Bilderbücher vorlesen oder erzählen?


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Bilderbücher vorlesen oder erzählen?

Bilderbücher können frei erzählt oder wörtlich vorgelesen werden. Beide Methoden haben ihren eigenen Reiz und beide fördern das verstehende Zuhören. Um den Zugang zur Literatur spannend und interaktiv gestalten zu können, benötigen sowohl das Erzählen wie auch das Vorlesen eine sorgfältige Vorbereitung.
Von Inge Rychener
Abbildung einer Seite des Bilderbuches "Mein Hut ist weg". Links ein Bär, rechts der Text: "Mein Hut ist weg. Ich will ihn zurück."

Abbildung 1: Klassen, Jon. 2012. Mein Hut ist weg. Zürich: NordSüd. (Foto: Autorin)

Lehrperson A liest das Buch «Wo ist mein Hut» von Jon Klassen vor. Parallel zum Vorlesen zeigt sie das Bild. Sie liest hochdeutsch: «Mein Hut ist weg. Ich will ihn zurück.»

Lehrperson B erzählt dasselbe Buch (in ihrer Mundart): «Bär hat seinen Hut verloren. Seht ihr hier (zeigt auf die Figur und formt mit ihren Händen einen Hut)? Da steht er und er denkt sich: «Mein Hut ist plötzlich weg. Dabei habe ich meinen Hut doch soo lieb! Wer hat ihn wohl genommen? Ich will ihn zurück. Ich mach mich gleich mal auf den Weg und frage meine Freunde.»

Was passiert bei Ihnen, wenn Sie sich in dieser Lese-, rsp. Erzählsituation vorstellen?

Stellt man Lehrpersonen im Kindergarten die Frage, ob sie Geschichten im Unterricht vorlesen oder erzählen, dann sind sich in der Regel alle einig, dass Kindern im Kindergarten nicht vorgelesen wird, sondern erzählt. Als Gründe dafür werden hauptsächlich genannt:

  • Erzählen erlaubt mehr Freiheiten und Interpretationen.
  • «So kann ich reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist.»
  • Die Lehrperson ist näher bei den Kindern.
  • Vorgelesenem zuzuhören, ist für die jungen Kinder zu anspruchsvoll.

Auch Elternratgeber auf Google sind sich oft einig: «Je kleiner Kinder sind, desto besser ist das Erzählen im Vergleich zum Vorlesen … .»1 Oder sie unterscheiden nicht zwischen ‹vorlesen› und ‹erzählen›: «Lesen Sie Ihrem Kind in der Sprache vor, die Sie am besten sprechen.»2

Beide Aussagen werfen Fragen auf, die im Folgenden genauer betrachtet werden:

  • Was bedeutet ‹erzählen› – was bedeutet ‹vorlesen›?
  • Welche Gemeinsamkeiten verbinden das Vorlesen und das Erzählen?
  • Welche Sprachlernchancen entstehen beim Vorlesen und Erzählen?
  • Welche Sprache wähle ich?
  • Wie entscheide ich als Lehrperson oder Bezugsperson, ob ich vorlese oder erzähle?

Im Folgenden wird zunächst versucht, das Erzählen vom Vorlesen abzugrenzen. Anschliessend werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt und schliesslich die Sprachlernchancen für die Kinder dargestellt. Zum Schluss folgt ein Resümee, in dem aufgezeigt wird, dass sowohl das Vorlesen wie auch das Erzählen von Bilderbüchern wichtig ist.

Erzählen

Der Begriff ‹Erzählen› wird oft umfassend im Sinn von ‹sag mal was› verwendet. Mit der Aufforderung «Erzähl, was du heute gemacht hast» beispielsweise ist eher ein Berichten oder ein Aufzählen gemeint als ein Erzählen. In diesem Text wird der Begriff verstanden als ‹Geschichten erzählen›, Geschichten, die würdig sind, erzählt zu werden. Sie beinhalten eine wichtige Kernaussage, die den Höhepunkt (Klimax) bildet. Aus diesem Grund werden sie erzählt.

