Immer wieder Eva und Adam
Vom Mythos zur Genderfrage und zur Adoleszenz – eine Unterrichtsskizze
Ob die Geschichte von Adam und Eva der «mächtigste Mythos der Menschheit» (Greenblatt 2018, Untertitel) ist, bleibe dahingestellt; aber nicht nur nach den Lektüren von z. B. Greenblatt oder Flasch (2017) , sondern auch mit Blick auf unterschiedliche Rekompositionen des Adam-und-Eva-Motivs (z. B. in aktueller Kunst und Werbung) kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass der knapp ca. 3000 Jahre alte Text auf verschiedenen Ebenen tiefe Spuren in den jüdisch und christlich geprägten Kulturen hinterlassen hat bzw. bis heute hinterlässt. Das ist insofern wenig verwunderlich, weil in diesem retroutopischen Text (wie in jedem Mythos) eine breite Palette von Fragehorizonten eröffnet wird, die durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder neu zu verhandeln waren: Warum sind Menschen sterblich, wie ist das Geschlechterverhältnis zu denken, warum gibt es Scham, wie verhalten sich Schuld und Strafe zueinander, warum muss der Mensch arbeiten, wie ist das Verhältnis von Menschen und Tieren zu denken, ja was/wer ist überhaupt der Mensch? Etc.
Während innerreligiös der Mythos von Adam und Eva weiterhin für unterschiedlichste theologische wie anthropologische Setzungen verwendet wird (von feministischen Ermächtigungsinterpretationen bis zu fundamentalistischen, homophoben Slogans wie «God created Adam and Eve and not Adam and Steve»), begegnet die Geschichte ausserhalb des religiösen Verwendungszusammenhangs vor allem in Werbung, Literatur und bildende Kunst. Dabei geht es fast immer um das Bespielen des binären Geschlechterverhältnisses (bzw. um dessen provokative Unterlaufung etwa bei David la Chapelle), und meist werden die üblichen Clichés in Zitatform mit Fokus auf die Baumfruchtszene reproduziert: Die Frau als schwache Verführte und gleichzeitig sexuelle Verführerin (insgesamt als Schuldige), der verführte, unschuldige Mann, der offensichtlich der Frau nicht widerstehen kann, der Apfel als Medium (kann dann auch mal durch einen Mercedes-Autoschlüssel ersetzt werden… ), die Schlange als Verführerin, die Nacktheit als naive Unschuld etc. Forciert werden die Assoziationen dort, wo die Produkte selbst über ihren Markennamen auf die Geschichte anspielen (das Auto Opel «Adam», das Parfum «Eve», das Apfelbier «Adam und Eva» etc.).
Bei der Verwendung des Adam-und-Eva-Mythos im Kontext der Werbung wäre zu fragen, ob dieser überhaupt von den Rezipient:innen – unserem Fall den Schüler:innen (S*) – als solcher erkannt wird bzw. welche Versatzstücke der Story bei ihnen vorhanden sind. Hier setzt die zu beschreibende Unterrichtsskizze an: ausgehend von einem Werbefilm sollen a) die Präkonzepte der S* erhoben werden, um sich b) dem Text selbst anzunehmen, c) dessen Rezeption in Bezug auf die Gender-Frage kritisch zu sichten, um schliesslich d) den Text entwicklungspsychologisch zu lesen und entsprechend spielerisch-kreativ für die S* fruchtbar zu machen. Zielpublikum sind S* der 9. Klasse, denen kognitiv viel zugetraut wird.
1. Eva und Adam – eine Unterrichtsskizze
1.1 Über den Umgang mit dem Text
In dieser Unterrichtsskizze dient der Text über Eva und Adam in der Version von Genesis 2,4b-3,24 (entsprechend der christlichen Bibel) und in der Übersetzung der «Zürcher Bibel» als Grundlage für die gemeinsame Arbeit. Dabei werden für den Umgang des Textes folgende Entscheidungen getroffen:
- Dass der Text gelesen wird, rechtfertigt sich primär auf der Basis seiner rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung, die bis in die Gegenwart reicht, => Arbeit an LP21 ERG 3.1a, b.
- Der Text wird als Mythos, als eine fiktionale Geschichte gelesen bzw. gerahmt, die keinen Anspruch auf Historizität im engeren Sinn hat (es interessiert nicht, ob «es» geschehen ist), aber er wird in groben Zügen historisch situiert, => Arbeit an LP21 ERG 4.1a.
- Die anthropologischen und geschlechterspezifischen Aussagen des Textes werden rekonstruiert => Arbeit an LP21 ERG 5.2b.
