Solidarität als eine Ziellinie des Faches Ethik, Religionen, Gemeinschaft?
Einleitung
Multidisziplinär ausgerichtete Fächer wie das Deutschschweizer Volksschulfach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG) stehen vor der Herausforderung, ein für Lehrende und Lernende klar erkennbares und in sich stimmiges Profil zu entwickeln. Während die disziplinäre Verortung und das fachliche Selbstverständnis der Bereiche Ethik und Religionen für den ERG-Unterricht mit philosophischen und religionswissenschaftlichen Bezügen verhältnismässig klar bestimmt sind, ist beides für den Bereich Gemeinschaft weniger klar. Hier spielen lebens- und alltagsweltliche sowie überfachliche Zugänge eine grosse Rolle, zugleich sollen wissenschaftsnahe Konzepte und Zugangsweisen insbesondere aus den Sozialwissenschaften, aus Psychologie und Philosophie Berücksichtigung finden (vgl. Bietenhard/Brönnimann/Schnüriger 2024a). Ebenso ist nicht offenkundig, wie die drei Bereiche in der Unterrichtspraxis am überzeugendsten zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Ähnliche Fragen stellen sich auch für Schulfächer wie Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) im Bundesland Brandenburg oder Werte und Normen in Niedersachsen, die die neben einer starken Verankerung in lebensweltlichen Erfahrungen ebenfalls Perspektiven aus (philosophischer) Ethik, Religionskunde und weiteren Disziplinen wie Soziologie, Politikwissenschaften oder Psychologie berücksichtigen (vgl. die Beiträge in Burkard/Martena 2024; vgl. auch Kessler 2016).
Anliegen
Für den ersten Forschungstag zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft, der im Februar 2024 speziell dem Bereich Gemeinschaft gewidmet war, hatte die Tagungsleitung in Person von Alexandra Binnenkade und Robin Schmidt vorgeschlagen, Solidarität als Ziel und Horizont des ERG-Unterrichts zu betrachten und Potenziale einer Ausrichtung speziell des Bereichs Gemeinschaft an einem Konzept von Solidarität auszuloten. Diesen Anstoss aufgreifend verfolge ich hier zwei Fragelinien. Erstens: Inwiefern könnte Solidarität für den Bereich Gemeinschaft oder für das Fach ERG insgesamt als eine Ziellinie dienen? Damit geht es um die Fragen, ob und wie mit der Orientierung an Solidarität eine fachliche Ausschärfung des Bereichs Gemeinschaft befördert werden kann und inwiefern die Bezugnahme auf Solidarität darüber hinaus zur sachlichen Kohärenz des multidisziplinären Faches insgesamt beitragen kann. Zweitens: Wie könnte eine solidaritätsbezogene Bildung in diesem und in vergleichbaren Fachkontexten aussehen und inwiefern wäre damit eine attraktive Ziellinie für den Unterricht verbunden? Dabei werden mögliche Unterrichtsgegenstände, Kompetenzziele und Herangehensweisen an die Unterrichtsgestaltung insbesondere für die Sekundarstufe I im Zusammenhang mit dem Konzept der Solidarität adressiert (vgl. den 3. Zyklus im Lehrplan 21).
Übersicht
Ich beginne mit einigen Bemerkungen zur Natur und zum Wert von Solidarität, die als Grundlage für die folgende Diskussion dienen (Abschnitt 1). Vor diesem Hintergrund erörtere ich den Vorschlag, Solidarität als eine Ziellinie für den Bereich Gemeinschaft oder für das Fach ERG insgesamt zu verwenden (Abschnitt 2). Anschliessend skizziere ich zur Veranschaulichung, wie ein Unterricht ausgestaltet sein könnte, der sich eine solidaritätsbezogene Bildung auf die Fahnen schreibt, ohne dabei erzieherischen Anliegen gegenüber fachlichen Ansprüchen den Vorrang zu geben (Abschnitt 3).
1. Was ist Solidarität und inwiefern ist sie wertvoll?
Zur Natur von Solidarität
Was also kann gemeint sein, wenn von Solidarität die Rede ist?1 In erster Annäherung bezeichnet Solidarität ein besonderes Unterstützungsverhältnis zwischen Menschen und Menschengruppen. Dabei lässt sich grundlegend zwischen zwei Spielarten von Solidarität unterscheiden (vgl. O’Neil 1996, S. 201): Das ist zum einen Solidarität zwischen Mitgliedern einer Gruppe, wobei es sich um ein weitgehend symmetrisches Verhältnis handelt (solidarity among). So können etwas Arbeiter:innen im Kampf um bessere Löhne solidarisch miteinander sein, Mitglieder einer Partei oder eines Vereins können solidarisch für gemeinsame Ziele eintreten oder es kann die Solidarität einer Bürgerschaft erfahrbar werden.
