Rassistische Diskriminierung als Unterrichtsthema in der Primarschule
Konzepte, Chancen und Herausforderungen
1. Aktualität und Problematik
Schüler:innen erleben Rassismus in ihrem Alltag auf dem Pausenplatz oder im Unterricht, durch Mitschüler:innen oder gar Lehrpersonen. Kinder mit Migrationshintergrund, mit dunkler Hautfarbe, muslimische und jüdische Kinder sind davon betroffen. Soziolog:innen stellen einen stetigen Anstieg von Diskriminierungen, insbesondere in den letzten zwei Jahren im Bildungsbereich und bei Jugendlichen fest (Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR, 2024; Sonntagszeitung, 21.7.2024). Aktuell hat etwa das von der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel verübte Massaker und der darauffolgende Gaza-Krieg zu einer bedenklichen Häufung antisemitischer Äusserungen an Schulen geführt und bildungspolitische Forderungen nach vermehrter Aufmerksamkeit auf rassistische Diskriminierung allgemein an Schulen nach sich gezogen (Tages Anzeiger Online, 9.3.2024).
Dass die Schule Rassismus bekämpfen muss, ist eine Selbstverständlichkeit, und zwar sowohl den Alltagsrassismus zwischen Kindern und Jugendlichen als auch den institutionellen und strukturellen Rassismus. Sie ist rechtlich dem Diskriminierungsschutz verpflichtet (Artikel 8 der Schweizer Bundesverfassung) sowie den Kinderrechten. Rassismus ist eine Bedrohung für die Demokratie und Ursache für (Bildungs-) Ungerechtigkeit und Menschenwürdeverletzungen. Die Schule kann überdies Vorbild sein und gesellschaftliche Entwicklungen in Richtung sozialer Nachhaltigkeit mitbeeinflussen (El-Maawi, 2022). Schliesslich ist es für Kinder mit Diskriminierungserfahrungen essenziell, dass ihre Situation in der Schule wahrgenommen und als gesellschaftliches Problem betrachtet wird und Betroffene geschützt werden (ebd. 57).
Schulen nehmen das Thema ernst und gehen mittels pädagogischer Interventionen gegen Diskriminierung und Mobbing vor. Jedoch wird rassistische Diskriminierung, insbesondere an Primarschulen selten als Unterrichtsthema aufgegriffen. Erstaunlich ist auch, dass der Begriff im Deutschschweizer Lehrplan (Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz [D-EDK], 2014) nicht vorkommt. Der Lehrplan bevorzugt es, auf Rassismusprophylaxe zu setzen und damit auf das Bildungsziel des «gegenseitigen Respekts im Zusammenleben mit anderen Menschen insbesondere bezüglich Kulturen, Religionen und Lebensformen».
Im Vergleich zu den EU-Ländern hat Antirassistische Bildung in der Schweiz tatsächlich einen schweren Stand (Scherrer/Ziegler, 2016). Der Grund könnte in der späten Aufarbeitung der Rolle der Schweiz beim Kolonialismus und der Sklaverei liegen. Lange hat man sich in der Schweiz auf die Position zurückgezogen, man hätte keine koloniale Vergangenheit gehabt. Ähnliche Argumente wurden bereits bei der Aufarbeitung des Holocausts vorgebracht. Erhebungen orten zudem ein Unvermögen, Rassismus als solchen zu erkennen und zu gewichten (vgl. Bernstein, 2020; die Situation dürfte in der Schweiz ähnlich sein). Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Unvermögen mit dem Bedürfnis in der Gesellschaft zusammenhängt, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten (Rommelspacher, 2011). Prononciert zeigt sich diese Position in der Aussage einer Lehrperson, die sagt, «Ich sehe keine Hautfarben. Für mich sind alle Menschen gleich» (Fajembola, 2021, 70). Die Diskussion möglicher Massnahmen zur Sensibilisierung von angehenden Lehrpersonen kann jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags sein und wird für die fachdidaktische Bearbeitung des Themas mit Lernenden vorausgesetzt.
Dieser Beitrag untersucht einerseits Möglichkeiten, das Thema rassistische Diskriminierung mit Primarschulkindern mit den Methoden des Philosophierens mit Kindern und der ethischen Urteilsbildung zu behandeln und andererseits die Herausforderungen und Grenzen des Unterrichtsthemas hervorzuheben.
