Geschichten, die es in sich haben

Bossart, Rolf / Mustafi, Nadire / Winter-Pfändler, Monika / Zahner, Michael (Hrsg.): Erzähl nochmal. Geschichten aus Religionen, Kulturen und Zeiten, Zürich: TVZ 2023
Diese Auswahl von Geschichten aus Religionen, Kulturen und Zeiten ist ein Geschenk für alle, wie eine Schatzkiste. Es ist ein verlockendes Buch, das man gerne in die Hand nimmt. Freundlich aufgemacht und fröhlich gestaltet. Herausgeberschaft und Verlag machen nicht nur Lehrerinnen und Lehrern, vielmehr überhaupt allen, die mit Heranwachsenden zu tun haben, ein attraktives Angebot. Der Versuchung, die einzelnen Geschichten zu illustrieren, hat man widerstanden; lediglich die verschiedenen Teile sind mit unprätentiösen farbigen Vignetten versehen. Fast ausnahmslos habe ich diese 111 Geschichten mit Genuss, Aufmerksamkeit, Interesse und Gewinn gelesen. Sie sind vielfältig, gehaltvoll, überraschend, je nachdem irritierend oder plausibel. Sie sind mitunter in gutem Sinne «moralisch», aber nicht moralisierend, vielmehr ansprechend, herausfordernd, unterhaltsam und geistvoll lehrhaft und bildend. Die Sammlung der Geschichten ist nicht wirklich in bündige Kapitel gepackt, eher unter offene, lockere Rubriken geordnet, mit nüchternen bzw. augenzwinkernden Überschriften versehen: «Vom Kleinen und Grossen und von der Wahrheit» oder «Vom Guten, vom Bösen und allem dazwischen». Die sorgfältige sprachliche Gestaltung mit ihrer eleganten Schlichtheit macht die Texte für Alt und Jung zugänglich. Selbst nur ganz wenige Druckfehler sind stehengeblieben. Dieses Buch kann man einfach nur empfehlen zum Lesen, Vorlesen und Erzählen: zum «gesegneten Gebrauche», um mit den Alten zu reden. Geschichten haben ihre Zeit, in Bildung und Erziehung in Familien, in unseren Schulen, im nachdenklich kirchlichen Unterricht hoffentlich auch. Und ich meine, dass diese Zeit der Geschichten da ist und noch kommt. Auf ein solches Buch haben wir gewartet; es bleibt immer etwas Gewagtes und Unzeitgemässes damit verbunden. Auffällig und bemerkenswert ist, wie zugänglich und zurückhaltend diese Geschichten hier daherkommen. Wer sich bei dieser Sammlung an diejenigen erinnert, die Hubertus Halbfas vor Jahrzehnten engagiert herausgebracht hat – programmatisch und mit grosser Sachkenntnis vorgelegt im «Menschenhaus», «Weltenhaus», «Christenhaus» – staunt, wie unaufgeregt und gelassen nun Geschichten ganz verschiedener Art und Herkunft unter dem Titel «Erzähl nochmal» präsentiert werden. Man erwartet weder von Lesenden noch Hörenden jeden Alters Vorkenntnisse, rechnet jedoch mit Aufmerksamkeit, Interesse, Fragen, welche die hier versammelten Texte wecken können. Die Geschichten werden in einer überlegten Anordnung aneinandergereiht ohne didaktische Vorschläge oder gar Kommentare, was ihnen gut bekommt. Solche finden sich auch nicht auf der angegebenen Website, vielmehr jeweils ein paar mögliche Fragen, die sich auf die Geschichten beziehen oder von ihnen angeregt sein mögen, mehr nicht. Unterrichtende werden sich so selber von den Geschichten bewegen lassen wie Kinder auch. Die meisten Geschichten haben das über Jahrzehnte und Jahrhunderte bereits geleistet: tradiert zu werden und Menschen mit ihren Fragen beschäftigt zu haben. Sie haben Qualität über aktuelle Lehrpläne hinaus. Biblische Geschichten kommen wie Grimms Märchen, wie Fabeln und Legenden vor. Gelegentlich mag etwas viel Erbauliches aneinandergereiht sein. Bei biblischen Geschichten werden oft einzelne Verse angegeben; beim Tod Jesu ist jedoch eine freie Evangelienharmonie fabriziert. Wohl auch aus rechtlichen Gründen werden Texte frei nacherzählt. Unter Nummer 72 ist von einer alten Rabbinerin (!) die Rede. Beim biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter wird die Schlussermahnung vereinfacht. Amos wird erzählerisch gerahmt und mit einer fachgerechten Deutung versehen. In der populären Rosenwunderlegende zu Elisabeth von Thüringen ist die Rolle von Ehemann bzw. Schwiegermutter durch den Torwächter ersetzt. Schade, dass bei den Schweizergeschichten die klassischen Fassungen von Meinrad Lienert nicht zugezogen wurden. Von Zwingli wird wie von einem Heiligen «nach historischen Quellen» berichtet, jedoch unpräzise. Martinslegenden stehen inmitten von Schweizergeschichten.
