«Autonomie – Liebe – Familie»


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«Autonomie – Liebe – Familie»

Ein kleiner Seminarbericht

Die Individualisierungsversprechen spätmoderner Gesellschaften generieren in den Bereichen von Autonomie – Liebe – Familie ambivalente bis paradoxe Narrative. Der vorliegende Seminarbericht legt dar, dass die Studierenden einerseits Teil dieses gesellschaftlich vermittelten Diskurses sind und andererseits bereit sind, die eigenen biographischen Anteile in einem grösseren soziologischen Kontext zu be- und hinterfragen; nicht zuletzt als Vorbereitung zukünftiger Herausforderungen im Lehrberuf.
Von Cornelius Helmes

«Wir wünschen uns Klarheit, denn diese Klarheit hilft uns, Unsicherheit in Liebesbeziehungen zu bekämpfen.» (Studentisches Referat)

Im Folgenden berichte ich kurz über eine Veranstaltung, die ihrerseits auf einer anderen aufbaut. Über viele Semester habe ich im Bachelorstudium eine Lehrveranstaltung mit dem Titel «Familie im Wandel» angeboten, nicht nur, um Studierenden die Grundlagen der Familiensoziologie zu vermitteln, sondern auch, um den Studierenden die Möglichkeit zu eröffnen, eigenen familienbiographischen Fragen und Irritationen Raum zu geben. Durch Änderungen im Studienplan wurde in einer Wahlpflichtveranstaltung mit dem Titel «Autonomie – Liebe – Familie» das Spektrum erweitert.

Die Studierenden ihrerseits befinden sich normalerweise im dritten bis fünften Semester und sind mehrheitlich Anfang/Mitte Zwanzig. Nach meinen Beobachtungen hat vielleicht die Hälfte mehr oder weniger feste heterosexuelle Beziehungen, «Abweichungen» davon tauchen selbstverständlich in jeder Form auf.

Über mehrere Jahre hinweg habe ich in diesen Veranstaltungen zunächst die Frage diskutieren lassen, welche Generationsbezeichnung sie sich selbst geben würden. Das ist wichtig, weil der «Begriff der Generationen» (Karl Mannheim) in der Soziologie deshalb seit Jahrzehnten eine grosse Rolle spielt, weil dort skizzierte prägende Erfahrungen bestimmter Geburtskohorten Aufschlüsse ermöglichen können über persistente zukünftige Handlungseinstellungen. Nun ist aufschlussreich, dass sich die generativen Selbstbeschreibungen in den vergangenen Jahren immer stärker differenziert haben. Die Bereitschaft/Fähigkeit, ein kohärentes und gemeinsames Generationsbild zu zeichnen, nimmt deutlich ab. Auffällig ist zudem, dass die Elterngeneration zunehmend «glorifiziert» und die Zukunft (spätere Generationen und damit kommende Schülerkohorten) eher dystopisch gesehen wird.

1. Zwischen Autonomie und Konformitätsdruck

Aus genanntem Grund einer eher dystopischen Zukunftsperspektive beginnt die Lehrveranstaltung auch mit einer Erläuterung des Begriffs der «Individualisierung», jenem von der Bildungspolitik mittlerweile instrumentalisiertem Konzept, das bereits Mitte der 1980er Jahre von Beck (1986) in seiner Duplizität von abnehmenden Ligaturen, also Bindungen, und Erhöhung der Optionalitäten mit Blick auf die darin vorhandenen Risikostrukturen als zentrale Veränderung spätmoderner Gesellschaften skizziert worden ist. Beck und andere konnten sich dabei darauf beziehen, dass Individualisierungsprozesse hauptsächlich von sozialen Bewegungen, mithin kollektiv, im Sinne von Freiheitsversprechen angestossen worden sind.

Davon ist heute aus der Perspektive vieler Studierender nicht mehr viel übrig. «Individualisierung» wird als Status quo mehr hingenommen als akzeptiert und erscheint oftmals in den Äusserungen als Handlungserwartung und Zwang. Es scheint so, als ob sich die Individualisierung selbst individualisiert habe. Ähnliches gilt auch für den anschliessend eingeführten Begriff der «Autonomie», der im Unterschied zur Individualisierung weniger auf Vergesellschaftungsprozesse abzielt als auf die Erhöhung von Freiheit und (intellektuellen) Widerständen im privaten Raum (Pauen/Welzer 2015).

Nun liegt die Paradoxie nicht nur der Schulpraxis, sondern generell zivilisierter liberaler Gesellschaften darin, dass sie einerseits autonome Subjekte benötigen (und ermöglichen), andererseits aber ohne systemische Anpassungs- und Konformitätsleistungen nicht funktionieren können. Deshalb ist es auch nicht unplausibel, dass für viele Studierende die täglich erlebte, als Notwendigkeit antizipierte Anpassung und Konformität im Kontext von Studienplänen, Arbeitsmöglichkeiten, Konsumzwängen etc. Autonomie eher unwahrscheinlich werden lässt. Weil «Autonomie» (wie gesagt) eine eher «private» Kategorie ist, stellt sich damit die Frage, inwiefern Liebesbeziehungen jene «Resonanzräume» (Rosa 2016) ermöglichen, die den «entfremdenden» Marktverhältnissen gegenüber Fluchtmöglichkeiten bieten.

