philosophierenmitKindern.ch.