Geschichten bloss als Literatur im Hinblick auf ihre Zugänglichkeit zu behandeln, mag eine berechtigte Möglichkeit sein, mutet aber etwas traditionell oder gar antiquiert an. Dieses Konzept hängt vermutlich mit Trägerschaft und Unterstützung durch die Stiftung Weltethos und einzelne Kantonalkirchen zusammen. Dass die blossen Erzählstoffe und literarische Gattungen im Vordergrund stehen, hat zur Kehrseite, dass Herkunft und Quellen meist nur allgemein angegeben, kontextuelle Hintergründe weitgehend ausgeblendet werden. Damit wird die Chance verpasst, für Religionen, Kulturen und historische Herkunft Interesse zu wecken, wie dies der Untertitel «Geschichten aus Religionen, Kulturen und Zeiten» verspricht. Was im Nachwort mit «Zeugenschaft» der Erzählenden beschworen wird, wirkt verkürzt oder anmassend. Diese Sammlung kommt daher, als gäbe es Spannungen um eine pluralistische, kulturell vielfältige Gesellschaft und die (auch postkoloniale) Debatte um Zugehörigkeit, Identifikation, Befremdung, Aneignung und dergleichen gar nicht.
Dass eine Publikation mit dem Logo einer Pädagogischen Hochschule mit der Parabel vom klugen Esel schliesst, welche die Überheblichkeit wissenschaftlicher Experten karikiert, wirkt immerhin als eine sympathisch unbeschwerte Provokation.
Rolf Bossart, der sich laut Quellenverzeichnis um viele der abgedruckten Texte verdient gemacht hat, proklamiert selbstironisch «pathetisch» einen «kollektiven Erzählschatz der Menschheit». In der heutigen Zeit wirkt das eher als tapfere Beschwörung denn als ein klärendes Konzept. Das Nachwort kommt sowohl merkwürdig thetisch bescheiden als auch argumentativ überhöhend daher. Über eine «interdisziplinär, interkulturell und innerreligiös (sic) zusammengesetzte Begleitgruppe» erfährt man gar nichts. Die fehlende Selbstverortung der Herausgeberschaft und des Erarbeitungsprozesses scheint denn auch der eigentliche Mangel dieser Ausgabe. Entsprechend unbefriedigend ist die Charakterisierung der Texte, z. B. durch «bestimmte Zeitlosigkeit» bzw. das Fehlen eines «bestimmten Entstehungsdatums», sind doch mitunter Autoren und Autorinnen benannt, einige sogar mit Verlagsrechten versehen. Mit zu grosser Kelle ist, wie ich meine, unnötig von der «pädagogischen und existenziellen Bedeutung des Erzählens» die Rede. Dazu wird immer noch unkritisch Bruno Bettelheim bemüht. Mitunter wird geradezu geheideggert. Man fragt sich, ob den Geschichten ihre Kraft doch nicht zugetraut wird, wenn man ihnen ein solches Nachwort mitgibt. Um es gleichwohl zusammenfassend im Sinne eines Verdachts positiv zu formulieren:
Diese Geschichtensammlung verfolgt nicht nur «eine möglichst niederschwellige, allgemeine Zugänglichkeit für Kinder.» Sie dient wohl zunächst vor allem Leserinnen und Lesern einer breiten Bildungsschicht wie pädagogisch beflissenen Menschen. Freude macht sie bestimmt allen Menschen mit Musse zum Lesen, Zuhören und Erzählen!
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