Warum braucht es Bücher mit Geschichten zu hinduistischen Gottheiten?
Du hast an zwei Büchern mitgearbeitet, in denen Geschichten von hinduistischen Gottheiten erzählt werden. Wie ist es dazu gekommen?
Sowohl in meiner Arbeit als Kuratorin am Museum wie auch in meinen verschiedenen Engagements für das Fach RKE (bzw. damals noch «Religion und Kultur») ist mir aufgefallen, dass es so gut wie keine Bücher gibt, in denen diese Geschichten ausführlich erzählt werden. Wenn ich in Führungen im Museum oder im Rahmen der Ausbildung von oder in Weiterbildungen für Lehrpersonen gefragt wurde, wo man diese Geschichten nachlesen könnte, konnte ich einfach keine Buchtitel nennen, die ich wirklich für empfehlenswert hielt. Was es gab, war entweder nicht auf Deutsch oder, wenn es auf Deutsch war, überhaupt nicht zeitgemäss oder verständlich oder zusammengestückelt. Mit den beiden Büchern haben wir versucht, eine Lücke zu schliessen.
Hätte dann nicht ein Buch gereicht? Oder warum sind es schon zwei?
Wenn mein Indologie-Professor an der Uni über hinduistische Literatur sprach, war einer seiner Lieblingssprüche: «Verdammt viel Buch!» Dabei breitete er seine Hände weit aus und signalisierte damit eine sehr lange Buchreihe … Das ist sicherlich der Hauptgrund, warum wir nicht nur ein Buch gemacht haben: Es gibt einfach so unglaublich viele Geschichten in Indien, die es wert sind, sie zu erzählen, lesen und hören! Ausserdem sind es zwei sehr dünne Bücher. Wir könnten also noch viel mehr machen – und ich hoffe sehr, dass es noch zu weiteren kommt … die Lücke ist recht gross, es gibt noch viel Luft nach oben.
Was ist der Unterschied zwischen den zwei Büchern?
Die Bücher entstammen unterschiedlichen Kontexten und haben eine unterschiedliche Form, und auch wenn ich persönlich gerne eine Reihe hätte, finde ich beide sehr schön.
Das erste Buch «Aus dem Milchmeer entstand die Welt» war eine Kooperation mit dem Basler Buchverlag Baobab und konnte im Rahmen eines Sonderprojektes der Kunstvermittlung des Museums Rietberg veröffentlich werden. Das Projekt hiess «Kunst sehen – Religion verstehen» und beinhaltete verschiedene Teilprojekte, in denen das Museum Angebote für den Unterricht entwickelte. Durch die Unterstützung von «Migros Engagement» kamen auch für die Publikation die nötigen Finanzen zusammen. Es ging in diesem Buch darum, die reiche Götterwelt in ihrer Breite vorzustellen, Erzählungen und Bilder zusammenzubringen und eine erste Auswahl von acht Geschichten zu veröffentlichen – ein erster Einstieg gewissermassen. Wir haben acht hinduistische Götter und Göttinnen ausgewählt und auch von der Art der Erzählungen her versucht, möglichst viele verschiedene Aspekte aufzunehmen. Die Texte, die sich auf verschiedene Quellen stützen, stammen auch von zwei Autorinnen, meiner lieben Kollegin Penelope Tunstall und mir.
Das zweite Buch «Young Krishna» konnte ich im Zusammenhang mit einer von mir kuratierten Ausstellung am Museum Rietberg veröffentlichen. Vom Format und der Aufmachung her ist es eher ein Heft, aber auch wieder sehr sorgfältig und schön gestaltet. Anders als das erste Buch enthält das Heft nur noch fünf Geschichten, die alle von Gott Krishna handeln und aus einem einzigen Quellentext stammen. Es gibt zusätzlich einige Hintergrundtexte, die Bilder sind grösser abgedruckt – sogar ein bisschen grösser als sie in Wirklichkeit sind – und die Geschichten wurden ergänzend zur schriftlichen Form von Profis eingesprochen. Sie können also als Audios auf der Homepage des Museums Rietberg gehört werden. Es war mir sehr wichtig, zu den Bildern neben dem Leseerlebnis auch ein Hörerlebnis zu ermöglichen. In dieser zweiten Veröffentlichung gibt es diesmal alle Geschichten in Deutsch, Englisch und Französisch.