«Wir wollen genauso akzeptiert werden wie wir sind. Weil wir Beziehungen eingehen in einer Gesellschaft, in der der Liebesmarkt hart umkämpft ist und in der wir ständig bewertet werden. Wir wünschen uns eine Liebesbeziehung, in der wir nicht ständig bewertet werden und in Konkurrenz zu anderen stehen.» (Studentisches Referat)

2. Wie schreibt man heute Liebesbriefe?

Wie schreibt man heute Liebesbriefe? Die Antworten darauf sind oftmals geprägt von peinlich berührtem Schulterzucken. Dennoch gilt das Ideal der «romantischen Liebe» vielen Studierenden als selbstverständliches Ziel. Staunen erzeugt die Überlegung, dass die «romantische Liebe» als genuine «Erfindung» und Konstruktion des 19. Jahrhunderts und dokumentiert in unzähligen Romanen selbst zutiefst gesellschaftlich geprägt und damit keineswegs ein apriori ist (Beck-Gernsheim 1990). Die «Entzauberung der Welt», der Verfall der ständischen Ordnung, die Suche nach dem «Sinn der Welt» jenseits der vorformulierten Biographien führt zu jenem Wunsch nach personenbezogener Stabilität, die zwei Individuen sinnhaft von der Härte der sie umgebenden Marktverhältnisse abgrenzt. Dass dabei von Beginn an insbesondere aus der Perspektive von Frauen das Scheitern möglich war, bezeugen bereits viele Romane des mittleren und späteren 19. Jahrhundert (Flaubert, Ibsen, Fontane, Brontë etc.).

Im Reden über «Liebe» und «Liebesbeziehungen» mit und zwischen den Studierenden wird deutlich, dass die Orientierung am romantischen Liebesideal als mehr oder weniger bewusste Alternative zur Sozialisation über Marktverhältnisse erlebt werden will. Dass die Konzeption von Liebe im 19. Jahrhundert ihrerseits an «Schutz» (durch den Mann mit der Androhung gesellschaftlicher Ächtung bei Verweigerung) und «Dienen» (seitens der Frauen bis hinein in die Rechtsprechung der 1970er Jahre) gebunden war, wird spätestens bei einer weiteren Lektüre deutlich (Illouz 2011). Denn was geschieht, wenn sich unter spätmodernen – von der Sprache der Psychologie und damit der individuellen Zuweisung geprägten – Bedingungen Liebesverhältnisse selbst Marktmechanismen ausgesetzt sehen, die «Schutz» und «Dienen» obsolet machen bzw. wie selbstverständlich ausschliessen? Dies ist dann die Erfahrungsebene der Mehrheit der Studierenden. Wenn selbstbewusste (und erwartete) Emanzipationsprozesse Klarheiten unterhöhlen und aus der «Liebe» der «Beziehungsstatus» wird, der im Zeitalter der unendlichen «Freiheit» im Internet ebenso unendliche Möglichkeiten vermeintlicher Optimierung eröffnet, stellt sich die Frage, was dies für die Geschlechterbeziehungen bedeutet.

Eva Illouz hat dies insofern zugespitzt , als sie behauptet, die eigentlichen «Gewinner» allgemeiner Liberalisierung seien entgegen der Vorstellung, die Emanzipationsprozesse hätten auf dem Feld von Liebe und Sexualität insbesondere Frauen gestärkt, erneut junge Männer. Frauen seien aufgrund der biologischen «Uhr» stärker interessiert an möglichst frühen und stabilen Beziehungen auch und gerade unter Marktverhältnissen, wohingegen mehr oder weniger jüngere Männer Sexualität als dauerhafter Selbst- und Optimierungsversuch zur Verfügung stehe, was die grassierende Bindungsunwilligkeit eben jener Männer erkläre. Spätestens bei diesen Überlegungen, vorgetragen von Studierenden in mündlichen Beiträgen, ist die Aufmerksamkeit des gesamten Seminars garantiert.

Umso mehr betrifft dies Auszüge aus dem Bestseller «50 Shades of Grey», die von Eva Illouz (2013) plausibel interpretiert werden: «50 Shades» sei gewissermassen ein Narrativ, auf das junge Frauen in spätmodernen Gesellschaften zurückgreifen könnten, um die Frage zu beantworten, wie sich im postfeministischen Zeitalter und unter den Bedingungen liberalisierter Sexualitätspraktiken (BDSM) dennoch der Wunsch nach dem «Märchenprinzen» realisieren lasse. Basierend auf den obsolet gewordenen Vertragsbeziehungen, welche die bürgerlich-romantische Liebe auszeichnete, sei es ein logischer Schritt, sich auf die vorrechtlichen sexuellen «Vertragsbeziehungen» der SM-Praktiken einzulassen. Im Kern drehe sich alles um die Frage, das hat u. a. auch die populäre Filmreihe über «Bridget Jones» gezeigt, wie sich unter den Bedingungen von Marktverhältnissen und Emanzipation der Wunsch nach verlässlichen Bindungen durchsetzen lasse.

