«Ich bin jetzt deine Mutter. Was willst du sagen?»


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«Ich bin jetzt deine Mutter. Was willst du sagen?»

Beispiel eines spontanen Rollenspiels in einer 8. Klasse

Dieser Beitrag zeigt anhand eines Gesprächstranskripts, dass philosophische Rollenspiele auch mit heuristischer Funktion eingesetzt und spontan von den Schüler*innen initiiert werden können.

Von Laura Mercolli und Allan Ritzmann

Rollenspiele in der Philosophiedidaktik

Rollenspiele gehören seit Längerem zum etablierten Methodeninventar des Philosophie- und Ethikunterrichts (z. B. Roew et al. 2006; Wiater 2011, S. 83; Nida-Rümelin et al. 2015, S. 240ff.; Brüning 2016, S. 98ff.; Runtenberg 2016, S. 45ff.; Roew und Kriesel 2017, S. 227ff.; Totzke und Tiedemann 2019) und stehen auch aktuell im Fokus, wie der Sammelband von Peters und Peters (2023) belegt. Die Idee des Rollenspiels im Philosophieunterricht besteht darin, dass die Schüler*innen – angeleitet von der Lehrperson – in Rollen schlüpfen und vorbereitete oder unvorbereitete Dialoge mit mehr oder weniger grossem Aufwand inszenieren, um aus der Verkörperung der Rollen philosophische Erkenntnisse zu gewinnen. Das Rollenspiel ist nicht zu verwechseln mit der szenischen Lesung von philosophischen Dialogen. Letztere dient der blossen Texterschliessung im Sinne eines lebendigen Vorlesens, wohingegen mit ersterem der Anspruch verbunden ist, durch die Vorbereitung des Rollenspiels und die Verkörperung von Rollen zu philosophischen Einsichten zu gelangen. In der Regel handelt es sich dabei um hermeneutische Einsichten. Dem Rollenspiel liegt in diesen Fällen philosophisches (Text-, Bild, oder Video-)Material zugrunde und die Arbeit am und im Rollenspiel wird als Arbeit an der Bedeutung des philosophischen Materials verstanden. Das Rollenspiel ist gerahmt von didaktisch unterschiedlich realisierten Reflexionsphasen.

Christian Gefert hat die Methode des Rollenspiels zu einer Didaktik des theatralen Philosophierens ausgebaut (2002). Ausgehend von einem philosophischen Text arbeiten die Schüler*innen auf eine Performance hin. Der Lernprozess gliedert sich in ein Wechselspiel zwischen argumentativ-diskursiven und theatral-präsentativer Verfahren. Folgende Phasen werden dabei wiederholt durchlaufen:

  1. Argumentationsphase zur Identifizierung relevanter Begriffe und Argumente im Text,
  2. Vorbereitungsphase mit Übungen zur Sensibilisierung für den Arbeitsprozess mit performativen Ausdrucksformen,
  3. Erprobungsphase mit Improvisationen über eigene Deutungen der relevanten Begriffe und Argumente und
  4. Reflexionsphase zur Prüfung des szenisch-performativen Materials.

Die Schüler*innen entwickeln die Abschluss-Performance ausgehend von ihrem selbst produzierten performativen Material, indem sie Kernszenen isolieren und ein dramaturgisches Gesamtkonzept für die Performance erarbeiten (Gefert 2019, S. 26ff.).

Hermeneutische vs. heuristische Funktion

Peter Köck listet sechs zentrale Funktionen des Rollenspiels im Ethikunterricht auf, nämlich: Lebenssituationen wieder dem Erleben zugänglich machen, gemeinsame (emotionale) Erfahrungsgrundlage schaffen, unterschiedliche Verhaltensweisen bewusst machen, Perspektivenübernahme, Verhaltensänderungen anbahnen, Ambiguitätstoleranz (Köck 2019, S. 213-214). Es fällt auf, dass es sich hierbei um Ziele und Kompetenzen handelt, die nicht ausschliesslich dem Ethikunterricht zugeordnet sind, sondern überfachlichen Charakter haben. Welche philosophiedidaktische Funktion kann ein Rollenspiel haben? Normalerweise – auch geprägt durch die Arbeiten von Christian Gefert – steht die hermeneutische Funktion im Vordergrund. Beim so verstandenen Rollenspiel geht es primär darum, in einen offenen hermeneutischen Prozess einzusteigen, und dadurch zu Erkenntnissen über den philosophischen Text (bzw. Bild, Video) zu gelangen. Für abstrakte philosophische Inhalte suchen die Schüler*innen eine konkret-interpretierende Ausdrucksform, sie übersetzen Abstraktes in Anschauliches.