Im zweiten Verständnis von Solidarität zeigen sich Individuen oder Gruppen mit anderen solidarisch, z. B., wenn diese ein politisches Unrecht erfahren oder einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen sind. In diesen Fällen kann das Verhältnis ein asymmetrisches sein, so etwa auch, wenn Aussenstehende die emanzipatorische Bewegung einer unterdrückten Gruppe unterstützen, ohne selbst Teil dieser Gruppe zu sein oder ihrerseits Unterstützung zu erwarten (solidarity with). Hier kann allerdings die Abgrenzung zwischen Solidarität und anderen asymmetrischen Verhältnissen wie Wohltätigkeit oder die Unterstützung einer guten Sache schwierig sein. Ich werde im Folgenden den Fokus auf Solidarität im primär symmetrischen, auf Reziprozität ausgerichteten Verständnis legen. Etwas genauer folge ich dem u. a. von Philippe Van Parijs vorgeschlagenen Verständnis, demzufolge Solidarität dann vorliegt,
- wenn Menschen sich als eine soziale Gruppe wahrnehmen, insbesondere auf der Grundlage einer Rolle (z. B. der einer Arbeiter:in), geteilter Erfahrungen (z. B. von Diskriminierung) oder geteilten Anliegen (z. B. Klimagerechtigkeit) und
- wenn die Mitglieder bereit sind, einander zu unterstützen oder gemeinsam zu handeln.
Demnach geht es hier also um Solidarität im Sinne einer mit bestimmten Handlungsdispositionen verbundenen Einstellung von Individuen gegenüber einer Gruppe, als deren Teil sie sich sehen, weil sie eine Rolle (oder Identität), Erfahrungen oder Anliegen mit den Gruppenmitgliedern teilen.
Zum Wert von Solidarität
Neben der Frage, was Solidarität ist, stellt sich auch die Frage, inwiefern sie wertvoll ist. Dies ist gerade auch dann wichtig zu klären, wenn Solidarität in Bildungskontexten als eine Ziellinie der Reflexion oder gar als zu fördernde Einstellung verstanden werden soll. Prima facie scheint Solidarität in vielen Hinsichten attraktiv zu sein. So scheint sie ein wertvolles Gegengewicht zur Vereinzelung in modernen Gesellschaften und zu einer Fokussierung auf enggefasstes Eigeninteresse darzustellen, mit grossem empowerment-Potenzial für Individuen und Gruppen. Zudem ist unstrittig, dass Solidarität häufig instrumentell wertvoll ist: Eine Gruppe kann durch sie ihre Ziele besser erreichen, die miteinander solidarischen Gruppenmitglieder können sich gegenseitig unterstützen und einander leichter Vertrauen entgegenbringen.
Fraglich ist jedoch, inwiefern Solidarität auch nicht-instrumentell und notwendig wertvoll ist. Da es zum einen plausibel scheint davon zu sprechen, dass etwa die Angehörigen einer Mafia-Organisation solidarisch untereinander sein können, zum anderen Solidarität innerhalb einer Gruppe mit unmoralischen Zielen nicht als insgesamt wertvoll gelten kann, ist Solidarität offenbar nicht notwendig wertvoll. Doch wie lässt sich einfangen, dass wir Solidarität scheinbar auch über ihren instrumentellen Wert hinaus schätzen, und zugleich anerkennen, dass nicht alle Fälle solidarischen Verhaltens wertvoll sind? Andrea Sangiovanni und Juri Viehoff schlagen folgende hilfreiche Abgrenzung vor: Solidarische Einstellungen und Handlungsdispositionen in Reaktion auf ein Unrecht zu entwickeln, das einer Gruppe widerfährt, ist wertvoll, da dies eine angemessene Reaktion auf das Unrecht (einen Unwert) darstellt. Dies ist beispielsweise nicht der Fall, wenn rassistische Gruppen sich solidarisch verhalten, da ihre Solidarität auf moralisch verwerflichen Einstellungen aufbaut. Somit verfügt sie in diesem Fall über keinen nicht-instrumentellen Wert (vgl. Sangiovanni/Viehoff 2023, Abs. 3). Damit können wir Solidarität als instrumentell sowie als potenziell nicht-instrumentell wertvoll auffassen, abhängig vom Charakter und von den Werten der Gruppen, die sich solidarisch zeigen. Diese Differenzierung gilt es auch im Bildungskontext zu berücksichtigen.
Solidarität als illegitime Beschränkung individueller Freiheit?