- Spuren der Rezeptionsgeschichte werden mit Blick auf das Frauenbild und in Verbindung zum Thema Gender re- und dekonstruiert => Arbeit an LP21 ERG 3.1d / 4.4c / 5.2b.
- Eine moderne entwicklungspsychologische Interpretation des Textes wird zur Ausgangslage für eine kreative Aneignung des Textes => Arbeit an LP ERG 1.1b, d.
Diese verschiedenen Zugänge beruhen auf einer integrativen bzw. transdisziplinär gedachten ERG-Didaktik, die verschiedene disziplinäre wie gesellschaftliche Aspekte mit Blick auf ihren Lerngegenstand vereint und dabei unterschiedliche Kompetenzen bespielt.
Mit Blick auf die Geschichte von Eva und Adam sollen die S* befähigt werden, ebenso rekonstruktiv, analytisch, hermeneutisch-kritisch sowie kreativ und frei mit einem Text religiöser Provenienz umzugehen, der schon lange zum hiesigen kulturellen Allgemeingut wurde und dabei in verschiedenste gesellschaftliche Narrative (z. B. in Bezug auf Gender und Sexualität) hineinspielt bzw. diese zu bestimmen sucht. Es geht hier nicht darum, wie Jüd:innen und Christ:innen der Gegenwart diesen Text lesen, sondern wie er – vor allem mit Blick auf das Frauenbild – in der Tradition gelesen und von der Populärkultur aufgenommen und rekonstruiert wurde und wird. In dieser Tradition ist es auch ohne weiteres legitim, mit diesem Text individuell anwendend umzugehen.
1.2 Struktur und Vorgehen
Die Unterrichtsskizze folgt in ihrer Struktur den Lernarrangements, wie sie vom Kanton Bern auf dem sog. «Fächernet» (www.faechernet.bkd.be.ch) in vier Schritten konzipiert und zur Verfügung gestellt werden. Das hier beschriebene Vorgehen ist lediglich eine dürre Skizze mit Materialverweisen. Das Entscheidende findet in den Gesprächen und Rückfragen mit den S* statt.
-
Explorieren/Konfrontieren (1 Lektion)
Den S* wird ein Werbefilm der Getränkefirma «RedBull» gezeigt, der die Geschichte von Eva und Adam als Grundlage für eine eigene Werbespielerei verwendet. Um die Präkonzepte der S* zu erheben fragt die Lehrperson (LP) z. B.: Was habt ihr genau gesehen? Wer macht in diesem Film was? Auf welche bekannte Geschichte bezieht sich dieser Film? Könnt ihr diese erzählen? Was wisst ihr über diese Geschichte? Die LP sammelt danach die Ergebnisse und hält die bisherige Rekonstruktion fest.
In einem zweiten Schritt verteilt die LP das Transkript des Werbefilms und lässt die S* die entsprechenden, u. a. bereits Richtung Gender zielenden Fragen bearbeiten und sichert diese (vgl. Doku E&A, M1). Nun sollten die S* neugierig genug sein, wie denn die Geschichte im «Original» erzählt wird.
-
Erarbeiten/Aufbauen (2 Lektionen)
Damit die S* mit der Geschichte vertraut werden, erhalten sie den Text in farbigen Schnipseln und sie versuchen in der Gruppe, ihn lesend zusammenzusetzen (vgl. Doku E&A, M2), um dies dann am ganzen Text zu kontrollieren (vgl. Doku E&A, M3). Zur Sicherung der Erzählchronologie erhalten die S* daraufhin eine Bildfolge aus der karolingischen Grandval-Bibel (quasi ein Comic-Strip aus dem dem 9. Jh. n. Chr.), die wiederum als geschnittene Karten verteilt wird und anhand derer die S* die Story nun flüssig einander erzählen können sollten (vgl. Doku E&A, M4).

Abbildung 1: Farbige Textschnipsel von Gen 2,4b-3,24

Abbildung 2: Grandval-Bibel in Einzelbildern
Die S* erarbeiten in der Folge individuell auf der Basis von Audiodateien einige Fragen zum historischen Entstehungskontext (vgl. Doku E&A, M5Audio), und die LP kann anschliessend einen kulturgeschichtlichen Einblick zur Repräsentation und Thematisierung des Mythos im Laufe der letzten 2000 Jahre bieten (von der Katakombenmalerei des 2. bis zur Motivtapete des 21. Jahrhunderts), sodass den S* bildhaft bewusst wird, dass diese Geschichte immer wieder repräsentiert/erzählt/zitiert wurde und weiterhin wird (Doku E&AM6PowerPoint).