Kaum Beachtung findet dagegen die heuristische Funktion, die ein Rollenspiel im Philosophieunterricht haben kann. Ein Rollenspiel kann auch dazu dienen, philosophische Fragen, Argumente, Beispiele u. ä. überhaupt zum Vorschein zu bringen. Das nachfolgend präsentierte Beispiel einer 8. Klasse illustriert diese heuristische Funktion. Wir haben hier den Fall einer Generierung philosophischer Erkenntnis durch das Rollenspiel (heuristische Funktion) im Gegensatz zum Rollenspiel als Ausdruck von philosophischer Erkenntnis (hermeneutische Funktion). Diese beiden Funktionen schliessen einander natürlich nicht aus und können auch wechselseitig aufeinander bezogen sein.

Beispiel: Philosophieren über Freiheit

Wir stellen einen Ausschnitt aus einem Gesprächstranskript vor, in welchem eine Gruppe von Schüler*innen spontan in ein kurzes Rollenspiel einsteigt, weil es mit den bis dahin praktizierten Gesprächstechniken nicht weiterkommt. Es handelt sich um eine Gruppe von sieben Schüler*innen der achten Schulstufe (13-14 Jahre) aus einer Mehrjahrgangsklasse (7.-9. Klasse) auf Realschulniveau, d. h. dem leistungsschwächsten Niveau der drei Leistungsstufen auf der Sekundarstufe I in der Deutschschweiz. Die Klasse beschäftigte sich während einer Doppellektion mit verschiedenen Arten von Freiheit und der (Un-)Rechtmässigkeit ihrer (Un-)Freiheiten. Im Rahmen der Doppellektion führte die Klasse in Gruppen ohne die Leitung der Lehrperson ein philosophisches Gespräch von 15-20 Minuten. Leider existiert keine Videoaufzeichnung des Gesprächs, weil die hier vorgestellte Rollenspiel-Passage ein Zufallsprodukt aus einem empirischen Forschungsprojekt ist, das einen anderen fachdidaktischen Aspekt fokussierte.

Erster Versuch: unergiebig

Die Gruppe geht der Frage nach, welche Handlungsmöglichkeiten sich bieten, wenn man zu Unrecht in der eigenen Freiheit eingeschränkt wird.

Die Achtklässler*innen kommen auf keinen grünen Zweig, die Antworten sind unergiebig. S*1 versucht die Diskussion zu beleben, indem sie*er die Leitfrage (Textmarke 71) mit Hilfe einer fiktiven Situation veranschaulicht (Textmarke 75). Doch dieser kommunikative Schachzug verfängt nicht.

Zweiter Versuch: erfolgsversprechend

S*3 greift nun zu einem erfolgsversprechenden Mittel: Die Leitfrage (Textmarke 71) soll mit Hilfe eines Rollenspiels beantwortet werden:

In Textmarke 82 fordert S*3 die Gruppenmitglieder zum Rollenspiel auf, das jedoch erst nach zwei Interventionen von S*1 (Textmarken 85 und 88) ab Textmarke 89 in Gang kommt. S*4 und S*3 schalten sich mit Metakommentaren zum Geschehen im Rollenspiel ein (Textmarken 100 und 108). Bei den Textmarken 108 und 109 tritt eine Rollenkonfusion auf, Fiktion und Realität vermischen sich und lassen S*1 verwirrt zurück. Die Schüler*innen finden nicht mehr ins Rollenspiel zurück.

Analyse

Das Beispiel erfüllt alle Kriterien eines Rollenspiels im Ethikunterricht, denn ausgehend von einem konkreten Szenario (Mutter, die dem Kind nicht erlaubt, aus dem Haus zu gehen) schlüpfen die Schüler*innen in verschiedene Rollen und improvisieren einen Dialog. Das präsentative Rollenspiel ist eingebettet in eine argumentativ-diskursive Gesprächssituation. Es findet also, wie es Gefert für die Didaktik theatralen Philosophierens fordert, eine Artikulation in beiden Symbolisierungsmodi statt (Gefert 2017, S. 241), auch wenn die Gruppe nicht dem von Gefert vorgeschlagenen Vier-Phasen-Prinzip folgt.