Obwohl es gewinnbringend ist, beim Thema Diskriminierungen auch Frauen, Angehörige der LGBTQ-Community und andere einzubeziehen, wollen wir hier exemplarisch die rassistische Diskriminierung in den Blick nehmen. Viele, wenn auch nicht alle Methoden, Chancen und Herausforderungen lassen sich auf weitere Diskriminierungsformen übertragen.
2. Altersspezifischer Kontext Primarschule
Kinder bewegen sich in den meisten Volksschulen in einem kulturell diversen Umfeld. Der kulturellen Vielfalt begegnen Kinder nicht neutral. Durch Bezugspersonen erfahren sie von Anfang an explizit oder implizit, welche Merkmale von Menschen als positiv und erstrebenswert gelten und welche negativ oder abzulehnen sind (vgl. Wagner 2017). Gemäss Studien nehmen sie kulturelle Unterschiede wie Sprache, Essgewohnheiten und Feste bereits sehr früh wahr, übernehmen die damit verbundenen gesellschaftlichen Bewertungen und setzen diese auch gezielt ein, um bestimmte Ziele – z.B. Ausgrenzungen oder Kränkungen – zu erreichen und zu legitimieren (vgl. Diehm & Kuhn, 2011). Jüngere Kinder tun dies, ohne die in der Gesellschaft tradierten dahinterliegenden Stereotypen und Vorurteile über Ethnien zu kennen1. Die Abwertung von Kindern, denen pauschal eine Mitgliedschaft in einer sozialen oder ethnischen Gruppe zugeschrieben wird, kann trotzdem als Diskriminierung aufgrund von Vorurteilen bezeichnet werden. Für manche Kinder mit Diskriminierungserfahrungen wird beobachtet, dass sie sich die Bewertung der Mehrheitsgesellschaft aneignen und sich selbst abwerten (El-Maavi, 2022, 75).
In Klassenchats an Schweizer Primarschulen (insbesondere der 5. und 6. Klasse) ist eine Häufung von Fällen mit rassistischen Äusserungen zu beobachten (Zahn, 2019). Diese richten sich nicht immer gezielt gegen einzelne Mitschüler:innen. Oft geht es um die Verwendung von Bildern oder Sprüchen, welche andere Ethnien bewusst ungünstig darstellen. Extreme Inhalte erhalten besonders viel Aufmerksamkeit. Besonders häufig sind erniedrigende Aussagen über Schwarze Menschen. Wenn sich betroffene Schüler:innen nicht wehren, um sich nicht zu exponieren, schliessen Mitschüler:innen daraus, dass an solchen Äusserungen nichts Falsches ist (20 Minuten, 30.12.2019). Wenn Eltern oder Lehrpersonen beschwichtigend reagieren und Herabsetzungen als harmlose Provokationen taxieren, so führt dies zu einer Perpetuierung von Diskriminierung (Zahn, 2019). Rassistische und andere Diskriminierung von Mitschüler:innen sollten von der Lehrperson sofort eingedämmt und die betroffenen Schüler:innen geschützt werden. Sich der psychologischen Folgen von Rassismuserfahrungen bewusst zu werden, wonach Kinder Scham, Wut, Resignation gegenüber dem Wunsch dazuzugehören und Rückzug, Selbstzweifel oder Minderwertigkeitgefühle empfinden können, hilft zu verstehen, dass es sich nicht um eine Bagatelle handelt (Madubuko, 2021, 134). Es ist daher gerechtfertigt bereits mit Kindern über Rassismus zu sprechen. Wie im rassismuskritischen Ansatz postuliert, ist Rassismus zudem ein Strukturierungsmerkmal unserer Gesellschaft, was erfordert, dass Kinder und Jugendliche (und auch Erwachsene) rassismusrelevantes Wissen fortwährend reflektieren, um dieses immer wieder von Neuem zu dekonstruieren (Mecheril/Melter, 2009).
3. Diskussion relevanter Begriffe
In der Auseinandersetzung mit Rassismus gilt es, sich über die verwendeten Begriffe Klarheit zu verschaffen. Hier sollen Begriffe rassistische Diskriminierung, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit so weit geklärt werden, wie sie für die Arbeit mit Lernenden relevant sind. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff Rassismus sei auf die einschlägige Literatur verwiesen2. Hier steht nicht Rassismus als Ideologie im Fokus, sondern die sichtbare Handlung, also rassistische Diskriminierung.