Abgesehen davon haben die beiden Bücher viele Gemeinsamkeiten, sie sind inhaltlich ähnlich konzipiert: Sie enthalten Geschichten zu indischen Gottheiten, und zwar in einer Form, die der Leser:innenschaft im hiesigen Kulturraum angepasst ist, also verständlich und zugänglich bezüglich Sprache, Länge und Komplexität für Menschen, die nicht so vertraut sind mit der indischen Kultur und Götterwelt. In beiden Büchern sind die Texte von Bildern aus dem Museum Rietberg begleitet. Es sind Bilder, die teilweise vor einigen hundert Jahren für indische Fürstenhöfe gemalt wurden und genau diese Geschichten visualisieren. Wie vorher erwähnt: Die Geschichten sollen erzählt, gelesen und gehört werden und ich muss hier ergänzen, dass sie eben auch gesehen werden können. In Indien wurde und wird viel Wissen über die Götter und Göttinnen mündlich und visuell überliefert. Deshalb war es für uns zentral, dies so auch in unseren Büchern zu integrieren. Auf diese Weise werden die Inhalte sehr eingänglich. Ausserdem konzentrieren wir uns als Kunstmuseum natürlich stark auf das Visuelle.
Warum habt ihr alte Bilder ausgewählt, um die Geschichten zu begleiten? Ihr hättet ja auch zeitgenössische Illustrationen verwenden oder anfertigen lassen können.
Das stand tatsächlich zur Diskussion, zumindest beim ersten Buch. Der Verlag Baobab arbeitet ja in erster Linie mit Autor:innen und Illustrator:innen der Herkunftsländer zusammen. Insofern war unser Konzept auch etwas Neues für den Verlag. Und es gibt gerade in Indien sehr viele moderne Interpretationen und Darstellungen der hinduistischen Götterwelten. Dass wir uns anders entschieden haben, hat aber vor allem mit unserer Arbeit im Museum zu tun. Wir haben zwar auch einen kleinen Teil an zeitgenössischer Kunst in unseren Sammlungen, aber eben vor allem historische Werke. Ein möglicher Zugang zu diesen Werken geht über die Geschichten, auf die sie verweisen, die hinter ihnen stehen und die erzählt werden wollen, um ein Bild oder eine Skulptur auf inhaltlicher Ebene zu verstehen. Was ist überhaupt dargestellt? Warum sehen die Gottheiten so aus, wie sie aussehen etc.? Wir wollten einen narrativen Zugang ermöglichen. Ausserdem ist es eine wunderbare Möglichkeit, diese feinen, wunderbaren Bilder bekannter zu machen. Es sind ausserordentliche Kostbarkeiten, die viele Menschen noch nie gesehen haben. Klein im Format, mit wertvollen Pigmenten bemalt und mit unheimlich vielen Details gespickt, die man nur entdeckt, wenn man sich Zeit nimmt bei der Betrachtung. Da ist die Krone aus Pfauenfedern bei Gott Krishna, die Kette aus Schlangen bei Gott Shiva, die Girlande an Menschenköpfen, die die Göttin Parvati auffädelt oder die Federzeichnung, auf der der göttliche Affe Hanuman gleich siebenmal zu finden ist. Man muss sich aber vorstellen, dass die Bilder meist gerade mal so gross sind wie ein A4-Blatt und die Köpfe der dargestellten Figuren so klein wie ein Daumennagel eines Erwachsenen! Diese Form der Kunst und des sich Vertiefens in ein Bild wollten wir eben auch vermitteln. Wir haben uns bewusst für ein Gegengewicht zu Bildwelten entschieden, wie man sie von Zeichentrickserien oder Computerspielen kennt.
Damit wären wir beim Zielpublikum …
… das sehr breit gefasst ist. Beide Publikationen richten sich an Menschen, die sich für Indien und die hinduistischen Traditionen interessieren und für Kunst. Aber vor allem wollen wir alle erreichen, die Geschichten lieben. Egal welchen Alters. Geschichten sind nicht nur für Kinder da! Bei beiden Büchern ist die Auswahl an Geschichten breit, es geht um Abenteuer, Kämpfe, Liebe, Freundschaften, Konkurrenz – es hat für alle etwas dabei.
Wir haben aber auch bewusst an die Schulen gedacht und das Fach RKE. Beide Bücher liefern Ausgangsmaterial für den Unterricht, in handlichen Portionen gewissermassen.
Wozu braucht es denn diese Geschichten, wenn man sich für Indien oder Kunst interessiert? Und vor allem: Wie können sie im Unterricht eingesetzt werden?