Das Rollenspiel dient im vorliegenden Beispiel als heuristisches Mittel, um Handlungsalternativen zu generieren, d. i., um herauszufinden, wie man mit unrechtmässigen Freiheitsbeschränkungen umgehen könnte. Nachdem ein diskursives Aufzählen von Handlungsalternativen im Gespräch gescheitert ist, testen S*1 und S*3 aus, ob die spontane Inszenierung einer konkreten Situation zielführender ist für das Ausloten von Handlungsmöglichkeiten, und initiieren das Rollenspiel. Im Rollenspiel sind Mutter und Kind auf Konfrontationskurs, es kommt weder eine Vermittlung zustande noch werden verschiedene Handlungsmöglichkeiten durchgespielt. Aber das Rollenspiel wirkt als Katalysator für die nachfolgende Diskussion. Analog zur Chemie, wo Katalysatoren zur Beschleunigung von chemischen Reaktionen dienen, hat das Rollenspiel als «Beschleuniger» oder «Zündstoff» für die philosophische Erkenntnis gedient. Die Schüler*innen schlagen in der Diskussion, die nahtlos an das Rollenspiel anschliesst, drei Handlungsmöglichkeiten vor: erstens Verhandeln, zweitens sich Freiheitsräume erarbeiten bzw. verdienen sowie drittens, Freiheitseinschränkungen als bedingte Verbote auffassen, die durch das Erfüllen bestimmter Bedingungen ausser Kraft gesetzt werden können. Am Ende der Diskussion erfolgt sogar eine Transferleistung – was in den 15 im Rahmen des Projekts untersuchten philosophischen Gesprächen eher selten der Fall ist. S*2 fragt: «Aber was ist, was wenn, wenn es nicht um Eltern geht? Sondern um etwas anderes?»

Interessant sind die Rollenwechsel, die innerhalb und ausserhalb des Rollenspiels zu beobachten sind. S*3, die*der das Rollenspiel im ersten Anlauf initiiert (Textmarke 82), gibt die Rolle der Mutter an S*1 weiter, die*der die Leitfrage aufgeworfen und das Szenario entworfen hatte (Textmarke 71 bzw. 75). S*5, die*der vorher noch nichts gesagt hatte, nimmt konsequent die Rolle des Kindes ein, und zwar von Anfang bis zum Schluss. S*4 nimmt mehrere Rollenwechsel vor. Sie*er geht beim ersten Anlauf nicht auf das Rollenspiel-Angebot ein und antwortet aus der Perspektive des Kindes, und zwar auf der diskursiven Ebene (Textmarke 83). Bemerkenswert ist die doppelte, gleichzeitige Rollenbesetzung für ein und derselbe Figur: Bei Textmarke 90 und 93 nimmt S*4 zusammen mit S*1 die Rolle der Mutter ein, um dann bei Textmarke 100 sozusagen aus dem Off einen erläuternden Metakommentar zum Geschehen abzugeben. Anschliessend kehrt S*4 wieder zur Rolle der Mutter zurück (Textmarke 104).

Welche Faktoren könnten das spontane Rollenspiel begünstigt haben? Augenfällig ist, dass keine Lehrperson beim Gespräch anwesend ist. Vermutlich hätten die Schüler*innen mit einer Lehrperson, die die Gesprächsleitung innehat, von sich aus kein Rollenspiel initiiert. Weiter könnte der starke Lebensweltbezug der Leitfrage das Rollenspiel begünstigt haben. Roew et al. nennen Vertrauen in die Gruppe und Bereitschaft zur Kooperation als Voraussetzungen für ein gelingendes Rollenspiel (Roew et al. 2006, S. 12). Diese waren im vorliegenden Beispiel gegeben.

