Die Philo-Kinder
Ein Lehrmittel für das Philosophieren in Zyklus 1 (Kindergarten und Unterstufe)
Sophia Bietenhard und Petra Bleisch ist es zu verdanken, dass das ursprünglich französischsprachige Lehrmittel «Les Zophes. Dix grandes questions pour construire une réflexion éthique» von Christine Fawer Caputo und Samuel Heinzen nun auch in einer deutschsprachigen auf den Lehrplan 21 ausgerichteten Adaption erschienen ist. Damit liegt erstmals ein Lehrmittel vor, mit dessen Hilfe Schülerinnen und Schüler des gesamten Zyklus 1 (Kindergarten und Unterstufe) kompetenzorientiert in das Philosophieren eingeführt werden können.
Materialaufwendige Gestaltung
Das Lehrmittel «Die Philo-Kinder» ist aufwendig gestaltet: Es besteht aus einem Plastikkoffer, in dem sich zehn grossformatige Wimmelbilder (etwas grösser als A1-Format) und ein weiterer Plastikkoffer befinden. In diesem sind vier Piktogramme zu Regeln für philosophische Gespräche und acht Bilder der «Philo-Kinder» im A4-Format sowie eine kurze Broschüre zum Lehrmittel enthalten. In der Broschüre findet sich ein Code für den Zugang zum digitalen Kommentar auf der Website www.philo-kinder.ch.[1] Zusätzlich kann zur räumlichen und atmosphärischen Gestaltung der philosophischen Gespräche eine runde Plastikmatte von 2 m Durchmesser erworben werden, auf deren Rand die acht «Philo-Kinder» mehrfach abgebildet sind. Dementsprechend ist der Preis des Lehrmittels ebenso hoch wie sein Platzbedarf.
«Grosse Fragen» als Ausgangspunkt
Das Lehrmittel geht von zehn sozialen, existentiellen und ethischen Themengebieten aus:
- «Freundschaft»
- «Wut»
- «Vielfalt»
- «Freude»
- «Gemeinheit»
- «Tod»
- «Erlaubt / nicht erlaubt»
- «Angst»
- «Geheimnisse»
- «Wahrheit»
Zu diesen Themen wird jeweils eine «grosse Frage» formuliert:
- «Was ist Freundschaft?»
- «Wieso werden wir wütend?»
- «Worin unterscheiden wir uns?»
- «Was macht uns glücklich?»
- «Wieso sind manche Menschen gemein?»
- «Was ist der Tod?»
- «Kann ich immer machen, was ich will?»
- «Was macht uns Angst?»
- «Wieso haben wir Geheimnisse?»
- «Müssen wir immer die Wahrheit sagen?»
Zur Bearbeitung dieser Fragen und damit als Ausgangspunkt für philosophische Gespräche stehen jeweils zwei Angebote zur Verfügung: ein grosses Bild und die im digitalen Kommentar enthaltene «Philo-Geschichte» rund um die «Philo-Kinder».
Die einzelnen Themen stehen unverbunden nebeneinander und können in freier Abfolge bearbeitet werden. Wie bei allen Lehrmitteln zu einzelnen Perspektiven des Fachbereiches «Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG) stehen auch hier die Lehrpersonen vor der Herausforderung, die im Lehrmittel vorgeschlagenen «grossen Fragen» mit Fragestellungen der anderen Perspektiven oder mit aktuell in der Klasse auftretenden Situationen zu verknüpfen.[2]
Lebensweltbezug durch Bilder
Die Orte, an denen die Szenen auf den Bildern lokalisiert sind, zeigen deutlich auf, dass die zehn «grossen Fragen» in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler des Zyklus 1 präsent sind: Spielplatz, Klassenzimmer, Schwimmbad, Geburtstagstisch, vor dem Schulhaus, Grab eines Tieres/Friedhof, Pausenplatz. Innerhalb der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler wird für das Lehrmittel jedoch eine strikte Auswahl getroffen: Alle abgebildeten Orte sind – mit Ausnahme des Bettes auf dem Bild zum Thema «Angst» – öffentlich, der private Raum wird zum Schutz der Privatsphäre bewusst ausgespart.[3] Vermutlich aus demselben Grund sind auch nur wenige Erwachsene auf den Bildern abgebildet. Die Erwachsenen, die zu sehen sind und mit Kindern interagieren, sind wahrscheinlich zumeist die Lehrpersonen und nicht die Eltern der Kinder.