Während für Insider Geschichten Vertrautheit und Geborgenheit bedeuten, sind sie für Neulinge ein ausgezeichneter Zugang zu einer unbekannten Welt, unabhängig davon, ob sie sich für einen ganzen Kulturraum oder speziell für Kunst oder Religion interessieren. Mythen, Geschichten, Legenden lassen uns auf eine einmalige und unmittelbare Weise in Welten eintauchen. Welten, die einer anderen Zeit, Region und/oder Kultur angehören. Geschichten erschaffen Welten und Visionen, vermitteln Werte und Denkweisen, Emotionen und Möglichkeiten, Vorbilder und Anleitungen zum Handeln. Sie erklären und wecken Verständnis, lassen uns lernen und wachsen. Und noch so viel mehr! Geschichten sind für mich ein wunderbarer Zugang zu einer Kultur, weil sie viele Informationen über diese Kultur enthalten. Sie kommunizieren aber unmittelbar, d.h. wenn wir eine Geschichte hören oder lesen, merken wir oftmals gar nicht, wieviel wir dabei lernen!
Für die Vermittlungsarbeit in Schule und Museum ist das Nacherzählen von Geschichten deshalb in meinen Augen unerlässlich. Im Unterricht oder in Führungen im Museum habe ich schnell gemerkt, was mein Publikum nach einer Lektion oder einem Rundgang in Erinnerung geblieben ist: Es waren weder die Jahreszahlen noch die Namen der (Stil-)Epochen – es waren die Geschichten. Wie ist der hinduistische Gott Ganesha zu seinem Elefantenkopf gekommen? Weshalb wird Buddha oftmals mit so langen Ohrläppchen dargestellt? Im Grunde gehören diese Fragen alle zu Ikonographie und Stil und damit zur Frage, woran erkenne ich überhaupt die einzelnen Figuren und warum wird etwas so oder so dargestellt – in der indischen Kunst lässt sich zu fast allem eine Geschichte erzählen. Erinnert man sich an die Geschichte, erinnert man sich auch an das Bild und taucht damit ein in diese für Aussenstehende beinahe überwältigende Welt von Gottheiten, Heiligen, Lehrern und wundersamen Ereignissen, die bis heute das Leben vieler Menschen prägen und ihnen Orientierung bieten. Das Prinzip ist einfach: Gute Geschichten kann man sich merken. Das anekdotische Gedächtnis funktioniert hervorragend, daran kann man vieles «aufhängen»: Gespräche über Wertvorstellungen, Bräuche, die Entstehung der Welt, verschiedene Charaktere der Götter und Göttinnen, Feste, historische Ereignisse, Rollenmodelle usw.
Im indischen Kulturraum ist die Verbindung von Kunst und Religion sowieso sehr stark. Bis zur Moderne war ein grosser Teil der Kunst religiös geprägt. Gleichzeitig gibt es eine äusserst reichhaltige Kultur des Erzählens, die sich sowohl in der Kunst als auch in den religiösen Traditionen bemerkbar macht. Dies hat uns dazu angespornt, die Geschichten nicht nur in Unterrichts- und Ausstellungsräumen zu erzählen, sondern sie auch als Buch zu publizieren und das Erzählen auch anderen zu ermöglichen.
Wenn es so viele Geschichten gibt, wie ist die Auswahl für die beiden Bücher zustande gekommen? Das war sicherlich nicht ganz einfach, oder?
Das ist richtig. Eben, «verdammt viel Buch» … Vor allem beim ersten Buch war das eine grosse Herausforderung. Wir hatten keine genauen Vorstellungen, keine Vorgaben, keine Grundlage. Die Lücke, die wir schliessen wollten, war einfach zu gross, als dass wir das mit einem Buch geschafft hätten. Wir hatten aber grosse Unterstützung vom Verlag. Es sollten nicht nur Geschichten von Kampf oder nur von Liebe sein. Alt und Jung sollten angesprochen werden und gerade bei den Jüngeren Mädchen und Jungen. Deshalb haben wir uns für das breite Spektrum entschieden. Wir wollten auch Geschichten erzählen, die nicht so bekannt sind und in denen möglichst viele verschiedene Götter und vor allem auch Göttinnen auftreten – immerhin ist das ein wichtiges Merkmal der hinduistischen Traditionen. Dazu kam aber auch unsere Idee, die Geschichten mit unseren Kunstwerken zu begleiten. Das hat die Auswahl auch stark beeinflusst, wir mussten schauen, was wir überhaupt haben.
Beim zweiten Buch war es etwas einfacher, da der Rahmen und das Thema von der Ausstellung quasi vorgegeben waren. Die Geschichten handeln nur von einer Gottheit. Aber auch hier galt es, die Stories zu erzählen, die das Publikum schnell fesseln, zu denen wir Bilder ausstellen konnten und die sich gut erzählen lassen.