Als rassistische Diskriminierung gilt «jede Praxis, die Menschen aufgrund physiognomischer Merkmale und/oder ethnischer Herkunft und/oder kultureller Merkmale (…) und/oder religiöser Zugehörigkeit Rechte vorenthält, sie ungerecht oder intolerant behandelt, demütigt, beleidigt, bedroht oder an Leib und Leben gefährdet.» (Fachstelle für Rassismusbekämpfung, 2024). Rassismus schliesst im heutigen Sprachgebrauch also nicht nur Zuschreibungen aufgrund von Hautfarbe ein, sondern auch aufgrund von kultureller Zugehörigkeit. Die Abwertung erfolgt oft aufgrund von stereotypen Zuschreibungen und Vorurteilen. Muslimfeindlichkeit zum Beispiel bezeichnet Vorstellungen, wonach Muslime eine homogene Gemeinschaft bilden, die gläubig, patriarchalisch, frauenfeindlich und fundamentalistisch seien (Tangram 44).
Diese Definition wird noch dahingehend ergänzt, dass die Hierarchisierung und Abwertung von den Verursachenden vorgenommen wird, um daraus Nutzen zu ziehen. Sie dient der ausschliessenden Gruppe zur Hebung des eigenen Selbstbewusstseins oder der Erlangung tatsächlicher Privilegien (Memmi, 1994). Rassismus ist also auf der Seite der Verursachenden mit Privilegien verbunden.
Aus der Definition folgt weiter die wichtige Erkenntnis, dass Diskriminierung nicht nur als Handlung zu verstehen ist, durch die den Diskriminierten aufgrund ihrer Andersartigkeit Leistungen verweigert werden, sondern auch als verbale Herabsetzung, d.h. Hassrede. Schwarze Kinder zum Beispiel erfahren aufgrund ihrer Hautfarbe einerseits Ausgrenzung oder werden auf Pausenplätzen und Spielplätzen als «M-Kopf» oder «Kaki» rassistisch beschimpft (Tangram 44). Ein Junge erzählt: «In der Primarschule war es so, dass ich der dunkelhäutigste war – und ich brauchte Hilfe wegen Aggessionen. Dann sagten sie so Sachen, dass man als Dunkelhäutiger behindert sei oder so. Aber nach einer Weile hat es aufgehört, weil ich auch meine Aggressionsprobleme in den Griff bekommen habe» (Hausegger, 2021, 75). Verletzende Sprache ist eine (Sprech-)Handlung und damit eine Form von Gewalt (Tiedemann, 2020). Oftmals jedoch sind Ausgrenzung und verbale Verletzung subtil und für Aussenstehende kaum wahrnehmbar. Betroffene bezeichnen sie als Mikroaggressionen (Hausegger, 2021). Ein Blick kann genügen, was im folgenden Beispiel veranschaulicht werden soll. «Ich schickte meinen Sohn zum Coop, um etwas einzukaufen. Als er heimkam, sagte er, es sei was ganz Komisches passiert, vor ihm an der Kasse habe sich eine alte Dame zu ihm umgedreht und als sie ihn erblickte, habe sie die Handtasche ganz nahe an ihren Körper gepresst… Mein Sohn meinte, er habe in ihren Augen ganz klar die Angst vor ihm gesehen… Als ob er ihr was antun würde. Er war zu diesem Zeitpunkt 14! Er war total verstört…[…].» (Institut Neue Schweiz INES, o.D.)
Antisemitismus hat vielfältige Ausdrucksformen, die auch Kinder bereits kennen. An Primarschulen kursieren Hitlergruss und Hitlerwitze, die Bezeichnung «Jude» als Schimpfwort und Israelhass (siehe auch Willareth, 2020, 92). Die Frage im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg, welche unter Primarschüler:innen im Umlauf ist, «für wen bist du, für die Palästinenser oder die Juden» stellt eine Stereotypisierung dar, von der es zur Anschuldigung, «ihr Juden tötet palästinensische Kinder» nicht mehr weit ist (mündliche Übermittlung aus dem Schulfeld, 2.2.2024). Manchmal werden herabsetzende Begriffe unbewusst verwendet oder ohne Teilnahme von jüdischen bzw. anderen rassifizierten Menschen im Raum. Trotzdem handelt es sich um rassistische Äusserungen. In einem erweiterten Sinne sind sie eben doch davon betroffen, weil die abwertenden Begriffe durch den Gebrauch in der Kultur weiter tradiert werden, also z.B. Antisemitismus weiterhin nähren und soziale oder kulturelle Überlegenheit zur Schau stellen.
