Geheimbox, Giftschrank oder Schatztruhe?


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Geheimbox, Giftschrank oder Schatztruhe?

Buchcover: Rubli, Maeva: Calme et tempête, Editions La Joie de lire, Genève, 2024

Rubli, Maeva: Calme et tempête, Editions La Joie de lire, Genève, 2024

Von Johannes Rudolf Kilchsperger

Bilderbücher in pädagogischer Absicht sind grundsätzlich etwas Heikles. Sie benötigen eine sensible Wahrnehmung kindlicher Lebenslagen und eine nicht nur vordergründig plausible, verständliche Sprache sowie einen ansprechenden künstlerischen Ausdruck, damit sie nicht platt und moralisierend werden. Gute Bilderbücher greifen kindliche Lebensverhältnisse und Vorstellungen auf, werden von humanen Leitideen belebt und in pädagogisch stimmigen Settings verwendet. Das ist jedoch hohe Kunst.

In ihrem eindrücklichen Debut mit Anisa Alrefaei Roomieh und deren Lebensgeschichte gestaltete Maeva Rubli eine aktuelle Graphic Novel für Erwachsene, die weite Beachtung und Anerkennung fand und zu Recht mit Preisen bedacht wurde. Damals schaffte es die junge Schweizer Illustratorin, die Erzählung einer Lebensgeschichte von Flucht und Migration in ergreifende, berührende, ja packende Bilder umzusetzen, ohne ihr ihre Ursprünglichkeit und Echtheit zu nehmen, sie vielmehr als Graphic Novel lebendig und zugänglich werden zu lassen. (Vgl. https://www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/leben-laesst-sich-nicht-teilen-aber-mitteilen/ )

Nun lässt uns die begabte Künstlerin Kindern zuhören. In ihrem neuen Bilderbuch «Calme et tempête» mutet Maeva Rubli Kindern irritierende Alltagserfahrungen anderer Kinder zu, gewiss modellhafte Beispiele, gleichwohl direkt und exemplarisch. Kinder berichten in der ersten Person; hier geht es um familiäre Intimität und kindliches Erleben. Was Kinder im engsten Umfeld erleben, wird nicht voyeuristisch vorgeführt, wenn auch an Tabus gerührt wird: Überforderung, schutzlose Abhängigkeit, Einschränkungen, psychische Auffälligkeiten, seien es manische Ausbrüche wie depressive Verstimmungen von Eltern. Da werden keine Diagnosen angeführt, da wird Bedrängendes nicht heilem Familienleben gegenübergestellt. Das Erleben von Kindern ist nicht darauf aus. Vielmehr wird konsequent in der Perspektive zweier Kinder erzählt. Die Illustrationen verdeutlichen dies; sie geben Anschauung und verleihen den einfachen Worten und Andeutungen der Kinder Glaubwürdigkeit. Worte wie Bilder sind metaphorische Einblicke und damit paradoxerweise unmittelbar direkt. Da wird nichts abgemildert und aufgelöst. Mit dem Symbol der geheimen Schachtel deuten nicht nur die erzählenden Kinder an, wie sie mit ihren Erfahrungen umgehen; auch diejenigen, die ihnen interessiert, wach, aufmerksam, vielleicht auch ängstlich und überfordert begegnen, bekommen einen Hinweis, wie sie mit ihren Erfahrungen umgehen können: mit Respekt vor ihrer Geheimnisbox, ihren je eigenen Abgründen und Möglichkeiten, die sie mit sich bringen. Geheimnisse können schwere Schätze sein. Ob eine Geheimnisbox ein Giftschrank oder eine Schatztruhe ist, ist nie einfach klar. Ob sie besser verwahrt oder geteilt werden, weiss man oft nicht. Beides kann seinen Sinn und guten Grund haben. Kinder begegnen sich auf dem Pausenplatz, mitten in ihrem alltäglichen (Schul-)Leben. Sie treffen sich auch mittendrin im Buch mit ihren Geschichten. Es spielt keine Rolle, von welcher Umschlagsseite man beginnt. Man begegnet der je eigenen Geschichte dieses Kindes und wird so bereit für die scheinbar so gegensätzliche des anderen. Dieses Buch stellt keine moralischen Ansprüche, es ist im besten Sinn moralisch. Es macht aufmerksam und bereit für die Lebenswelt anderer – und für die eigene. Dieses Kinderbuch ist selber eine solche Geheimbox. Es braucht Mut, Sensibilität, Respekt vor Lebensgeschichten, deren Belastungen gleichzeitig auch Schätze und Ressourcen sind. Pädagogisch gilt es nicht nur Situationen zu lösen und zu bewältigen. Es gilt sie vor allem wahrzunehmen, auch zu begleiten, auszuhalten: mit Hoffnung ohne Illusionen.

Dieses Bilderbuch ist erst in französischer Sprache erschienen. Das kann es in der Primarschule, sofern dort Französisch gelernt wird, umso spannender machen. Weil der Textanteil mit einem Satz bzw. wenige Zeilen pro Doppelseite beschränkt ist, wird jede Lehrperson auch mit der Fremdsprache zurechtkommen. Die Bilder legen nicht fest, sie öffnen den Blick, wecken Phantasien, Verständnis, Respekt und verstärken Empathie.

Dem Buch ist noch ein deutschsprachiger Verlag, überhaupt weite Verbreitung zu wünschen, zumal in Kindergarten und Unterstufe.

Artikelnachweis
Kilchsperger, Johannes Rudolf (2024). Geheimbox, Giftschrank oder Schatztruhe? Rezension zu «Calme et tempête» von Maeva Rubli, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/johannes-rudolf-kilchsperger-geheimbox-giftschrank-oder-schatztruhe