500 Jahre Reformation: tote Geschichte oder lebendige Gegenwart?


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500 Jahre Reformation: tote Geschichte oder lebendige Gegenwart?

Ein Unterrichtsentwurf für den 3. Zyklus

Reformation – Kritik an bestehenden Verhältnissen, Selbstbehauptung, Konflikt und Entscheidungsfindung: So verstaubt die Reformation auf den ersten Blick sein mag, ihre grundlegenden Themen bleiben aktuell, über die Konfessionsgrenzen hinweg. Der Unterrichtsentwurf bleibt nicht in der Geschichte stecken, sondern schlägt den Bogen ins Heute. Auf den Spuren der Geschichte ermöglicht der historische Kontext eine persönliche Auseinandersetzung, in der sich die Themen der Reformation widerspiegeln.
Von Hanna Kehle

Einleitung

Die Idee und auch die in der Praxis erprobte Umsetzung des Unterrichtsentwurfs entstand im Rahmen des kirchlichen Religionsunterrichts in der Pfarrei Bruder Klaus in Bern. Der vorliegende Entwurf wurde aber sowohl inhaltlich als auch zeitlich für den konfessionsungebundenen schulischen Unterricht im Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG) für die Sekundarstufe I überarbeitet und ergänzt. Der Entwurf versteht sich als Hilfe und Anregung. Eine Anpassung an die jeweilige Klassensituation seitens der Lehrperson ist Grundvoraussetzung für einen gelingenden Unterricht. Zumal es schwierig einzuschätzen ist, welches Vorwissen und welche religiösen Hintergründe die Schülerinnen und Schüler jeweils mitbringen. Es ist gut möglich, auch nur einzelne Bausteine des Entwurfs zu übernehmen oder die im Lehrplanbezug vorgestellten weiterführenden Ideen und Umsetzungsvorschläge aufzugreifen, gegebenenfalls auch fächerverbindend mit Geschichte, Musik und/oder Bildnerischem Gestalten.

Zielsetzung

Das Ziel der Unterrichtseinheit ist es, anhand eines religionsgeschichtlich zentralen Themas wie der Reformation den Blick für komplexe gesellschaftliche, religionspolitische und religiöse Zusammenhänge zu schärfen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Wahrnehmung historischer Ereignisse zu schulen und dabei den Bogen immer in unsere heutige Zeit, in die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu schlagen, indem sie sich fragen: Was hat das mit mir zu tun? Betrifft mich das in meinem Alltag? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht?

Bei aller Geschichtsträchtigkeit steht also das, was wir heute von den Spuren vor und nach der Reformation noch in unserem Alltag vorfinden, wozu wir Zugangsmöglichkeiten und eventuell auch Fragen haben, im Fokus der Unterrichtseinheit.

Dabei werden praktische Umsetzungen wie der Besuch in einem reformierten, ehemals katholischen Kirchengebäude ebenso empfohlen, wie der Gegenbesuch in einer katholischen Kirche. Es werden mit Hilfe eines Filmausschnitts exemplarische Lernformen ermöglicht und kreative Methoden erprobt. Auch der Umgang mit biblischen Texten und deren Bedeutung für die Argumentation der reformatorischen Idee wird mit Hilfe von schüleraktivierenden Methoden erarbeitet.

Da die spätmittelalterliche Didaktik uns erfreulicherweise eine grosse und reichhaltige Anzahl an Bildern überlassen hat, wird die Methode der Bildbetrachtung und -beschreibung auf verschiedene Art und Weise immer wieder in den einzelnen Sequenzen aufgegriffen und mit den Schülerinnen und Schülern geübt.

Überblick

Der Unterrichtsentwurf umfasst zehn Lektionen (L), die folgendermassen aufgebaut sind:

L Inhalt / didaktischer Gegenstand Didaktische Begründung
1 Einstieg ins Thema anhand einer spielerischen Zuordnung mittelalterlicher Kopfbedeckungen

Das Eingangsportal des Berner Münsters

Die Kopfbedeckungen können in den folgenden Sequenzen immer wieder entdeckt werden

Annäherung an mittelalterliche Ständegesellschaft

Annäherung an das mittelalterliche Welt- und Menschenbild: Jenseitsvorstellungen

2 Gruppenarbeit zu den spätmittelalterlichen Lebensumständen um 1500 mit anschliessender Präsentation

  • Tagesablauf eines Schneidermeisters am 31. Oktober 1507
  • Bild und Text von Boccaccio zur Pest
  • Bild und Text Reliquienverehrung
  • Bilder und Text zu «Das Fegefeuer und der Ablass»
Themenspezifisch vertiefende Erarbeitung in Gruppen

Alle Arbeitsaufträge beinhalten mindestens einen Teil, der die Schülerinnen und Schüler zur persönlichen Auseinandersetzung anregt bzw. sie dazu befähigt, sich in die Lebensumstände der damaligen Zeit hineinzuversetzen

3 Zuordnung der Gruppenergebnisse zu den vier Begriffen Angst, Not, Hoffnung, Trost

Ausschnitt aus dem Film «Luther», Der junge Martin Luther in Rom

Wissensstrukturierung und Ergebnissicherung

Audiovisuelle Annäherung an das spätmittelalterliche Lebensgefühl mit Hilfe des Films

Exemplarisches Lernen anhand kreativer Methoden, u. a. Tagebucheintrag

4 Einstieg: Titelbild von Luthers Streitschrift «Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche»

Auswertung der Tagebucheinträge

Der Ablasshandel: «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt!», Filmausschnitt zum Auftritt des Ablasspredigers Johannes Tetzel