Neben dem Verweis auf potenziell problematische Charakteristika und Werte solidarischer Gruppen und Handlungen lassen sich weitere berechtigte Bedenken gegenüber der Beförderung von Solidarität als Bildungsziel formulieren. Zwei Arten von Bedenken möchte ich anführen. Das ist erstens die Beobachtung, dass mit Solidaritätsforderungen illegitime Beschränkungen individueller Freiheiten verbunden sein können. Denn Gruppensolidarität fordert häufig dazu auf, einen bestimmten, in der Gruppe geteilten Aspekt des eigenen Lebens, der eigenen Identität ins Zentrum zu rücken. Dies kann mit anspruchsvollen Anforderungen an das Zurückstellen eigener individueller Bedürfnisse verbunden sein und birgt die Gefahr, den Beteiligten eine einengende, ggf. essentialisierende Vorstellung angemessener Lebensformen oder Verhaltensweisen überzustülpen. Wie etwa Audre Lorde am Beispiel eigener Identitätsmerkmale herausstellt, können (zugeschriebene) Gruppenidentitäten eindimensional und einengend sein.
«Als Schwarze, lesbische Feministin fühle ich mich mit den verschiedenen Aspekten meiner Identität sehr wohl. Trotzdem werde ich im Kampf gegen rassistische und sexistische Unterdrückung ständig dazu angehalten, irgendeinen meiner Anteile auszuwählen, ihn als intaktes Ganzes zu präsentieren und alle anderen Anteile auszublenden oder gar zu verleugnen.» (Lorde 1980/2023, S. 140)
Wie allerdings Lorde und andere Vordenker:innen und Aktivist:innen im Kontext emanzipatorischer Bewegungen ebenfalls hervorheben, kann solidarisches Handeln in Gruppen notwendig sein, um Freiheiten (und andere Werte) zuallererst zu erkämpfen oder zu bewahren. Es wäre entsprechend verkürzt, Solidarität nur unter dem Aspekt einer möglichen, prima facie illegitimen Beschränkung individueller Freiheit zu betrachten, und nicht ebenso im Hinblick auf ihr emanzipatorische Potenzial.
Problematische Parteilichkeit und exkludierende Effekte von Solidarität?
Eine zweite Art von Bedenken betrifft eine möglicherweise problematische Parteilichkeit und damit verbundene exkludierende Effekte von Solidarität. Denn solidarisches Handeln im hier betrachteten Sinne bezieht sich ja auf Mitglieder der eigenen Gruppe, die gegenüber denjenigen bevorzugt werden, die nicht zu dieser Gruppe zählen. Die motivationale Kraft solidarischen Handelns scheint sich häufig sogar massgeblich aus dieser Parteinahme für die eigene Gruppe und ggf. auch gegen Andere zu speisen. Auf dieses Bedenken lässt sich in mindestens zwei Weisen reagieren.
Die erste Reaktionsmöglichkeit besteht darin, die unterstellte Annahme zurückzuweisen, dass Parteilichkeit überhaupt problematisch sein könnte. Dies wäre etwa im Rahmen eines kommunitaristischen Ethikverständnis möglich, das Unparteilichkeitsansprüche generell als verfehlt zurückweist (vgl. Torkler 2021, Abs. 3). Zumindest in einer starken Form halte ich diese Position philosophisch für nicht vertretbar und auch für Bildungskontexte nicht angemessen. Ich kann diese Fragen hier nicht weiterverfolgen. Der etwas lapidare Verweis auf prominente Ethikkonzeptionen und die universalistisch gefassten Menschenrechte, die mit einem Unparteilichkeitsanspruch einhergehen und eine wichtige Grundlage schulischer Bildung in demokratischen Gesellschaften darstellen, muss hier genügen.
Die zweite Reaktionsmöglichkeit erkennt an, dass Parteilichkeit problematisch sein kann und rechtfertigungsbedürftig ist. Zugleich zeigt sie auf, wie sich Parteilichkeit in den Rahmen einer unparteilichen Ethik einbetten und so für bestimmte Bedingungen und Kontexte verteidigen lässt. Diese zweite Strategie, die ich für vielversprechend halte, kann sich auf folgende Überlegungen stützen: Grundsätzlich haben alle Menschen gleichermassen das Recht oder die Pflicht, sich im Kontext bestimmter Beziehungen und sozialer Strukturen parteilich zu verhalten (z. B. in Familien, in Freundschaften, in bestimmten Rollen). Bevorzugende Verhaltensweisen oder spezielle Pflichten im Rahmen von Solidaritätsbeziehungen sind etwa dann gerechtfertigt, wenn die fragliche Gruppe gegen Ungerechtigkeiten kämpft, da hier die Bevorzugung der Beseitigung einer Benachteiligung dient. Spezielle Pflichten in Solidaritätsbeziehungen sind begrenzt durch grundlegendere unparteiliche Pflichten (vgl. z. B. Driver 2005, Hooker 2010).