Abgrenzung zum Gedankenexperiment

Durch seine heuristische Funktion rückt das vorgestellte Rollenspiel in die Nähe eines Gedankenexperiments. Tatsächlich weist es die drei von Bertram genannten Strukturelemente eines Gedankenexperiments auf, nämlich erstens eine Einleitung durch philosophische Fragestellung(en), zweitens ein kontrafaktisches Szenario und drittens eine Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung(en) (Bertram 2012, S. 17). Die Schüler*innen hätten in analoger Funktion auch fragen können: «Stell dir vor, du würdest vor deiner Mutter stehen und…» und damit in ein Gedankenexperiment einsteigen. Der Unterschied zum Gedankenexperiment liegt darin, dass beim Rollenspiel die Schüler*innen die Rollen verkörpern. An die Stelle des Irrealis eines Gedankenexperiments tritt das Fiktionale und Situative einer Performance. Das Verfahren ist präsentativ, nicht diskursiv, wie bei einem Gedankenexperiment.

Abgrenzung zur Wiedergabe von Dialog

Eine Wiedergabe von Dialog konstituiert noch kein Rollenspiel, wie die folgende Transkript-Passage aus einem philosophischen Gespräch einer zehnten Klasse zeigt:

S*6 schlüpft hier nicht in eine (oder mehrere Rollen), sondern gibt in direkter Rede einen möglichen Gesprächsverlauf wieder. Das performativ-präsentative Element fehlt.

Fazit

Der vorliegende Beitrag hat anhand eines Gesprächstranskripts einer achten Klasse gezeigt, dass Rollenspiele im Philosophie- und Ethikunterricht i) nicht nur als Ausdrucksform philosophischer Gedanken zur hermeneutischen Erschliessung philosophischer Texte (Bilder, Videos) dienen können, sondern auch als Erkenntnisform im Sinne eines heuristischen Mittels zum Auffinden von Argumenten, Beispielen oder, wie im vorgestellten Beispiel, von Handlungsmöglichkeiten. Und ii), dass Rollenspiele nicht in jedem Fall von der Lehrperson angeleitet werden müssen, wie dies in der Literatur dargestellt wird. Schüler*innen können auch spontan ein Rollenspiel initiieren.

Literatur

Bertram, Georg W. (2012): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch. Stuttgart: Reclam.
Brüning, Barbara (Hg.) (2016): Ethik/Philosophie-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen.
Gefert, Christian (2002): Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchungen zum Zusammenspiel argumentativ-diskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in philosophischen Bildungsprozessen. Dresden: Thelem.
Gefert, Christian (2017): Theatrales Philosophieren – performatives Denken in philosophischen Bildungsprozessen. In: Julian Nida-Rümelin et al., Handbuch Philosophie und Ethik. Band 1: Didaktik und Methodik. Paderborn: Schöningh, S. 240-244.
Gefert, Christian (2019): Philosophie als Performance – theatrales Philosophieren in Bildungsprozessen. in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2/2019, S. 23-30.
Köck, Peter (2019): Handbuch des Ethikunterrichts. Sekundarstufe I und II. 5. Auflage. Augsburg: Auer.
Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina und Tiedemann, Markus (Hg.) (2015): Handbuch Philosophie und Ethik. Band 1: Didaktik und Methodik. Paderborn: Schöningh.
Peters, Martina und Peters, Jörg (Hg.) (2023): Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht. Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht. Hamburg: Meiner.
Roew, Rolf; Becker, Christoph; Hörmann, Henning und Taubenreuther, Eloise (2006): Das pädagogische Rollenspiel im Ethikunterricht. Handreichung. München: Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung.
Roew, Rolf und Kriesel, Peter (2017): Einführung in die Fachdidaktik des Ethikunterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Runtenberg, Christa (2016): Philosophiedidaktik. Lehren und Lernen. Paderborn: Fink.
Totzke, Rainer und Tiedemann, Markus (Hg.) (2019). Themenheft Performative Philosophie. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2/2019.
Wiater, Werner (2011): Ethik unterrichten. Einführung in die Fachdidaktik. Stuttgart: Kohlhammer.
Artikelnachweis
Mercolli, Laura und Ritzmann, Allan (2023). «Ich bin jetzt deine Mutter. Was willst du sagen?» Beispiel eines spontanen Rollenspiels in einer 8. Klasse, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/ich-bin-jetzt-deine-mutter-was-willst-du-sagen