In den Anmerkungen zur freien Meinungsäusserung und zum Schutz der Privatsphäre im digitalen Kommentar wird rigoros festgehalten: «Die Lehrperson darf weder direkte Fragen stellen noch Informationen einfordern zu Angelegenheiten oder Äusserungen, die sich auf das Zuhause oder die Privatsphäre der Schülerinnen und Schüler beziehen. Sollte eine Schülerin oder ein Schüler eine solche Information von sich aus äussern, weist die Lehrperson das Kind darauf hin, beim aktuellen Thema zu bleiben, und erinnert es wenn nötig an seine Pflicht, sein Privatleben zu schützen.» Während das Einfordern von Aussagen zum eigenen Zuhause auch nach Meinung der Rezensentin zu vermeiden ist, lässt sich über den pädagogisch und inhaltlich angemessenen Umgang mit nicht-eingeforderten Aussagen der Schülerinnen und Schüler, die Einblick in ihre Privatsphäre geben, trefflich streiten. Warum gehören familiäre und private Erfahrungen grundsätzlich nicht zum Thema? Zeigt sich nicht gerade im respektvollen Umgang auch mit solchen Aussagen und mit der darin möglicherweise erkennbaren Vielfalt, dass die Schülerinnen und Schüler über die im Fachbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» und in diesem Lehrmittel angestrebten fachlichen und überfachlichen Kompetenzen verfügen? Und wo kann ein solcher respektvoller Umgang mit jeglicher Vielfalt besser geübt werden als in der Volksschule, wo Schülerinnen und Schüler mit verschiedensten sozio-ökonomischen, kulturellen und religiösen Hintergründen zusammenkommen und beim Entdecken unterschiedlicher Lebenswelten von kompetenten Lehrpersonen begleitet werden?
Während sieben Bilder eine einzige geschlossene Szene zeigen, werden für die Themen «Angst» und «Geheimnis» eine Zusammenstellung von fünf bzw. drei Einzelszenen und für das Thema «Wahrheit» zwei zeitlich aufeinanderfolgende Szenen präsentiert. Teilweise falsche Erwartungen weckt deshalb der im digitalen Kommentar verwendete Begriff «Wimmelbild»: Es handelt sich nicht durchgängig um grossflächige Bilder, die aus einer Vielzahl von Szenen zusammengesetzt sind und zu einem langen Betrachten und zum Entdecken einer Fülle von interessanten Details einladen. Die Bilder des Lehrmittels «Die Philo-Kinder» sind ganz auf das jeweils intendierte Themen hin konzipiert, weitere Aspekt, die an den abgebildeten Orten ebenfalls präsent und aus philosophischer oder ethischer Perspektive interessant sind, werden im Sinne einer Fokussierung ausgespart.[4] Das grosse Format der Bilder dient vor allem der Sichtbarkeit in einem Kreisgespräch. Für dieses Gespräch finden Lehrpersonen im digitalen Kommentar Anregungen, die das Gespräch von der Beschreibung des Bildes zum philosophischen Nachdenken führen: zunächst «einfache beschreibende Fragen», dann «Fragen, die dazu anregen, Standpunkte einzunehmen und Vorlieben auszudrücken», und schliesslich «weiterführende Fragen».