Insofern kann Solidarität zwar mit problematischer Parteilichkeit und exkludierenden Effekten verbunden sein, sie ist dies aber keinesfalls zwangsläufig. Vielmehr kann die Parteilichkeit mit der nötigen motivationalen Kraft einhergehen, um etwa in benachteiligten oder unterdrückten Gruppen solidarisch gegen Ungerechtigkeiten einzutreten.
Zwischenfazit
Der Vorschlag, Solidarität als Ziellinie für den Bereich Gemeinschaft oder für das Fach ERG insgesamt zu behandeln, sieht sich mit begrifflichen Unschärfen und normativen Ambivalenzen des Solidaritätsverständnisses konfrontiert. Ich habe hier den Fokus auf das symmetrische Verständnis von Solidarität gelegt und einige Differenzierungen in Bezug auf den Wert von Solidarität angeführt, um damit eine Grundlage für die weitere Diskussion möglicher Bildungspotenziale zu schaffen. Angesichts der verbreiteten Rekurse auf Solidarität im öffentlichen Diskurs, aber auch vor dem Hintergrund der angesprochenen Unschärfen und Ambivalenzen, lohnt es in jedem Fall, diese Potenziale in Bezug auf das Fach ERG auszuloten.
2. Solidarität als eine Ziellinie für den Unterricht?
Inwiefern also könnte eine Ausrichtung des Faches ERG oder speziell des Bereichs Gemeinschaft am Konzept der Solidarität fruchtbar sein? Zunächst ist eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Konzept, dem Wert und möglichen problematischen Effekten von Solidarität für sich genommen ein theoretisch spannender Gegenstand, der sich gut lebensnah im Unterricht thematisieren lässt und über den sich ein reflektiertes Verhalten fördern lässt. Doch könnte damit auch insbesondere der Bereich Gemeinschaft fachlich ausgeschärft werden? Oder könnte die Orientierung an Solidarität einen Beitrag für die Beantwortung der Frage leisten, wie sich die Teilbereiche Ethik, Religionen und Gemeinschaft sinnvoll aufeinander beziehen lassen? Anfangsplausibilität verleiht diesen Ideen nicht zuletzt die Tatsache, dass in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und gesellschaftlichen Kontexten Interesse am Konzept der Solidarität besteht – von Soziologie und Philosophie über Politik(-wissenschaft) und Theologien bis hin zu sozialen Bewegungen. Schauen wir uns den Vorschlag zunächst in Bezug auf den Bereich Gemeinschaft etwas genauer an.
Solidarität und der Bereich Gemeinschaft
Die Kompetenzformulierungen für den 3. Zyklus im Lehrplan 21 legen nahe, dass im Fokus des Bereichs Gemeinschaft insbesondere lebenskundliche und gesellschaftsbezogene Kompetenzen stehen sollen, teils verbunden mit der Erarbeitung wissenschaftsnaher Konzepte und Methoden vor allem aus dem Bereich der Sozialwissenschaften und der Psychologie (vgl. z. B. Kessler 2016, Estermann/Odermatt 2018, Bietenhard/Brönnimann/Schnüriger 2024b, S. 8f.). Dabei werden etwa Fragen nach Identität und Gemeinschaft, individuellen Zielsetzungen und Gruppenzugehörigkeiten oder das Handeln in Gruppen und somit Themen adressiert, zu denen ein Fokus auf Solidarität gut passt. Dies zeigen beispielsweise die folgenden Kompetenzformulierungen im Bereich ERG.5 «Ich und die Gemeinschaft – Leben und Zusammenleben gestalten»:
Die Schüler:innen «können Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf Geschlecht und Rollenverhalten in der Gruppe formulieren und respektvoll diskutieren […].» (ERG.5.2a). Sie «können Zuständigkeiten aushandeln und vereinbaren und sich verantwortlich für die Gemeinschaft engagieren […]» (ERG.5.4c), und sie «können vereinnahmende Einflüsse auf mögliche Ursachen analysieren und sich abgrenzen (z. B. Manipulation, Modetrends, Gruppendruck, Mobbing).» (ERG.5.4d).