Wir empfehlen, verschiedene Formen rassistischer Diskriminierung im Unterricht gemeinsam zu thematisieren, auch zusammen mit anderen Diskriminierungsformen wie Klassismus, Sexismus und Homophobie, ohne jedoch das Unterrichtsthema zu überfrachten. Durch die Ausweitung des Themas wird der Lebensweltbezug aller Schüler:innen noch einmal verstärkt, sei es als Betroffene, als Verursachende oder Bezeugende. Dazu wird auch klargemacht, dass keine Wertung von einzelnen Diskriminierungsformen vorgenommen wird (vgl. Lutz, 2022, 70). Für von Rassismus betroffene Schüler:innen besteht die Gefahr einer Selbst-Essentialisierung, d.h. sich nur noch als Teil einer Opfergruppe zu sehen. Tatsache ist, dass selbst von (rassistischer) Diskriminierung betroffene Menschen nicht davor gefeit sind, andere zu diskriminieren. Die Auseinandersetzung mit mehreren Diskriminierungsformen und das gemeinsame Entwickeln von Handlungsoptionen, um Rassismus oder Diskriminierung zu bekämpfen, verhindern Opfer- und Täterzuschreibungen.
4. Aufbau von Kompetenzen: Rassismus erkennen, Handlungsoptionen entwickeln, über Rassismus nachdenken
4.1. Diversitätssensible Bildung
Jedes Schulhaus verankert in seinem Leitbild Respekt und Toleranz gegenüber anderen. Der respektvolle Umgang gehört zu den zentralsten überfachlichen Kompetenzen, welche vom Kindergarten an eingeübt werden. Ideal wäre es allerdings, wenn die Schulen über ein Leitbild verfügen würden, welches Rassismus explizit anspricht (El-Maawi, 2024, 91). Fächer wie Religionskunde, politische Bildung und Ethik erlauben es, explizit und fachbezogen Diversitäts- und Diskriminierungssensibilität zu fördern.
Das Fach Religionskunde schärft Kompetenzen im Umgang mit kultureller Vielfalt. Unterstufen-Schüler:innen lernen beispielsweise im religionskundlichen Unterricht kulturelle Vielfalt in Form der Erkundung von Vornamen, von Essgewohnheiten oder Festen in den Religionen kennen. In Erkundungen und in Begegnungen mit Menschen zeigen Schüler:innen Interesse und Respekt für die Lebensweise anderer. Sie lernen unterschiedliche Formen gelebter Religion kennen und vermeiden es, religiöse Praxen zu essentialisieren und Menschen zu stereotypisieren. Die Religionszugehörigkeit der Mitschüler:innen wird von der Lehrperson nicht zum Thema gemacht. Dies ermöglicht allen Schüler:innen, ihre Privatsphäre zu wahren, oder aber selbst zu entscheiden, sich mit eigenen Erfahrungen einzubringen. Ein solcher Unterricht vermittelt Inhalte und Fähigkeiten, welche nicht dem «dominanten Wissen der Mehrheitsgesellschaft» entsprechen und gegen Auslassungen im kulturellen Narrativ im Sinne des rassismuskritischen Ansatzes vorgehen (Mecheril/Melter 2009, 15).
Im Fach Deutsch können diversitätssensible Klassenlektüren dieses Ziel verfolgen. Sie zeigen, dass alle Kinder, ungeachtet von Hautfarbe und kultureller Zugehörigkeit, Held:innen sein können. Die Buchheldin Yeshi3 etwa, ist ein Scheidungskind und Schwarz und besteht in mehreren Bänden zahlreiche Abenteuer. Die Anerkennung der Minderheitenkulturen im Religionskunde-Unterricht und in Klassenlektüren mit kulturell diversen Protagonist:innen stärken Kinder in ihrem Selbstbewusstsein und schaffen Respekt (vgl. auch Abschnitt 5.3. Empowerment).
Im Rahmen von philosophischen bzw. sokratischen Gesprächen können schon junge Schüler:innen gewinnbringend über das Zusammenleben in einer Gemeinschaft reflektieren und so an Diversitätssensibilität arbeiten (Methode des philosophischen Gesprächs, siehe Martens, 2003). Geeignete Themen und Fragen, die auch für ältere Lernende interessant sein können, sind: Sind alle Menschen gleich oder verschieden? Können Worte verletzen? Was ist normal? Dazugehören – ausgeschlossen sein. Bilderbuchgeschichten bieten sich als einfühlsame und altersgerechte Einstiegs-Impulse an4.