Geschichten mit Identifikationsfiguren
Bei den dem Lehrmittel den Titel gebenden «Philo-Kinder» handelt es sich um vier Mädchen und vier Jungen, welche den Schülerinnen und Schülern in den «Philo-Geschichten» begegnen. Sie tragen die Namen Ella Ernsthaft, Fanny Fröhlich, Linus Lieb, Nino Neugier, Pippa Pfiffig, Ronny Ruhig, Timo Träumer und Wanja Wild. Wie bei sämtlichen Figuren auf den Bildern sind auch bei ihnen die Augen und Ohren besonders gross, um die Bedeutung der genauen Wahrnehmung und des aufmerksamen Zuhörens für das Philosophieren zu betonen. Anlass zu kritischen Nachfragen gibt, dass ausgerechnet die im wahrsten Sinne des Wortes aus der Reihe hüpfende Fanny Fröhlich eine person of colour ist und dass ausgerechnet Wanja Wild rote Haare hat.
Der Nachname der «Philo-Kinder» ist ein Hinweis auf ihr typisches Verhalten, das in den «Philo-Geschichten» mehrfach beschrieben wird. Einerseits werden mit den acht «Philo-Kindern» den Schülerinnen und Schülern unterschiedliche Identifikationsfiguren angeboten, in deren Verhalten sie sich selbst wiederfinden oder mit deren Hilfe sie einen Perspektivenwechsel vollziehen können. Andererseits birgt die namentliche Festschreibung auf ein Verhaltensmuster die Gefahr, dass übersehen wird, dass die «Philo-Kinder» in den «Philo-Geschichten» je nach Situation mal mutig und mal ängstlich, mal fröhlich und mal traurig sind. Hier ist grosse Aufmerksamkeit der Lehrperson erforderlich, damit die Schülerinnen und Schüler die «Philo-Kinder» und damit auch sich selbst als vielfältige und entwicklungsfähige Personen wahrnehmen, deren Gefühle und Verhalten nicht immer schon vorhersehbar sind.
Gerade für Schülerinnen und Schüler in Zyklus 1 sind Geschichten ein bewährtes Medium, um ein philosophisches Gespräch anzuregen. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder wird eine Geschichte eigens für den Unterricht auf eine philosophische Frage hin verfasst oder es wird stufengerechte vorliegende Literatur eingesetzt, um darin philosophische Fragen zu entdecken. Beide Varianten finden sich im Lehrmittel «Die Philo-Kinder», allerdings mit einer klaren Priorität die erstgenannte Variante: Die zu jeder «grossen Frage» gebotenen «Philo-Geschichten» sind funktionale Texte mit wiederkehrendem Figureninventar, die allerdings insbesondere für den Kindergarten eine sprachliche Herausforderung darstellen. Auch inhaltlich sind nicht alle Aussagen stufengerecht, so antwortet etwa Pippa Pfiffig in der Geschichte zum Thema «Freundschaft» auf eine Freundschaftsanfrage: «Du, das geht nicht so einfach. Zuerst müssen wir uns kennen lernen. Dann muss ich dir wirklich vertrauen können und wir müssen darüber reden, was wir beide gerne haben und was wir beide nicht mögen. Dann können wir Kollege und Kollegin und nach einer Zeit dann auch befreundet sein. Ich kann nicht sofort ja sagen.» Zu jeder der zehn «Philo-Geschichten» werden im digitalen Kommentar für das philosophische Gespräch mehrere «weiterführende Impulse» einschliesslich «einleitender Frage» und «Diskussionsfragen» geboten.
Als Ergänzung zu den wortlastigen «Philo-Geschichten» werden in der Rubrik «zusätzliche Materialen» des digitalen Kommentars mit wenigen Stichworten Bilderbücher vorgestellt, die zur Einführung oder Vertiefung eines Themas eingesetzt werden können. Gerade Lehrpersonen im Kindergarten werden um diese Hinweise froh sein.