Angesichts der angesprochenen begrifflichen Komplexität und normativen Ambivalenz von Solidarität empfiehlt sich dabei eine Verbindung mit philosophischen Perspektiven aus dem Bereich Ethik. Damit würden Fragen nach Individuum und Gemeinschaft nicht allein aus lebens- und alltagsweltlichen, sozialwissenschaftlichen oder psychologischen und somit primär deskriptiven Perspektiven verhandelt. Vielmehr könnten ergänzend etwa eine begrifflich-analytische Beschäftigung mit Solidaritätskonzepten und eine ethisch-politische Auseinandersetzung mit Forderungen nach Solidarität, Konzepten von Gemeinschaft und Gesellschaft, Parteilichkeit und Unparteilichkeit verfolgt werden. Konkret besteht hier eine Anschlussmöglichkeit an folgende Kompetenzformulierungen aus dem Bereich Ethik:
Die Schüler:innen «können in Diskussionen oder Debatten philosophische Fragen identifizieren und Begriffe klären» (ERG.1.2c). Sie «können über Sinn und Nutzen gesellschaftlicher und individueller Werte und Normen nachdenken und Normen entsprechend aushandeln» (ERG.2.1a).
Wie Unterricht aussehen könnte, der Solidarität im Kontext der Förderung einschlägiger Kompetenzen aus dem Bereich G in Verbindung insbesondere mit ethisch-philosophischen Perspektiven verhandelt, illustriere ich exemplarisch in Abschnitt 3.
Solidarität und das Fach ERG
Doch wie steht es nun um das Integrationspotenzial einer Ausrichtung am Konzept der Solidarität für ERG insgesamt? Die begriffliche Vielschichtigkeit und normativen Ambivalenzen von Solidarität sowie die Möglichkeiten unterschiedlicher disziplinärer Zugänge sehe ich hierfür primär als Chance. Konkreter erscheint die Auseinandersetzung mit Solidarität, wie bereits angedeutet, vielversprechend
- im Bereich Gemeinschaft, wenn sie auch mit begrifflicher und normativer Reflexion ist,
- im Bereich Ethik, wenn sie verbunden ist mit Diskussionen zur Natur und ethisch-politischen Bewertung von Solidarität in unterschiedlichen Kontexten.
Darüber hinaus finden sich auch Anknüpfungspunkte
- im Bereich Religionen, etwa mit Blick auf eine Thematisierung von Identitätszuschreibungen oder religiös geprägte Solidaritätsvorstellungen.
Einschlägige Kompetenzformulierungen im Lehrplan 21 aus dem Bereich Religionen sind z. B.:
Die Schüler:innen «können aktuelle Debatten auf religiöse bzw. weltanschauliche Standpunkte und diskriminierende Zuschreibungen untersuchen»(ERG.3.2c). Sie «können positive, ambivalente und negative Wirkungen von Religion einschätzen» (ERG.3.2b).
Im Zusammenhang mit der Förderung der Fähigkeit, aktuelle Debatten auf diskriminierende Zuschreibungen zu untersuchen, liessen sich etwa einengende Zuweisungen vermeintlicher Solidaritätspflichten thematisieren, z. B. im Rahmen religiöser oder politischer Gemeinschaften. Auch liesse sich untersuchen, inwiefern Angehörige konkreter religiöser Gemeinschaften sich als Teil von Solidargemeinschaften verstehen oder welche Vorstellungen menschlicher Solidarität sich in ausgewählten religiösen Schriften finden. Klarerweise lassen sich hierbei wiederum Bezüge zu lebenskundlichen, gesellschaftlichen, sozialwissenschaftlichen oder psychologischen Perspektiven auf der einen Seite und begrifflichen oder normativen Fragen auf der anderen Seite herstellen.
Damit ist der Vorschlag, Solidarität als eine Ziellinie für das Fach ERG zu betrachten, tatsächlich vielversprechend und lohnt der weiteren Untersuchung. Denn es konnten Kompetenzen und Fragestellungen des Faches ERG identifiziert werden, die sich fruchtbar mit dem Konzept der Solidarität in Verbindung bringen lassen und die wiederum mit Hilfe der Fokussierung auf Solidarität auch untereinander verknüpft werden können.
Solidarität ohne Anbindung an eine ethisch-philosophische Perspektive als eine Ziellinie für den Bereich Gemeinschaft zu verwenden, hielte ich allerdings für nicht empfehlenswert, insbesondere, wenn dieser Bereich stark lebenswelt- und alltagsbezogen sowie als verbunden mit erzieherischen Anliegen verstanden wird (vgl. Bietenhard/Brönnimann/Schnüriger 2024a, S. 48-62 für unterschiedliche Konzeptionen). Denn angesichts der erläuterten Unschärfen und normativen Ambivalenzen bestünde hier die Gefahr, dass in der Unterrichtspraxis, aber auch in bildungspolitischen Kontexten, Solidarität vor allem als diffuses Schlagwort ins Spiel kommt, das sich mit ganz unterschiedlichen, auch problematischen ethischen, politischen und erzieherischen Anliegen verbinden lässt (z. B. mit exkludierenden Gemeinschaftsvorstellungen oder mit Konstruktionen eines solidarischen «Wir», die dazu beitragen, dominante gesellschaftliche Gruppen zu privilegieren).