«Ist es gut oder nicht, dass wir die Sexualität so radikal und stark von jeglicher ethischen Verbindlichkeit und Verantwortung gegenüber anderen losgelöst haben? Und ist es gut, die Sexualität von Gefühlen gegenüber anderen zu trennen?» (Studentisches Referat)

3. Familienbilder

Bleibt die Beschäftigung mit der aus der Perspektive der allermeisten Studierenden in der Zukunft liegenden Phase einer Familiengründung. Ausgehend davon, dass über Jahrhunderte Familien immer geprägt waren von Herrschaftsverhältnissen und mehr oder weniger patriarchaler Dominanz – erinnert wird an die Rolle der christlichen Kirche (das Sakrament der Ehe), die Trennung von Haus und Öffentlichkeit im Zeitalter der klassischen «bürgerlichen» Familie oder an die Psychologisierung/Biologisierung des weiblichen Körpers durch Ärzte und Rechtssetzung –, mündet die Diskussion in die Fragestellung ein, was überhaupt Kennzeichen einer «guten Familie» sind. Im Hintergrund steht dabei die Wahrnehmung, dass insbesondere Junglehrerinnen und Junglehrer eher konservative normative Erwartungshaltungen an die «Funktionalität» der Familien ihrer Schüler und Schülerinnen haben. Der gegenwärtige erneute Bedeutungszuwachs von «guten» familiären Beziehungen als Basis eines gelingenden spätmodernen individuellen Lebens kann dabei zugleich auch als Kompensation einer zunehmenden Komplexität der Lebensverhältnisse interpretiert werden. Globalisierung, so Koppetsch (2014), verweist nun einmal auf die Herkunftsbindungen zurück.

Schliesslich werden Aspekte der Familienplanung und der sogenannten Kinderfrage diskutiert. Auffällig ist dabei, dass fast ausnahmslos alle Studierenden Kinderwünsche äussern, diese aber – als zutiefst individuelle und intime Frage – in Orientierung an einem praktisch standardisierten Lebensverlaufsmuster realisieren wollen: Freiheitsbedürfnisse, Berufsausbildung, Berufseinstieg, Konsolidierung partnerschaftlicher Verhältnisse, Familienplanung. Dies bedeutet, dass einerseits Individualisierungsprozesse weit vorangeschritten sind, jene aber nur innerhalb stark standardisierter sowie institutioneller Zwänge umgesetzt werden können.

4. Sich selber besser verstehen wollen

Zusammenfassend kann gesagt werden: im Lesen und Reden über Autonomie – Liebe – Familie lassen sich etliche unhinterfragte, auf Alltagswissen basierende Narrative in einen Diskurs überführen, der für die Realitätswahrnehmung der Welt ausserhalb (auch anhand der eigenen Biographien) der Schulstuben nicht irrelevant sein sollte. Auf Seiten der Studierenden scheint eine Bereitschaft / ein Bedürfnis vorhanden zu sein, eigene biographische Anteile, die eben auch immer gesellschaftlich vermittelt sind, besser verstehen zu wollen, bevor sie in die Welt der Schule eintreten. Bei dieser Bereitschaft, so die Beobachtung, bestehen keine genderspezifischen Unterschiede, sondern, wenn überhaupt, solche zwischen einer primär städtischen oder eher ländlichen Sozialisation. Aber das wäre ein anderes Thema.

Erwähnte Literatur

Beck-Gernsheim, Elisabeth / Beck, Ulrich (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a. M..
Beck-Gernsheim, Elisabeth (2006): Die Kinderfrage heute. Über Frauenleben, Kinderwunsch und Geburtenrückgang, München.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M..
Hondrich, Karl Otto (2007): Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist, Frankfurt a. M..
Illouz, Eva (2011): Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung, Berlin.
Illouz, Eva (2013): Die neue Liebesordnung, Berlin.
Koppetsch, Cornelia (2014): Die Wiederkehr der Konformität? Wandel der Mentalitäten – Wandel der Generationen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 49/1, S. 37–43.
Mannheim, Karl (1928): Das Problem der Generationen, in: Kohli, Martin (Hrsg.) (1976): Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt/Neuwied.
Pauen, Michael / Welzer, Harald (2015): Autonomie, Frankfurt a.M..
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin.
Schimank, Uwe (2012): Individualisierung der Lebensführung, in: Hradil, Stefan / Hepp, Adalbert (Hrsg.): Dossier Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn, www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/137995/individualisierung-der-lebensfuehrung?p=all (22.08.2018).
Artikelnachweis
Helmes, Cornelius (2018): «Autonomie – Liebe – Freiheit». Ein kleiner Seminarbericht, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/helmes-autonomie-liebe-familie/

Über Cornelius Helmes

Dr. Cornelius Helmes (cornelius.helmes@phbern.ch) ist Dozent für Erziehungs- und Sozialwissenschaften am Institut Sekundarstufe I der PHBern sowie Lehrbeauftragter der Fachhochschule Nordwestschweiz (Institut Soziale Arbeit Basel).