-
Üben/Vertiefen (3 Lektionen)
Während über den Werbefilm und beim Sichten der Bilder quer durch die christlich geprägte Kulturgeschichte das Thema «Gender» bereits thematisch wurde, geht es nun darum, dass die S* kurz und knapp in die Genderthematik eingeführt werden und sich als genderbezogene Dekonstrukteur:innen von Werbebildern üben (vgl. Doku E&A, M7). Geschärft in diesem Blick, wenden sich die S* noch einmal dem Mythos von Eva und Adam zu und untersuchen dabei das Menschen-, Frauen- und Männerbild (vgl. Doku E&A, M8). Nach der Sicherung der Resultate wird der Fokus auf die Frau gelegt und die S* untersuchen zuerst Aussagen traditionsgeschichtlich einflussreicher männlicher Theologen zu Eva, dann zwei Eva-Darstellungen aus der Kunsttradition, um schliesslich noch zwei Werbebilder auf die Eva-Frau-Konstruktion hin zu analysieren und all diese Erkenntnisse festzuhalten (vgl. Doku E&A M9a-c): Die – aus heutiger Sicht letztlich sexistische, frauenfeindliche – Genderkonstruktion «Frau» in Referenz zu «Eva» ist sichtbar.
Als Abschluss dieser Sequenz findet ausgehend von den Resultaten der Frau-Eva-Genderkonstruktion eine offene Diskussion statt: Wo stehen wir heute? Sind Spuren des erarbeiteten Frau-/Eva-Bildes in unserer Gesellschaft immer noch anzutreffen? Kann und soll man etwas dagegen tun?
-
Anwenden/Übertragen (2 Lektionen)
Zum Abschluss der Auseinandersetzung mit dem Eva-und-Adam-Mythos zeigt die LP das Bild «Vertreibung aus dem Paradies» von Masaccio (Fresko der Brancacci-Kapelle in der Kirche Santa Maria del Carmine in Florenz, um 1425). Das Fresko zeigt den Moment, in dem Eva und Adam aus dem Paradies geworfen werden, wobei beide über ihre Gesten Ihre Scham, Trauer und Verzweiflung ausdrücken (vgl. dazu Baxandall 1988, 79-81). Die LP fragt, warum die beiden so dargestellt werden, was Adam und Eva hier wohl denken und fühlen und sichert so noch einmal die sog. «Bestrafungselemente» aus dem Text (harte Arbeit, Geburt unter Schmerzen, Scham etc.). Hier ist der Moment, in dem die LP eine ganz andere, entwicklungspsychologische Lesart von Gen 2,4b-3,24 vorschlägt: Die Geschichte erzählt, was alle Jugendlichen im Laufe ihrer Adoleszenz erfahren, nämlich die Abkehr von der Kindheit (im Text das Paradies) und – im besten Fall – von den fürsorglichen Eltern (im Text Gott), indem sie durch Denken und Erfahren (im Text die Frucht-Szene) eigene Wege gehen. Diese Lesart wird erarbeitet (vgl. vgl. Doku E&A, M10) und auf ihre Plausibilität hin diskutiert: Kann man die Geschichte so lesen? Überzeugt euch das? Warum und warum nicht?
Wie auch immer die S* zur vorgeschlagenen Lesart stehen, sollen Sie nun in Anlehnung an Masaccio ihre eigenen Adam und Eva mit Hilfe einer Bild-Text-Collage (die Collage ist immer noch eine wunderbar nachdenkliche, entschleunigende Methode: Grünberg 2007) kreieren und sich dabei fragen: Wie verlassen wir als junge Männer und Frauen das «Paradies»? Welche freudigen Erwartungen habe ich? Was macht mir Angst? Wie sehe ich das Geschlechterverhältnis? Was will die «Welt» von mir, und was kann ich der «Welt» geben? Etc. Solche Fragen erhalten gerade mit Blick auf die Zukunft von S* der neunten Klasse (Lehre, Gymnasium, FMS, 10. Schuljahr etc.) eine gewisse zusätzliche Dringlichkeit. Die Collagen werden am Ende einander gezeigt, erklärt und mit wertschätzenden Rückmeldungen bedacht.
Materialien
Aus Gründen umständlicher Bildrechteabklärungen werden die vorgeschlagenen Materialien (Doku E&A M1-M10) hier nicht öffentlich zur Verfügung gestellt, können aber bei email hidden; JavaScript is required angefragt werden.
Literatur