3. Unterrichtspraktische Herangehensweisen für eine solidaritätsbezogene Bildung
Die beiden Beispiele für unterrichtspraktische Herangehensweisen, die ich im Folgenden skizziere, lassen sich als Vorschläge für eine solidaritätsbezogene Bildung verstehen, mit der in erster Linie Kompetenzen aus den Bereichen Ethik und Gemeinschaft, am Rande jedoch auch aus dem Bereich Religion des Faches ERG gefördert werden können. Verorten lassen sich die Vorschläge in einem Verständnis ethischer Bildung, das die Schüler:innen zu einer aktiven und fundierten Auseinandersetzung mit ethischen und gesellschaftlichen Fragen ermutigt und dabei ihre Fähigkeiten zur zunehmend eigenständigen Reflexion und Diskussion fördert. Dabei wird, entsprechend den Ansprüchen, die an Ethikfächer gestellt werden, durchaus auch die Beförderung eines ethischen und politischen Handelns angestrebt, das an Normen und Werten ausgerichtet ist, die als Grundlage für diskursive Verständigung und ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben in demokratischen Gesellschaften angesehen werden können (vgl. Burkard 2020b, Bietenhard/Brönnimann/Schnüriger 2024a, S. 20-32, Meyer 2024).
Zugleich ist dieses Verständnis ethischer Bildung durch die Abgrenzung von zwei Polen charakterisiert: Zum einen grenzt es sich von «Erziehungskonzepte[n]» ab, nach denen der Unterricht primär daraus aufgerichtet ist, «zu moralischem Verhalten zu erziehen, Tugenden einzuüben und Werte zu vermitteln» (Raupach-Strey 2003, S. 280). Zum anderen grenzt sich das Verständnis von Erkundungskonzepten ab, hier verstanden als Unterrichtskonzeptionen, die vorrangig auf die bloße Vermittlung von Wissen über ethische Konzepte und Theorien ausgerichtet sind (ebd., S. 281).
Die folgenden Vorschläge veranschaulichen exemplarisch, wie eine Auseinandersetzung mit dem Konzept und mit Praktiken der Solidarität dem hier umrissenen Verständnis ethischer Bildung entsprechend aussehen kann. Dazu führe ich Kompetenzen der Bereiche Ethik, Gemeinschaft und Religionen aus dem Lehrplan 21 an, die sich mit den Vorschlägen fördern lassen.
Reflexion von Forderungen nach solidarischem Handeln
Als erste Herangehensweise für den unterrichtspraktischen Einbezug des Konzepts der Solidarität skizziere ich eine Sequenz in fünf Schritten, die sich unterschiedlich umfangreich und anspruchsvoll ausgestalten lässt. Im Zentrum der Sequenz steht die Leitfrage: Gibt es eine Pflicht, solidarisch zu handeln? Die Verweise auf Teilkompetenzen aus dem Lehrplan 21 verdeutlichen, wie die verschiedenen Bereiche dabei ins Spiel kommen (Ethik: ERG.1 und 2, Religionen: ERG.3 und 4, Gemeinschaft: ERG.5). Generell können mit einer solchen Sequenz Begriffsreflexion, ethisches Urteilen und diskursiver Austausch in Auseinandersetzung mit dem Konzept der Solidarität geübt und dies sowohl an die Alltags- und Lebenswelt der Schüler:innen als auch an einschlägige gesellschaftliche bzw. sozialwissenschaftliche und religionskundliche Konzepte angebunden werden.
- Präsentation vielfältiger Beispielsituationen,2 in denen sich vermeintliche oder tatsächliche Mitglieder unterschiedlicher sozialer Gruppen nicht solidarisch gegenüber Gruppenmitgliedern verhalten (tatsächliche oder zugeschriebene Mitgliedschaft bezüglich Rolle, Erfahrung oder Ziele, s. o.); die Schüler:innen formulieren bezogen auf die Beispiele Erwartungen der Gruppen an die Individuen und beurteilen vorläufig, inwiefern das nicht-solidarische Verhalten in den Beispielen legitim ist (angelehnt an ERG.2.2d, ERG.5.2a+b, ERG.5.4c; auch ERG.3.2b und ERG.4.4c).
- Tiefergehende Auseinandersetzung mit den Beispielsituationen zur Annäherung an den Begriff, an mögliche Werte und Grenzen von Solidarität; die Schüler:innen reflektieren, unter welchen Bedingungen und warum solidarisches Handeln angemessen ist oder nicht und formulieren Vorschläge für Begriffsbestimmung und Wert(e) von Solidarität (wie 1., zudem ERG.1.2c).