4.2. Rassistische Diskriminierung im engeren Sinne als Unterrichtsthema
Ab Mittelstufe, d.h. ca. 4. Klasse können Kinder rassistische Diskriminierung in ihrer gesellschaftlichen Dimension erfassen. Wir schlagen einen Aufbau nach dem Dreischritt Rassismus erkennen – Handlungsoptionen entwickeln – Über Rassismus nachdenken vor. Ein möglicher Anknüpfungspunkt ergibt sich über die Behandlung der Kinderrechte im Sachunterricht. Grundlegend ist es, dass Schülerinnen und Schüler wahre Berichte über Kinder, die Diskriminierung erfahren haben, hören, sich in sie hineinfühlen und so lernen, Rassismus zu erkennen und zu dekonstruieren (Feredooni, 2022). Dabei ist es unerlässlich, dass sich die Lernenden Begriffe wie Rassismus, Diskriminierung, Vorurteil und Stereotyp erarbeiten. Voraussetzung für das Erkennen von rassistischer Diskriminierung ist die Solidaritätsfähigkeit oder das Einfühlen in die persönliche Lage anderer Kinder. Wenn ein Fall von rassistischer Diskriminierung von den Mitschüler:innen als Ungerechtigkeit und Verletzung erkannt wird, ist es möglich, gemeinsam über eine Verbesserung der Situation nachzudenken.
Der zweite Lernfokus liegt in der Folge auf dem Entwickeln von Lösungen und Handlungsoptionen, rassistische Diskriminierung als Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Auf der einen Seite heisst dies, betroffene Schüler:innen zu befähigen, für sich einzustehen. Eine dahingehende Kompetenz fehlt im Deutschschweizer Lehrplan. Sie müsste bei den überfachlichen Kompetenzen verortet sein und könnte lauten: «Die Schülerinnen und Schüler zeigen Handlungsfähigkeit, um sich allein oder mit anderen gegen Vorurteile und/oder diskriminierende Handlungen zur Wehr zu setzen» (Derman-Sparks, 2010, 6). Auf der anderen Seite ist der Schutz der Menschenrechte eine Verantwortung aller. Für nicht selbst betroffene Schüler:innen heisst dies, Zivilcourage zu zeigen. Kinder haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, an diesen lässt sich beim Ausarbeiten von Handlungsoptionen anknüpfen.
Mit dem Nachdenken über folgende Fragen können Schüler:innen sich selbst und andere stärken:
Wie kann ich auf Diskriminierungen reagieren, die mir widerfahren? Was empfehlen mir meine Freunde? Aufbauend auf einem positiven Selbstwert sollten Kinder mit Ressourcen ausgestattet werden, die sie zur «Gegenwehr, zur kritischen Distanz ausgrenzender Erfahrungen und zur Abkehr der Opferrolle bemächtigen» (Vielfalt erleben, o.D. 61).
Wie kann ich reagieren, wenn ich Zeuge oder Zeugin davon werde, wie meine Freundin oder mein Freund diskriminiert wird? Diese Fragen zielen ab auf Zivilcourage und erfordern eine besonders sorgfältige Bearbeitung. Widerstand gegen Ungerechtigkeit anzumelden und in Konflikte einzugreifen, erfordert nicht nur eine gute Analyse der Situation, sondern auch Mut und die Bereitschaft, persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen.
Welchen Plan haben wir als Klasse oder Schule, um auf rassistische Diskriminierung zu reagieren? Diese Übung zielt darauf ab, Rassismus nicht nur (aber auch) interpersonal zu verstehen, sondern ältere Lernende dazu anzuregen, Rassismus als gesellschaftliches Problem wahrzunehmen.
Zur Auseinandersetzung mit Vorfällen gehört auch, über Motive für Diskriminierung nachzudenken. Wann, wie und weshalb werden Menschen zu anderen gemacht? Welche Konsequenzen hat dies für sie, für andere und die Gesellschaft? Ist Ungleichbehandlung immer Diskriminierung? Nicht immer ist es einfach zu unterscheiden, wann es angezeigt ist, einzuschreiten und wann nicht: Wie weiss man, wann man helfen sollte? Was hält Menschen davon ab, zu helfen? Was unterscheidet Hilfe holen von Petzen? Lohnend ist es auch, über Grundsätzliches nachzudenken: Wer hat Macht? Hat Macht etwas mit Hautfarbe zu tun? Wie zeigt sich Gewalt? etc.