Erzählt wird vermutlich schon, seit die Menschen die Sprache erfunden haben. In allen Ländern der Welt, in allen Sprachen der Welt erzählen sich die Menschen erfundene und wahre Geschichten.

Erzählen bedeutet, sich nicht oder nur lose an eine Vorlage zu halten, und findet oft in der Mundart der erzählenden Person statt. Selbstverständlich kann aber auch auf Hochdeutsch oder in einer Fremdsprache erzählt werden. Die Erzählerin/der Erzähler entscheidet, ob sie/er den Text verlängern oder verkürzen möchte, Bilder zeigen möchte und sie textunterstützend kommentieren will oder mit den Kindern in einen Dialog über die Geschichte oder aussertextuelle Bezüge treten möchte.

Kraftvolles Schreiben fasst sich kurz.
(Robert McKee)

Gut erzählen – das ist die grosse Kunst. Insbesondere Bilderbücher zu erzählen, verlangt einen sehr bewussten Einsatz von Sprache. Wer zu viele Wörter verwendet, unnötige Fragen stellt, zerstört die Geschichte und den Spannungsbogen. Manche Bilderbücher leben – siehe auch das Eingangsbeispiel – von der reduzierten Sprache. Ergänzungen würden die Atmosphäre und die Aussagekraft der Geschichte mindern. Da die Sprache beim Erzählen frei verwendet wird, ist sie in der Regel wenig komplex und eher alltagnah.

Seit rund 2010 sind Bilderbücher ohne Text – so genannte ‹silent books› – im Trend. Sie fordern auf zum genauen Hinschauen und zum Geschichten ‹Sehen›. Die visuelle Kompetenz wird gleichzeitig mit derjenigen der Erzählkompetenz gefordert und gefördert. Nicht zu wenige Wörter zu verwenden und nicht mit zu vielen die Geschichte zunichte zu machen, ist hier die grosse Kunst. Ein Vorteil ist, dass diese Bücher sprachenunabhängig sind, das heisst, egal, welche Sprache eine Person spricht, sie kann das Buch ‹(vor)lesen› und verstehen.

Ein Bilderbuch für das Erzählen vorzubereiten, umfasst unter anderem eine sehr gute Kenntnis der Geschichte und Überlegungen zu folgenden Fragen:

  • Welche Passagen können ausgebaut oder gekürzt werden, ohne dass die Geschichte ‹verliert›?
  • Wie und in welcher Form werden die Bilder präsentiert?
  • Wie wird sichergestellt, dass die Bilder parallel zum Erzählen gezeigt werden können?
  • Welche Fragen lassen die Zuhörenden aktiv am Geschehen teilnehmen?
  • (Wie) sollen die Zuhörenden handelnd miteinbezogen werden?
  • In welcher Sprache wird erzählt (Mundart oder Hochdeutsch)?

Beim Erzählen bleibt es der erzählenden Person überlassen, auf welchem Weg sie auf die Klimax der Geschichte zusteuert. Die interaktive Gestaltung ist aufgrund der freien Sprechweise einfacher und freier als beim Vorlesen.

Die erzählende Person kann ihr Erzählen mit einem Figuren- oder Schattenspiel ergänzen, musikalische oder visuelle Effekte oder Geräusche einsetzen, mit Mimik und Gestik spielen. Sie kann die Stimme verändern und allenfalls die Entwicklung der Geschichte hinauszögern, indem sie sie verlängert oder Pausen einlegt. Vielleicht spielt sie auch selber eine der Figuren und lebt so in der Geschichte mit. Nach Bedarf kann sie die Geschichte auch abkürzen.

Eine Geschichte kann interaktiv gestaltet werden, indem sie auf einem Tuch mit Figuren und Gegenständen parallel zum Erzählen gespielt oder von allen Beteiligten mit einem Kohlenstift mitskizziert wird.

Die Geschichte kann aus einer Tonkugel herauswachsen und wieder in sie hineinverschwinden oder belebt werden, indem passende Gegenstände aus einem Versteck oder direkt aus dem Buch hervorgezaubert werden.