- (optional vertiefend, höheres Anforderungsniveau) Lektüre von und Auseinandersetzung mit Bestimmungen von Solidarität aus der Literatur; die Schüler:innen entnehmen philosophische und religiöse oder theologische Überlegungen aus einschlägigen Texten zu Begriff, Wert(en) und Grenzen von Solidarität und diskutieren diese unter Bezugnahme auf ihre eigenen Begriffs- und Wertbestimmungen aus Schritt 2 (angelehnt an ERG.1.2a, ERG.2.2e, ERG.4.1).
- Reflexion bestehender oder wünschenswerter Solidaritätsbeziehungen, in denen die Schüler:innen selbst oder Menschen in ihrem Umfeld sich befinden oder gerne befinden würden; die Schüler:innen beschreiben und reflektieren eigene Erfahrungen und/oder Beobachtungen bezüglich solidarischem und nicht-solidarischem Handeln aus ihrer Alltags- und Lebenswelt vor dem Hintergrund von Schritt 1 bis 3 (angelehnt an ERG.1.1d, ERG.2.2b, ERG.5.1d, ERG.5.2a).
- Diskussion der Leitfrage und differenzierte Urteilsbildung; die Schüler:innen diskutieren abschliessend die Frage, ob, unter welchen Umständen und wem gegenüber es eine Pflicht gibt, solidarisch zu handeln und welche Handlungsanforderungen sich aus ihren Urteilen für sie oder für ihr Umfeld ergeben (angelehnt an ERG.2.2e, ERG.5.5e, ERG.5.6c, ggf. auch ERG.4.5c).
Arbeit mit narrativen Texten
Die zweite hier vorgeschlagene Herangehensweise für den Unterricht regt dazu an, Solidarität im Kontext der Arbeit mit narrativen Texten zu reflektieren und damit einen Zugang zu wählen, der Emotionen produktiv einbezieht.3 Es bietet sich die Lektüre von Texten an, die uns darin unterstützen können, «unser Verständnis des ‹Wir› […] auszudehnen» und die auf diese Weise solidarische Einstellungen befördern, wie Richard Rorty vorschlägt (Rorty 1989/1992, S. 316, diskutiert in Torkler 2021). Rorty sieht in der Lektüre von Romanen das Potential, uns die Perspektiven anderer, auch uns ganz fremder Menschen zugänglich zu machen und dadurch ein Empfinden von Solidarität mit ihnen zu fördern:
«[Solidarität] ist […] durch Einbildungskraft erreichbar, durch die Fähigkeit, fremde Menschen als Leidensgenossen zu sehen. Solidarität […] wird dadurch geschaffen, daß wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, uns nicht vertrauter Arten und Menschen steigern. […] Romane sind in der Lage, uns zu zeigen, wie Menschen sich sehen, die ganz anders sind als wir […].» (Rorty 1989/1992, S. 15f., 56; vgl. weiterführend auch Schmetkamp 2018 zu narrativer Empathie)
Sowohl in der Philosophie als auch in verschiedenen Fachdidaktiken und der Psychologie liegen umfangreiche Untersuchungen dazu vor, welche Wirkungen (bestimmte) Narrationen auf ethisch einschlägige Fähigkeiten, Tätigkeiten und Einstellungen wie Imagination, Empathie, Fremdverstehen, Perspektiverweiterung oder eben Solidarität haben können (siehe hier und hier für einen philosophiedidaktischen Zugang und weiterführende Literaturhinweise). Zugleich können narrative Texte Ausgangspunkt für begriffliche Reflexion und argumentative Auseinandersetzung sein.
Für die hier diskutierten Möglichkeiten einer solidaritätsbezogenen Bildung möchte ich lediglich auf drei verhältnismässig kurze Texte und Textauszüge verweisen, die das Potenzial haben, «unser Verständnis des ‹Wir›« auszudehnen und auch vielfältige Reflexionsanlässe zum Begriff und Wert von Solidarität für den ERG-Unterricht der Sekundarstufe bieten. Die Vorschläge können als Anregung verstanden werden, nach weiteren Texten mit ähnlichem Wirkpotential – auch zu leichteren Themen und für jüngere Jahrgänge – Ausschau zu halten (vgl. auch Merkel 2021):
- Die autobiographische Erzählung «Lauthals leben» von Julia Latscha (2017), in der sie vom Leben mit ihrer mehrfach behinderten Tochter Lotte berichtet und davon ausgehend philosophische und gesellschaftspolitische Fragen z. B. zu Normalität und gesellschaftlicher Teilhabe reflektiert (didaktisch aufbereitete und kommentierte Auszüge finden sich hier und in Merkel 2021).