Was heisst «gut erzählen lassen»? Es gab also noch weitere Herausforderungen?
Die Länge und Komplexität der Geschichten zur hinduistischen Götterwelt sind für viele eine Wucht. Deshalb war es uns auch wichtig, solche Geschichten zu wählen, die man in sich geschlossen erzählen kann und die nicht zu lang sind. Die Erzählungen stehen meist nicht einfach für sich, sondern sind Teil von grösseren Erzählzusammenhängen, sind Episoden von langen Epen oder Anekdoten von eben solchen. Da gibt es viele Rahmenerzählungen und unzählige Figuren und immer wieder nimmt eine Geschichte Bezug auf eine andere. Es gibt viele Andeutungen und Verweise. Und dann wird die gleiche Geschichte in verschiedenen Quellen ganz unterschiedlich erzählt. Für die hinduistischen Traditionen haben wir nicht ein oder zwei massgebliche Bücher, aus denen wir die Geschichten auswählen können, sondern eben viele verschiedene, die nicht alle für alle gleichermassen wichtig sind. Da kann man schon mal leicht den Überblick verlieren.
Wie ist dann aus diesen vielen und komplexen Quellen eine Geschichte entstanden?
Entscheidend war, die Erzählweise anzupassen und sich wirklich auf den Kern der Story zu konzentrieren. Was brauche ich, um eine konsistente Geschichte zu erzählen. Welche Figuren sind wichtig, welche kann ich weglassen? Welche Namen muss ich nennen? Welche Geschehnisse und Details sind nötig? Dabei muss man zwangsläufig einiges vereinfachen, weglassen und reduzieren (Figuren, Begriffe, Verweise usw.).
Dasselbe umgekehrt: Wir haben einige Informationen und Details hinzugenommen, um unserem Publikum etwas zu helfen – das ist der Vorteil, wenn man selbst kein Insider ist: Man kann ungefähr abschätzen, was hierzulande allgemein bekannt ist und was nicht. Es braucht Informationen über Jahreszeiten, Feste, Namen, Orte ebenso wie Gerüche, Farben, Gerichte etc., damit das Geschehen lebendig wird und vor dem inneren Auge erscheinen kann.
Dazu haben wir auch die Sprache und den Erzählduktus angepasst. All dies geschah aber, ohne die Geschichte zu stark zu ändern oder «falsche» Dinge zu erzählen, die nicht zum Kulturraum, der Zeit oder dem ursprünglichen Inhalt passten. Denn die Geschichten stammen aus einer anderen Zeit und spielen in Indien, daran wollten wir nichts rütteln. Die Sprache sollte weder zu modern noch zu altmodisch sein. In allen Punkten galt es also, eine gute Balance zu finden. Es ging uns darum, zu aktualisieren, ohne zu vereinnahmen oder zu verfälschen. Wir wollten verständlich machen, ohne eine falsche Vertrautheit zu suggerieren. Es war nie unser Ziel, Übersetzungen anfertigen, wir hatten aber trotzdem den Anspruch, ganz nah am Original zu bleiben. Oder vielleicht muss ich auch sagen, an einem Original.
Denn wir müssen auch sagen: Die Geschichten, wie wir sie hier erzählen, sind jeweils eine Variante. Es gibt noch viele weitere Varianten und das ist okay so. Wir erheben also keinen Anspruch darauf, dass diese Geschichte nicht auch anders erzählt werden kann – das ist übrigens ein wichtiger Punkt für den Unterricht: Es kann gut sein, dass jemand in der Klasse die Geschichte anders kennt. Davor darf man keine Angst haben!
Du hattest angetönt, es könnte noch weitere Publikationen geben …
Das fände ich grossartig! Es muss für mich nicht einmal ein drittes Buch sein zu hinduistischen Gottheiten, auch buddhistische Geschichten wären toll oder, nennen wir es mal vorsichtig, «religiös unabhängige». Oder nicht mal Indien. Es hat enorm Spass gemacht, diese Bücher zu schreiben. Zum Glück hatte ich in beiden Projekten professionelle Unterstützung, beim ersten mit meiner Kollegin Penelope sowie Sonja Matheson vom Verlag Baobab und beim zweiten von der Zürcher Autorin Katja Alves – sie haben viel dazu beigetragen, dass aus den Texten wirkliche Erzählungen wurden. Erzähltexte haben schliesslich einen ganz anderen Anspruch als wissenschaftliche Texte oder solche für eine Ausstellung. Da habe ich sehr viel gelernt und es hat mich unglaublich motiviert. Und deshalb: Egal in welcher Form, ich werde weiterhin Geschichten erzählen!