Vom Abschiednehmen und der kostbaren Endlichkeit


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Vom Abschiednehmen und der kostbaren Endlichkeit

Titelbild von "Das Wimmelbuch vom Abschied nehmen"

Bartenstein, Sophia und Peter, Andrea: Das Wimmelbuch vom Abschiednehmen, vatter & vatter, Bern/Berlin, 2024

 

Von Johannes Rudolf Kilchsperger

Wimmelbücher sind mehr als eine Methode, Aufmerksamkeit zu erzeugen oder Kinder abzufüttern. Längst werden Wimmelbilder mit Bedacht und Erfolg didaktisch benutzt, sei es im Mathematikunterricht wie auch in Lehrmitteln zu Religion und Ethik. «Didaktisch» heisst hier nicht zur Steuerung von Lernprozessen, vielmehr zur Anregung der Wahrnehmung und zur Abbildung von Welt und Lebenswelten. Wimmelbilder bilden Welt als Vielfalt ab, als Irritation im Nebeneinander und Miteinander. Wimmelbilder zu einem bestimmten Thema zeigen dessen Vielfalt auf mit möglichen Aspekten, Kontexten und Differenzierungen. Dennoch ist es eine Überraschung, ein Wimmelbuch vom Abschiednehmen vor sich zu haben. Da wird Verlust oder Trauer vielfältig im Alltag entdeckt und mit Lebenssituationen verbunden, die nicht zusammenhängen. Es erweitert damit Horizonte und ermöglicht Fokussierungen. Der Verlag vatter & vatter ist zu einem bekannten Wimmelbuch-Verlag geworden und hat hier etwas Neues gewagt. Andrea Peter hat «Das Wimmelbuch vom Abschiednehmen» locker und ansprechend illustriert. Manches erscheint direkt und unverhüllt, es wirkt vor allem alltäglich und zugänglich. Fragen können aufbrechen und bekommen ihren Platz. Dabei ist dieses Wimmelbuch kein Buch mit fragwürdigen Risiken. Fast wie in Schulbüchern wird auf einer ersten Doppelseite der Themenhorizont mit Fragen ausgebreitet: «Hast Du schon mal jemanden ganz fest vermisst?» «Was passiert eigentlich, wenn ein Lebewesen stirbt?» «Wer kann uns in schwierigen Zeiten unterstützen?» Man wird zum aufmerksamen Betrachten eingeladen und zum Mitgehen aufgefordert. Auf jeder Seite findet sich Vergnügliches, Anregendes und Aufregendes, Spannungsvolles auch, z. B. ein Fuchs in Begleitung eines weissen Hamsters, ein Hund auf dem Bett eines alten Mannes, ein Rollstuhlfahrer auf einer Pferdeweide, ein Kind, das einen Frosch aufspiesst usw. Das ganze Leben, möchte man sagen, wird hier sichtbar, wie es sein kann und wie es eben ist. Und zwar «kindgerecht»: unaufgeregt, nicht verschonend, zum Hinschauen und Betrachten, zum Wundern oder Übergehen, zum Fragen und Nachdenken. Da werden Leben und Alltag nicht beherrscht von Sterben und Tod und Palliative Care. Grenzerfahrungen und -situationen sind mitten im Alltag präsent. Sie gehören selbstverständlich und vielfältig zum Leben, nicht belehrend, nicht moralisierend, nicht exotisch oder gar voyeuristisch. Einfach so. Nicht als Katalog, vielmehr als kleine Geschichten, die in den Bildern erahnt, «gelesen», gedacht, in diskret angedeuteten möglichen Kontexten nachvollziehbar werden können. Man kann Figuren über verschiedene Seiten in weiteren Lebenssituationen wieder entdecken.

«Das Wimmelbuch vom Abschiednehmen» nimmt unaufdringlich teil an einer aktuellen gesellschaftlichen Diskussion.

Ein Verein hat im vergangenen Jahr mit einem Stadtfestival in Bern «die Themen wie Sterben, Tod und Trauer in die Öffentlichkeit gebracht, doch dabei wurde in keinem Moment vergessen, das Leben zu feiern.»1 Während in Massenmedien «Sterben und Tod» oft mit provokativen Tabubrüchen wie «Sterbekapsel Sarco» und dergleichen aufgegriffen werden, verfolgt dieser Verein ein erkennbares Anliegen jenseits von Effekthascherei oder aufdringlichem Moralisieren: die Diskussion über ein menschenwürdiges Lebensende in einer Zeit, da viele medizinische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Gesellschaft sich wandelt und sich in zentralen Lebensfragen Unsicherheit ausbreitet. Für eine freiheitliche Gesellschaft braucht es mehr als beliebige Möglichkeiten, vielmehr «compassionate cities»: Gemeinschaften, die Mitgefühl zulassen und Anteilnahme kultivieren. Der Verein «endlich.menschlich» scheint unter medizinischer Führung offensichtlich eine Bewegung zu sein, die gesellschaftlich breite Allianzen vertrauenswürdig bilden und Stimmen zur Diskussion in die Öffentlichkeit einbringen kann, auch mit den hier anzuzeigenden Medien.

Sind Wimmelbilder das eine Markenzeichen des Verlags vatter & vatter, sind es ebenso sogenannte Wortfächer: Zusammenstellung von Worten oder Sätzen, die als Denkanstösse nicht simpel, aber einfach sind, im besten Sinne elementar. Unter dem Namen des erwähnten Vereins «endlich.menschlich» hat der junge Verlag nun einen Wortfächer herausgebracht mit «50 lebensmutigen Denkanstössen der Endlichkeit». Man mag diese für sich bedenken, mit anderen teilen, anderen zum Gespräch anbieten oder zur Diskussion zumuten. So vielfältig die didaktischen Möglichkeiten von Wortfächern sind, so erfreulich wenig sind sie belehrend.

Anmerkungen

1 Verein endlich.menschlich (2024): Stadtfestival & Public Health und Palliative Care Kongress 2024. URL: https://endlich-menschlich.ch/festival/ (Zugriff am 06.01.2025).

Artikelnachweis

Kilchsperger, Johannes Rudolf (2025). Vom Abschiednehmen und der kostbaren Endlichkeit. Rezension zu «Das Wimmelbuch vom Abschiednehmen» von Sophia Bartenstein und Andrea Peter, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/johannes-rudolf-kilchsperger-vom-abschiednehmen-und-der-kostbaren-endlichkeit