Auf einem Tuch wird eine Szene aus einer Geschichte interaktiv mitgespielt: Verschiedene Tiere sitzen an vor ihren Tischgedecken.

Abbildung 2: (Foto: Autorin)

Vielleicht bietet sich ein ‹Bilderbuchkino› an. Die Bilder zur Erzählung werden an die Wand gebeamt, die Kinder sitzen im verdunkelten Raum und fühlen sich wie im Kino. Noch besser wird es, wenn sie dazu Popcorn essen dürfen.

Auch ein Kamishibai (‹Papier-Theater›) bietet sich als Erzählgrundlage an. Dieses kann mit selber gestalteten oder mit kopierten und vergrösserten Bildern aus einem Bilderbuch bestückt werden.

Kamishibai mit einer aufgeschlagenen Seite von Preusslers "Die dumme Augustine".

Abbildung 3: Kamishibai mit einer aufgeschlagenen Seite von Preusslers „Die dumme Augustine“. Buch: Preussler, Otfried. 1972. Die dumme Augustine. Thienemann. (Foto: Autorin)

Bei in solcher Weise angereicherten Erzählungen achtet die erzählende Person darauf, dass sie nicht in ein Theaterspiel verfällt. Bei einer Erzählung steht immer das Wort im Mittelpunkt, nicht das Spiel oder die begleitenden Elemente.

Abbildung 4

Vorlesen

Vorlesen bedeutet, den Text aus dem Bilderbuch wortwörtlich zu übernehmen. Es sind keine Anpassungen, Auslassungen, Kürzungen erlaubt. Autor:innen tüfteln bei manchen Bilderbüchern monatelang an den passenden Wörtern und Ausdrücken. Diese zu verändern, führt unweigerlich zu einem Verlust an literarischer Qualität.

Aus diesem Grund wird in der Regel auch in der Sprache vorgelesen, in der das Buch geschrieben ist. Dies kann hochdeutsch oder eine Fremdsprache sein. Allenfalls kann das Buch auch vorlagengetreu in die eigene Mundart übersetzt werden, was allerdings meist mit einem Qualitätsverlust einhergeht.

Mundarten weisen meist einen grösseren Singsang› auf als die hochdeutsche Sprache. Dies wird oft in die Hochsprache übernommen. Beim Vorlesen tendiert man deshalb dazu, mit seiner Stimme unnatürlich nach oben oder unten auszuschwingen, was das Zuhören erschwert. Wenn zudem zu viele Wörter betont werden, wird das Zuhören anstrengend, da die Aussagen nicht mehr eindeutig sind.

Die Kunst des Vorlesens besteht darin, sich den Text so zu eigen zu machen, dass das Vorlesen nach einer freien Erzählung klingt. Dabei sollte der Charakter der Geschichte erhalten bleiben, obwohl auch geringfügige interpretatorische Leistungen der vorlesenden Person erlaubt sind. In der freien Erzählung werden Sprechpausen, Betonungen, die Stimmgestaltung usw. in der Regel automatisch korrekt verwendet. Einen Text so vorzulesen, dass er klingt wie eine freie Erzählung oder eine freie Rede, braucht meist viel Übung.

Es kann eine Herausforderung sein, sich Ausdrücke oder Satzgestaltungen, die man selber nie verwenden würde, zu eigen zu machen. Diese zu verinnerlichen, gehört zu einer guten Vorbereitung. Durch die natürliche Gestaltung mit Betonungen, Pausen, Stimmhöhen und -tiefen, Sprechgeschwindigkeit usw. wird eine gut vorgelesene Geschichte zu einem Genuss.

Als Hindernis für gutes Vorlesen können sich die Interpunktionszeichen erweisen. Diese sind in der Schrift grammatisch begründet, geben aber meist keine klaren Hinweise auf die Sprechgestaltung. Nicht jedem Komma folgt eine Pause und nicht jede Frage muss mit steigender Stimme gestellt werden. Das Wissen um die unterschiedlichen Funktionen der Interpunktionszeichen im schriftlichen Text und im vorgelesenen Text ist wichtig, um sie entsprechend zu berücksichtigen, resp. zu ignorieren. Interpunktionszeichen können allenfalls interpretatorische Andeutungen machen, sollen aber nicht die Sprechgestaltung dominieren.

Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat,
ist die der Bücher die Gewaltigste.
(Heinrich Heine)

Das gestaltende Vorlesen eines Bilderbuches gelingt, wenn ein paar grundlegende Punkte beachtet werden:

  • Sich die Geschichte zu eigen machen: Wer sind die Figuren, wie sehen sie aus, wie stehen sie zueinander? Welches sind die Meilensteine der Geschichte? Wie ist die Grundstimmung im Text? Wie stehe ich zur Geschichte?
  • Welchen Anteil an der Geschichte haben die Bilder?
  • Welche stimmlichen Gestaltungsmittel ermöglichen in dieser Geschichte ein wirkungsvolles und verständnissicherndes Vorlesen? Dazu gehören:
    • Die Stimmungen und Charaktere der Figuren werden sprachlich abgebildet.
    • Der Text wird in Sinnschritte untergliedert, ohne sich dabei von den Satzzeichen irritieren lassen.
    • In jedem Sinnschritt wird jeweils nur das Wort, respektive werden die (wenigen) Wörter betont, die die Kernaussage tragen.
    • Eine gute Pausengestaltung im Satz kann die Spannung erhöhen.
    • Ein der Atmosphäre der Passage angepasstes Sprechtempo und eine entsprechende Lautstärke unterstützten das Eintauchen in die Geschichte.

Um Sicherheit im Vorlesen zu gewinnen, kann es hilfreich sein, im Text Markierungen anzubringen, um sich im Vorleseprozess an die stimmlichen Gestaltungen zu erinnern.

Gemeinsamkeiten und ein Unterschied im Vorlesen und Erzählen

Einer vorgelesenen oder erzählten Geschichte zuzuhören, eröffnet den Kindern einen Zugang zu realen Erlebnissen und zu fantasievollen Welten. Sie können mit den Figuren mitleben, mitfiebern, mittrauern, sich mit ihnen mitfreuen. Vorlesen und erzählen ermöglichen es auch, Wissen aufzubauen, den Wortschatz auszubauen und die Aufmerksamkeitsfokussierung zu üben. Damit dies gelingt, muss sowohl das Erzählen wie auch das Vorlesen gut vorbereitet werden.

Sometimes reality is too complex. Stories give it form.
(Jean Luc Godard)

Insbesondere seit anfangs der 2000-Jahre liegt der Fokus bei literarischen Bilderbüchern auf einer inhaltlich aussagekräftigen Bild-Text-Wechselwirkung. Dies hat zur Folge, dass das Bild als elementares Erzählmoment mit in den Erzähl- rsp. Vorlesefluss eingebaut werden muss.

Bilder leisten in einem Bilderbuch meist einen entscheidenden Beitrag zur Geschichte. Sie übernehmen einen wichtigen Teil der ‘Story’. Das heisst, ohne Bilder funktioniert die Geschichte nicht. Deshalb müssen sie beim Erzählen und Vorlesen mit eingebunden werden. Die Zuhörenden brauchen Zeit und Musse, um die Bilder eingehend – und zwar parallel zum Vorlesen oder Erzählen – anzuschauen. Zuerst den Text zu erzählen, resp. vorzulesen und dann die Bilder zu zeigen, würde trennen, was zusammengehört.

Eine grosse Chance in der Begegnung mit Literatur – vorgelesen oder erzählt – besteht darin, dass die Kinder sich im Schutz der literarischen Figuren mit wichtigen Fragen auseinanderzusetzen beginnen. Die Distanz ermöglicht eine Wahrnehmung von anderen Perspektiven und damit eine Weiterentwicklung der eigenen Identität. Das Eintauchen in das Leben der Figuren bedeutet auch, ihre Stimmungen und Gedanken nachvollziehen zu können und damit Empathie zu erfahren.