Historische Erfahrungen erkunden: Mittelstufenschüler:innen erarbeiten sich Wissen über Migrationsformen und -Ursachen und erforschen in Oral History-Projekten selber Migrationsgeschichten5. Dadurch zeigt sich einerseits Migration als ein dauerhaftes Phänomen. Andererseits ist zu erwarten, dass die Wertschätzung für Migrationsgeschichten von Mitschüler:innen steigt.
Historische Erfahrungen von Ausschluss, Versklavung und rechtlicher Einschränkung zu kennen, eröffnet älteren Kindern ein vertiefteres Verständnis des Phänomens. Sie erkunden Geschichte und Geschichten, in denen Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe oder kulturellen Merkmalen eine gesellschaftliche und politische Rechtfertigung erfuhr und können diese mit der Gegenwart vergleichen. Die Geschichte der Sklaverei, des Kolonialismus und des Holocausts, der Anti-Schwarzen-Rassismus in den USA und die Verbrechen an den Sinti:zze und Rom:nja im Schweizer Kontext können bereits Primarschüler:innen zugänglich gemacht werden. Es empfiehlt sich, mit Kindersachbüchern oder Geschichten zu arbeiten, in denen die Themen altersgerecht aufbereitet sind. Hier seien beispielhaft die für die Primarstufe aufbereiteten Texte im Lehrmittel Jenische – Sinti – Roma6 erwähnt, welches von der Pädagogischen Hochschule Zürich mitherausgegeben wurde.
5. Diskussion von Herausforderungen bei der Umsetzung
5.1 Über Rassismus sprechen, ohne Rassismus zu verstärken
Rassismus zu erkennen und zu dekonstruieren ist eine der Kompetenzen, die es zu erlangen gilt. Die Erschliessung einer Kind-gerechten Definitionen der Begriffe rassistische Diskriminierung und Vorurteil bildet dazu die Grundlage. Aufgaben, bei denen Schüler:innen ihr Wissen anwenden, indem sie aus einer Liste von Aussagen Vorurteile und rassistische Diskriminierungen von Fakten unterscheiden sollen, stellen jedoch einen Stolperstein dar. Vorurteile und Hassrede zu wiederholen hiesse, diese in der Gesellschaft zu stärken oder gar die Primarschüler:innen in einen unerwünschten kulturellen Code einzuführen. Zudem könnte bei einer Aufgabe, in der Lernende entscheiden, was eine (rassistische) Diskriminierung darstellt und was nicht, eine Infragestellung einer Rassismus-Erfahrung bei Betroffenen eine weitere Verletzung hervorrufen. Auf eine solche Übung sollte verzichtet werden. Allenfalls können Schüler:innen verschiedene diskriminierende Vorfälle (Handlungen und Äusserungen) nach dem Schweregrad einordnen, was sie in der Folge argumentativ begründen.
Zielführender ist es, mit Geschichten zu arbeiten, die aus der Sicht von Betroffenen erzählt werden. Sie schildern nicht nur den Vorfall einer Diskriminierung, sondern auch ihre Reaktion darauf. Ein Jugendlicher erzählt von seinem Vorstellungsgespräch: « […] Die zweite Frage war gleich: Woher kommen Sie? Das nervt so! Und dann meinten sie, ich entspräche nicht ihrem Verkaufstyp […]. B schaut traurig auf den Boden.» (Institut Neue Schweiz, o.D.) Die Geschichte eines Betroffenen ermöglicht es, mit Lernenden vertiefter über die Situation nachzudenken: Was denkt der Jugendliche in dieser Situation? Warum will das Geschäft den Jugendlichen nicht einstellen?
Wie eingangs erwähnt, erkennen Aussenstehende Rassismus oft nicht und haben andere Vorstellungen davon, was Rassismus-relevant sein könnte. Auf Unverständnis stösst z.B. die Klage von Schwarzen Menschen, dass ihnen von anderen in die Haare gegriffen wird. «Was im Zusammenhang mit meinen Haaren nervt, ist vor allem das übergriffige Verhalten anderer Leute. Abgesehen davon, dass ich schon unzählige Hände in meinen Haaren hatte, machen sich schon mein ganzes Leben lang Menschen über meine Locken lustig. Hast du in eine Steckdose gefasst, fragten mich Kinder bereits in der Grundschule und nannten mich Wischmopp oder Schaf. […] An Afrohaaren klebt Stigma. Schwarze Menschen, die ihre Haare natürlich und offen tragen, werden entweder als ungepflegt oder wild wahrgenommen» (Hasters, 2020, 120). Solche Erlebnisberichte bringen mehr Klarheit. Mit einer Rassismus-Definition kann gearbeitet werden, um zu klären, was an einer Aussage oder einem Ausschluss problematisch sein könnte.