- Das Büchlein «Krieg. Stell dir vor, er wäre hier» von Janne Teller (dt. 2011), erzählt als ein Gedankenexperiment, mit dem Leser:innen aus wohlhabenden, westlichen Demokratien direkt angesprochen werden sich vorzustellen, aufgrund eines Krieges zu Flüchtenden zu werden (es finden sich online diverse Vorschläge für den Unterrichtseinsatz in verschiedenen Fächern).
- Die Kurzgeschichte «Schlafen, nur Schlafen» von Anton Tschechow (1888), in der anhand der Geschichte eines jungen Mädchens mögliche Auswirkungen grosser Armut und ausbeuterischer Arbeitsbedingungen in sehr eindrucksvoller und radikaler Weise thematisiert sowie Fragen nach Schuld und Verantwortung aufgeworfen werden (eine gekürzte, philosophisch und didaktisch kommentierte Fassung findet sich in Burkard 2020a).
Mit den hier skizzierten unterrichtspraktischen Beispielen werden somit Herangehensweisen vorgeschlagen, die von Reflexionen zum Begriff der Solidarität über die ethische Auseinandersetzung mit Konzepten und Praktiken der Solidarität bis hin zu einem stärker emotional ausgereichten Zugang reichen, der solidarische Einstellungen thematisieren und erweitern kann.
Schlussbemerkungen
Angesichts der Unschärfe und Ambivalenz des Konzepts der Solidarität mag der Vorschlag zunächst zweifelhaft erscheinen, es zur Präzisierung des fachlichen Profils des Bereichs Gemeinschaft oder des ERG-Unterrichts insgesamt heranzuziehen. Wie ich argumentiert habe, liegt jedoch in dieser Unschärfe und in den Ambivalenzen durchaus didaktisches Potenzial. Für eine umfassende Prüfung der Fruchtbarkeit des Vorschlags bräuchte es zwar selbstverständlich deutlich mehr als einen knappen, konzeptionellen Text wie diesen. Es lassen sich jedoch vielfältige Ansatzpunkte für eine solidaritätsbezogene Bildung im Fach ERG und speziell im Bereich Gemeinschaft aufzeigen. Zudem sollte deutlich geworden sein, dass sich Solidarität sowohl zu einschlägigen Bezugsdisziplinen als auch zu zahlreichen Kompetenzanforderungen der Bereiche von ERG fruchtbar in Beziehung setzten lässt und somit einen Beitrag zur sachbezogenen Kohärenz leisten kann. Unabhängig von den Fragen der fachlichen Ausrichtung ist Solidarität ein attraktiver Unterrichtsgegenstand, sei es in Form einer direkten Auseinandersetzung mit dem Begriff und Wert von Solidarität, sei es in Verbindung mit narrativen, stärker emotional ausgerichteten Herangehensweisen. So mögen die hier angestellten Überlegungen einen Mosaikbaustein darstellen für die konzeptionelle und unterrichtspraktische Weiterentwicklung des Bereichs Gemeinschaft, des Faches ERG wie auch vergleichbarer Ethik- und Religionsfächer.
Literatur
Burkard, Anne (2025). Solidarität als eine Ziellinie des Faches Ethik, Religionen, Gemeinschaft?, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), LINK zum Artikel
Anmerkungen
1 Die folgenden Ausführungen zur Natur und zum Wert von Solidarität orientieren sich primär an Sangiovanni/Viehoff 2023; vgl. auch Bayertz 1998 und weitere Verweise im Text.
2 Die Beispielsituation können Lerngruppen abhängig mit passenden Bezügen zur Alltags- und Lebenswelt der Schüler:innen gewählt werden, jeweils mit strittigen, mit recht klar angemessenen und recht klar unangemessenen Solidaritätsforderungen, letztere z. B. aufgrund von Zugehörigkeitszuschreibungen von aussen oder unmoralischen Zielen der Gruppe(n).
3 Ich verzichte hier auf detaillierte Zuordnungen zu Teilkompetenzen, da diese von der konkreteren Ausgestaltung der Arbeit mit den Texten abhängen. Viele der oben angeführten Kompetenzen lassen sich jedoch, je nach Schwerpunktsetzung, auch bei einer solidaritätsbezogenen Arbeit mit narrativen Texten fördern.
Artikelnachweis
Burkard, Anne (2025). Solidarität als eine Ziellinie des Faches Ethik, Religionen, Gemeinschaft?, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/anne-burkard-solidaritaet-als-eine-ziellinie-des-faches-ethik-religionen-gemeinschaft