Eine Geschichte passt, wenn sie die unterschiedlichsten Menschen
in ihren Bann zieht und mehrere Lesarten erlaubt.
(Werner T. Fuchs)

Gute Geschichten werfen Fragen auf, regen zum Austausch an und lassen Fragen offen. Es spielt keine Rolle, ob sie vorgelesen oder erzählt werden. Wichtig ist, dass sie keine Antworten vorwegnehmen.

Eine gut erzählte oder gut vorgelesene Geschichte ist ein Genuss und eröffnet den Zuhörenden eine neue Welt voller Anknüpfungsmöglichkeiten. Erinnerungen werden wach, Wünsche generiert, die Fantasie angeregt. Die Geschichte kann irritieren, Gegenargumente provozieren, erstaunen. Durch anregende Fragen werden die Zuhörenden eingeladen, in die fiktive oder reale Welt einzutauchen und mit den Figuren mitzufiebern.

Zum Schluss ein Hinweis auf einen wichtigen Unterschied beim Vorlesen und Erzählen: Grundsätzlich gilt, dass beim Vorlesen das Buch die Sprache vorgibt, beim Erzählen die erzählende Person die Sprache selber wählt.

Sprachlernchancen

Sowohl das Vorlesen wie auch das Erzählen ermöglichen den Kindern einen ersten Zugang zu schriftsprachlichen Texten und bahnen damit den Weg zur Literatur. Damit ist der Erwerb literarischer Kompetenzen nicht an das Lesen gebunden, sondern kann schon lange vor der Primarschule beginnen. Insbesondere dialogisch gestaltete Bilderbuchbetrachtungen (Bilderbücher mit und ohne Text) eignen sich, um eigene Erfahrungen mit fiktiven oder realen Erfahrungen im Buch zu verweben. Im interessegeleiteten Austausch wird der Handlungsstrang über Bild und Text gemeinsam vertieft.

Zahlreichen Studien belegen, dass sich das Vorlesen und Erzählen positiv auf das Lernen und die Lesekompetenz auswirken (z.B. Garbe, 2010) und das Vorlesen in einem engen Zusammenhang zum Schulerfolg steht (Stiftung Lesen, 2011). Unbestritten ist, dass das Erzählen wie auch das Vorlesen Kinder für Bücher begeistern kann. Und wer viel liest, hat einen grösseren Wortschatz, kann sich besser ausdrücken, verfügt über eine bessere Rechtschreibung und ein höheres Allgemeinwissen. Das Eintauchen in literarische (oder reale) Welten fördert zudem die Vorstellungskraft. Diese ist unerlässlich für das Verstehen und Schreiben von Texten wie auch für das Erkennen von Zusammenhängen (Dehn & Merklinger, 2015).

Eine Studie aus dem spanischsprechenden Raum aus dem Jahr 2014 (Leyva, Berrocal & Nolivos) zeigt, dass Geschichten, die die Aufarbeitung negativer Emotionen thematisieren, sich positiv auf das Sozialverhalten von Kindern auswirken. In einer älteren Langzeitstudie (1986) weist Wells nach, dass sich das frühe Geschichtenhören auf höheren Schulstufen positiv auf die schriftsprachlichen Kompetenzen auswirkt.

Im Bereich Deutsch als Zweitsprache (DaZ) wird empfohlen, das Erzählen als Sprachfördermassnahme einzubinden. Erfahrungen zum Geschichtenhören in der Erstsprache können auf das Geschichtenhören in der Zweitsprache übertragen werden und so die sprachliche Entwicklung positiv beeinflussen. (Lengyel, 2008)

Da vorgelesene Geschichten wörtlich auf einer schriftlichen Vorlage basieren, sind sie sprachlich dichter, komplexer und vielfältiger als frei erzählte Geschichten. Die Kinder erhalten damit Zugang zur so genannten ‹literalen Sprache›. Diese unterscheidet sich von der Alltagssprache durch einen reicheren Wortschatz, ausgefeiltere Sätze und differenzierte sprachliche Realisierungen wie bspw. Konjunktiv, Passivformen, Futur II usw.