5.2 Empathie mit Diskriminierungs-Betroffenen aufbauen
Menschen, die aufgrund ihrer Mehrfachprivilegierung immer als Individuum angesprochen und anerkannt werden, können Schwierigkeiten haben, Gefühle der Herabsetzung und Ausgrenzung aufgrund von Hautfarbe und Kultur nachzuvollziehen (Affolter, 2022, 23). Dies trifft bereits auf Kinder und Jugendliche zu. Wenn sich Betroffene gegen Diskriminierung wehren, riskieren sie Reaktionen zu hören, wie «jetzt tue doch nicht so empfindlich», oder «du Opfer». Erschwert wird das Nachempfinden durch die Tatsache, dass der Schmerz bei den Betroffenen oftmals nicht in einer einmaligen Abwertung liegt, sondern in dem sich immer wiederholenden Muster, dem nicht zu entkommen ist (Stichwort Mikroaggression, S. 4). Dies muss bei der Bearbeitung von Diskriminierungserfahrungen stets mitbedacht werden.
Bei Primarschüler:innen, die in verbalen Verunglimpfungen mit herabsetzenden kulturellen Codes experimentieren, kommt ein Unwissen über die historischen Kontexte und Konnotationen von Beschimpfungen hinzu.
Nicht betroffene oder verursachende Schüler:innen können sich an die Gefühle der Ohnmacht, Wut und Scham von Betroffenen durch Rollenspiele annähern, bei denen Rollen immer wieder anders verteilt werden. Riskanter und nur für ältere Schüler:innen geeignet ist ein von der Lehrperson als beabsichtigte Irritation arrangiertes soziales Experiment, in dem gewisse Schüler:innen aufgrund eines gewählten Merkmals von einer Aktivität ausgeschlossen werden. Im Plenum tauschen sich die Schüler:innen über die gemachten Erfahrungen aus. Auch verschiedene Möglichkeiten der Selbstermächtigung und des Widerstands von Betroffenen können im Rollenspiel erprobt und anschliessend besprochen werden.
5.3 Betroffene und nichtbetroffene Lernende in derselben Lerngruppe
Der Auftrag der Schule besteht nicht nur darin, Schüler:innen davon abzuhalten, andere zu diskriminieren, sondern auch darin, betroffene Kinder zu stärken, selber gegen Diskriminierungen vorzugehen. Im Abschnitt 4.1. wiesen wir bereits darauf hin, dass diversitätssensible Kinderliteratur und die Thematisierung religiöser und kultureller Vielfalt viel dazu beitragen können, das Selbstbewusstsein von Kindern, die von Rassismus betroffen sind, zu stärken. Ein weiteres Element der Stärkung, welches in der rassismuskritischen Literatur vorgeschlagen wird, sind geschützte Räume, in denen Kinder über den emotionalen Stress, der durch die Erfahrung von Alltagsrassismus ausgelöst wird, sprechen, diesen als kollektive Erfahrung wahrnehmen können und von anderen Kindern verstanden werden können (Madubuko, 2021). Eine solche Arbeitsweise lässt sich aus verschiedenen Gründen im Rahmen des Schulunterrichts nicht umsetzen. Lehrpersonen, die selbst keinen biographischen Zugang zum Thema haben, können Gespräche in einer solchen geschlossenen Gruppe nicht moderieren, so wenig, wie eine männliche Lehrperson den Austausch von Mädchen über das Frau-Sein moderieren kann. Zudem kann ein solcher Austausch nur freiwillig erfolgen.
Betroffene Kinder können aber auch im Klassenverband Empowerment erfahren. Es liegt auf der Hand, dass sie nicht aufgefordert werden sollen, von eigenen Diskriminierungserfahrungen zu erzählen, um nicht als Opfer exponiert zu werden. Die Auseinandersetzung mit semi-realen Fällen, wie unter Kapitel 5.1. skizziert, verhindert eine Zuschreibung von Schüler:innen zu einer bestimmten Gruppe. Im gemeinsamen Entwickeln von Handlungsoptionen, wie auf Diskriminierung reagiert werden soll, erfahren betroffenen Kinder Solidarität (vgl. auch Kapitel 4.2.). Die Auseinandersetzung mit semi-realen Fällen ermöglicht es Betroffenen, mit einer gewissen Distanz teilzunehmen.