Klar erkennbare Kompetenzorientierung
Der klar erkennbare Fokus auf strukturierte Gespräche und die vier Piktogramme zu den Gesprächsregeln «Zuhören!» (abgebildet ist ein Ohr), «Andere zu Wort kommen lassen!» (abgebildet ist eine Sprechblase), «Beim Thema bleiben!» (abgebildet sind drei Pfeile, die auf eine Mitte weisen) und «Beiträge zur Diskussion liefern!» (abgebildet ist eine Glühbirne) zeigen, dass die Bearbeitung der «grossen Fragen» dem Aufbau von fachlichen und überfachlichen sozialen Kompetenzen des Lehrplans 21 dient: Die Schülerinnen und Schüler lernen nicht nur zu argumentieren, Begriffe zu definieren, zu unterscheiden und zu verknüpfen, sondern auch einander zuzuhören, Regeln einzuhalten und andere Meinungen zu respektieren. Anhand der Piktogramme können die philosophischen Gespräche in stufengerechter Form angeleitet und evaluiert werden: Haben wir einander zugehört? Sind verschiedene Kinder zu Wort gekommen, durften sie ausreden? Sind wir bei der Sache geblieben? Haben wir etwas Neues gelernt, sind wir auf neue Ideen gekommen? In der Einleitung des digitalen Kommentars wird vorgeschlagen, als weiteres Hilfsmittel zur Evaluierung der geführten Gespräche die Leitern auf der Matte einzusetzen.
Das Lehrmittel «Die Philo-Kinder» enthält also zahlreiche Anregungen, dass die Schülerinnen und Schüler das im Lehrplan 21 in der Kompetenz NMG 11.2 beschriebene «Nachdenken» über philosophische Fragen intensiv üben und methodisch reflektieren. Das in NMG 11.2 ebenso genannte «Stellen» von philosophischen Fragen wird hingegen gemäss den Unterrichtsvorschlägen im digitalen Kommentar nahezu ausschliesslich der Lehrperson überlassen. Hier wäre es wünschenswert, auch die Förderung der Fragekompetenz deutlicher in den Blick zu nehmen und als Unterrichtsziel zu benennen.
Fazit
Das Lehrmittel «Die Philo-Kinder» setzt weitgehend um, was der Lehrplan 21 beschreibt und fordert: Die philosophische und ethische Perspektive ist unverzichtbar für eine Erschliessung der eigenen Lebenswelt. Philosophieren soll und kann im gesamten Zyklus 1 mit viel Freude und grossem Gewinn umgesetzt werden. Die Arbeit mit dem Lehrmittel fördert nicht nur die in NMG 11 genannten fachlichen Kompetenzen, sondern leistet auch einen gewichtigen Beitrag zu den überfachlichen Kompetenzen.
Das Lehrmittel «Die Philo-Kinder» zeigt die Chancen, aber auch die möglichen «Stolpersteine» des philosophischen Gesprächs, die sich aus der Wechselwirkung mit den sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler ergeben, in aller Deutlichkeit auf: Im besten Fall stärkt das gemeinsame philosophische Gespräch die sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler, da sich ihr Wortschatz durch das Differenzieren von Begriffen erweitert und das Argumentieren intensiv geübt wird. Im schlechtesten Fall sind Schülerinnen und Schüler, die über geringe sprachliche Kompetenzen verfügen, vom gemeinsamen Nachdenken nahezu ausgeschlossen.
Gerade in Kindergarten und Unterstufe stellt sich deshalb neben der systematischen Einführung und Einübung des philosophischen Gesprächs unbedingt die Frage, ob es auch alternative Formen des Philosophierens gibt: Muss und kann es immer ein philosophisches Gespräch sein? Welche anderen Formen des Philosophierens können im Unterricht eingesetzt werden, die für alle und nicht nur für sprachlich schwächere Schülerinnen und Schüler eine willkommene Abwechslung darstellen und die ganzheitliche und kreative Bearbeitung von philosophischen Fragen fördern? Wie kann mittels Zeichnungen, dreidimensionaler gestalterischer Aufgaben, Rollenspielen u. ä. philosophiert werden? Hier liegt nicht nur für Lehrpersonen, die das Lehrmittel «Die Philo-Kinder» einsetzen, sondern grundsätzlich für die Aus- und Weiterbildung im Fachbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» eine der grössten Herausforderungen – und das nicht nur im Blick auf den Zyklus 1, sondern im Blick auf alle Zyklen.