Gut untersucht ist bislang auch die Entwicklung der Erzählkompetenz von Kindern, die regelmässig Geschichten hören. So können in der Regel 5- bis 8-jährige Kinder eine einfache Höhepunkterzählung selbständig meistern, wobei der Erwerbsprozess insgesamt bis ins Erwachsenenalter hinein dauert. (Becker & Müller, 2015)

Es gibt demnach zwischen dem Vorlesen und dem Erzählen einige wichtige Gemeinsamkeiten und markante Unterschiede, welche in der folgenden Tabelle nochmals dargestellt werden:

Merkmal

Erzählen

Vorlesen

Text und Inhalt

In einem bestimmten Mass variabel

Fix vorgegeben

Interaktive Gestaltung

Frei, flexibel

Herausfordernd, weil die vorlesende Person an das Buch gebunden ist.

Sprache

Geringe bis keine Vorgaben

Das Buch gibt die Sprache vor.

Sprachkomplexität

Einfache Alltagssprache

Komplexer Satzbau, differenziertes Vokabular, grammatisch anspruchsvoller

Sprachlernchancen

hoch

hoch

Tabelle 1: Unterschiede Erzählen vs. Vorlesen

Bilderbücher vorlesen und erzählen!

Wie dieser Artikel aufgezeigt hat, sind sowohl das Vorlesen wie auch das Erzählen eine sinnvolle, nachhaltige und lustvolle Form der Sprachförderung. Weder die eine noch die andere Realisierungsform ist einfacher oder schwieriger, besser oder schlechter als die andere – weder für die Kinder noch für die vorlesende, resp. erzählende Person. Wenn beide Formen – Vorlesen und Erzählen – eingesetzt werden, können die Sprachlernchancen optimal genutzt werden. Nicht die Frage, ob erzählt oder vorgelesen wird, ist entscheidend, sondern eine gute Ausgewogenheit zwischen beiden Angeboten. Beide Angebote sind in der frühkindlichen Bildung wichtig, weil sie anregende und identitätsstiftende Momente ermöglichen.

Literatur

Becker, T. & Müller, C. 2015. Vorlesen und Erzählen im Vergleich. In E. Gressnich, C. Müller & L. Stark (Hrsg.) Lernen durch Vorlesen. Narr Francke Attempto.

Dehn, M. & Merklinger, D. (Hrsg.) 2015. Erzählen – vorlesen – zum Schmökern anregen. Grundschulverband e.V.

Garbe, C. 2010. Wie werden Kinder zu engagierten und kompetenten Lesern? In G. Schulz (Hrsg.) Lesen lernen in der Grundschule. Cornelsen Scriptor. S. 9-12.

Lengyel, D. 2008. Sprachförderung durch Erzählen – Indikatoren für die Analyse der Erzählfähigkeit von Vorschulkindern in der Zweitsprache Deutsch. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Heft 3-2008, S. 259-276.

Leyva, D. Berrocal, M. & Nolivos, V. 2014. Spanish-speaking parent-child emotional narratives and children’s social skills. In Journal of Cognition an Development 15. S. 22-42.

Stiftung Lesen. (2011). Die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern. Repräsentative Befragung von 10-19-Jährigen. Eine Studie der Stiftung Lesen, der Deutschen Bahn und der ZEIT. https://www.stiftunglesen.de/fileadmin/Bilder/Forschung/Vorlesestudie/Vorlesestudie_2011.pdf [12.8.2024]

Wells, G. 1986. The meaning makers: Children learning language and using language to learn. Heinemann.

Anmerkungen

Artikelnachweis
Rychener, Inge (2024). Bilderbücher vorlesen oder erzählen?, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/inge-rychener-bilderbuecher-vorlesen-oder-erzaehlen


Über Inge Rychener

Dr. Inge Rychener ist Dozentin für die Didaktik des Faches «Deutsch und Deutsch als Zweitsprache» sowie Leiterin der Abteilung Weiterbildung & Dienstleistungen am Institut Unterstrass an der PH Zürich.