Wenn ein konkreter Fall von rassistischer Diskriminierung in der Klasse vorliegt, sollte sofort eine pädagogische Intervention durchgeführt werden. Zu pädagogischen Massnahmen gibt es eine ausführliche Literatur, sie sind nicht Gegenstand dieses Beitrags. Ein konkreter Vorfall ist aber auch ein Lernanlass für den Unterricht. Aus obgenannten Gründen sollte das Unterrichtsthema selbst nicht anhand des Vorfalls in der Klasse behandelt, sondern anhand semi-realer Fälle. Die semi-realen Geschichten ermöglichen es weiter, die verletzenden Aussagen und nicht die Kinder, welche sie ausgesprochen haben, ins Zentrum zu setzen. Kinder sollen nicht als Opfer, aber auch nicht als Rassist:innen etikettiert werden.
6. Fazit
Rassistischer Diskriminierung muss in der Schule auf verschiedenen Ebenen begegnet werden. In diesem Beitrag habe ich die fachdidaktischen Möglichkeiten beleuchtet, welche insbesondere die Perspektiven Religionskunde, Geschichte, Politische Bildung und Ethik auf der Primarstufe bieten, um Diskriminierungen als Lernanlass aufzunehmen. Die Vorschläge bewegen sich auf der Konzeptebene und sind noch keine fertigen Lernaufgaben. Ferner habe ich versucht, mögliche Fallstricke zu orten und zu überlegen, wie diese umgangen werden können. Weitere kommen zwingend hinzu, wenn konkrete Lernaufgaben im Schulfeld erprobt werden. In einem nächsten Schritt gilt es, bestehende Lernaufgaben zu evaluieren und allenfalls zu ergänzen. Gerade für die Primarstufe ortet die Schreibende noch einen Entwicklungsbedarf. Auch ist die rassismuskritische bzw. dikriminierungssensible Bildung ein dynamisches Feld, was erfordert, dass Lernaufgaben aktuell sein müssen. Wenn aktuelles, didaktisiertes Material zur Verfügung steht, besteht die Hoffnung, dass Lehrpersonen ihre Scheu vor diesem schwierigen Thema ablegen. Vorerst dienen die Impulse zur Anregung und Diskussion innerhalb der Fachdidaktik und dem Schulfeld. Die Schreibende würde sich über ein Feedback freuen.
Anmerkungen
1 Mit Geschlechter-Stereotypen sind hingegen schon jüngere Kinder vertraut, z.B. «Mädchen können nicht Fussball spielen», «Jungen können nicht kochen», «Jungen sind besser in Mathematik», etc.
2 Einführung in wichtige Begriffe, siehe Monique Eckmann und Miryam Eser Davolio, «Rassismus – was ist das?», in: Sabina Brändli u.a., Merken was läuft. Rassismus im Visier, 2009, 17-23.
3 Kasperski, Gabriela (2019). Einfach Yeshi : auf der Suche nach Turnschuhen und einer neuen Heimat. 1. Auflage. Embrach: Arisverlag.
4 Zum Thema Dazugehören-ausgeschlossen sein: Bonilla, Rocio (2020). Mein ausserirdischer Freund. Hamburg: Jumbo. Ein Junge, der Besuch von einem Ausserirdischen erhält, wird dazu angeregt, sich zu fragen, warum er Dinge tut, nur um anderen zu gefallen.
5 Die Recherche der Schreibenden ergab keine Resultate zu stufengerechten Medien, welche Migrationsgeschichten von Schweizer Auswanderern erzählen. Eine fantasievoll erzählte Auswanderergeschichte einer italienischen Familie nach Amerika ist Das Streichholzschachtel-Tagebuch, von Paul Fleischmann, Berlin, 2013.
6 Arbeitsgruppe Jenische – Sinti – Roma, Christian Mathis, Nicole Eilinger, Sonja Vukmirović (2023): Jenische – Sinti – Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz. Ein rassismuskritisches Lehrmittel. Herausgegeben von Arbeitsgruppe Jenische – Sinti – Roma, Pädagogische Hochschule Zürich und Stiftung Erziehung zur Toleranz.
Literatur