Die Thesen Luthers (Auswahl) als Antwort

Inhaltliche Herleitungen durch erarbeitetes Vorwissen

Exemplarisches, personenbezogenes Lernen; Aktivierung von Vorwissen

5 Das Evangelium als Grundlage der reformatorischen Idee: Erarbeitung anhand einschlägiger Bibelstellen

Abschluss: Provokantes Flugblatt zu Luthers Schrift

Quellenarbeit: Umgang mit religiösen Texten als Grundlage für die reformatorische Idee

Bewusstwerden der gesellschaftspolitischen Folgen der Reformation

6&7 Besuch einer reformierten, ehemals katholischen Kirche (z. B. Berner Münster)

Spuren der Geschichte entdecken

Lebensumfeld als Lernwelt

Noch heute sichtbare Folgen der Reformation erkennen

8 Auswertung der Exkursion

Besuch einer katholischen Kirche – Schülerinnen und Schüler als Ratsmitglieder: Wenn der Rat für den Bildersturm stimmt, was müsste aus der Kirche entfernt werden?

Ratsversammlung zum Bildersturm

Lebensumfeld als Lernwelt

Rollenspiel

Festigung und Vertiefung des erarbeiteten Wissens

9 «Reformation heute» – Teil I

Einstieg mit Karikatur

Schülerinnen und Schüler erstellen einen Wikipedia-Artikel zur Reformation

Wissenssicherung und -transfer
10 «Reformation heute» – Teil II

Stationenarbeit: Annäherung der Konfessionen

  • Pilgern
  • Der Papst und das Gewissen
  • Das Kerzenkässeli im Münster
  • Predigt und Wort Gottes im katholischen Gottesdienst

Abschluss: Zitat Luther «Wenn Du die Welt verändern willst, nimm einen Stift und schreib.»

Verbindende Elemente und verschiedene Formen der Annäherung beider Konfessionen 500 Jahre nach der Reformation

Möglichkeit, zuvor Erlerntes argumentativ aufzugreifen und die persönliche Meinung fundiert zu begründen

Lehrplanbezug

Auf den ersten Blick mag das Thema «Reformation» zur Bearbeitung im Fach ERG eher sperrig und unzugänglich erscheinen. Zudem wird man einwenden können, dass es wohl eher in den Geschichtsunterricht passt. In der Tat, es gibt eine gewinnbringende Verbindung zum Fach Geschichte, zugleich bestehen aber reichhaltige Möglichkeiten die «Reformation» bewusst im Fach ERG zu verorten. Die Bezüge zum Lehrplan 21 des Kantons Bern sollen dies im Folgenden verdeutlichen.

Der Kompetenzbereich ERG 3 im Lehrplan 21 verweist auf Kompetenzen, die in der Auseinandersetzung mit dem Thema «Reformation» in vielerlei Hinsicht gestärkt werden können. Der weitläufige Analphabetismus des Spätmittelalters beschert uns heute eine grosse Menge an Bildmaterial, die uns die Lebens- und Glaubenshaltung der damaligen Zeit anschaulich vermittelt. Die religiösen Motive im Alltag, wie z. B. das Kreuz, der Hahn und das Gebet (früher und heute), dazu in kulturellen Werken wie z. B. Kirchenbauten vor und nach der Reformation, Musik wie die Werke von Johann Sebastian Bach, aber auch die Bibel als kulturelles Erbe, können in der Analyse als reformatorische Wirkung auf unsere Kultur erkennbar werden. Um die Einflüsse der Reformation auf das gesellschaftliche Gefüge damals und heute verstehen zu können, braucht es Vorwissen über die Lebensumstände und die gesellschaftliche Ordnung im Spätmittelalter (ERG 3.1 und ERG 3.2).

Auch hinsichtlich des Kompetenzbereichs ERG 4 bietet das Unterrichtsthema «Reformation» vielfältige Umsetzungsmöglichkeiten: Die Bedeutung des biblischen Textmaterials für die Vehemenz und den Erfolg der Reformatoren, allen voran Martin Luther und Huldrych Zwingli mit ihren Bibelübersetzungen, ist offensichtlich (ERG 4.1). Auch die (historische) religiöse Praxis muss zum Verständnis des Anliegens der Reformation in den lebensweltlichen Kontext eingeordnet und ihre wechselseitigen Beziehungen beleuchtet werden. Es kann darüber hinaus auch auf heutige Praxis und ihren jeweiligen Kontext Bezug genommen werden (ERG 4.2). Die Diskussion um Festtraditionen, wie beispielsweise die Fastnacht bzw. das Fasten, lässt anhand reformatorischer Fragestellungen, wie z. B. der Abschaffung des Fastens und damit auch der Fastnacht, jedoch Erhalt der Festtradition «Fastnacht» z. B. in Basel mit der provokanten Verschiebung von einer Woche nach Beginn der katholischen Fastenzeit, anschauliche Erklärungen heutiger Festtraditionen zu (ERG 4.3). Wissen erzeugt Wertschätzung und Respekt und beugt Vorurteilen vor – so kann der interkonfessionelle, aber auch der interreligiöse und der Dialog zwischen Gläubigen und Agnostikern anhand des Unterrichtsthemas «Reformation» gewinnbringend vorangebracht werden. Der zeitliche Abstand der Fragestellung von 500 Jahren entschärft das Konfliktpotenzial, zeigt zugleich aber in spielerischer Weise auf, welche Unterschiede im Glauben heute noch bestehen und welche davon bis heute auf der institutionellen Ebene nachwirken, aber eventuell auf der individuellen Ebene gar keine Rolle spielen. Zugleich bieten sich, wenn Schülerinnen und Schüler mit hinduistischem, jüdischem oder muslimischem Hintergrund in der Klasse sind, Verknüpfungen für einen spannenden interreligiösen Austausch an, z. B. hinsichtlich des Bildersturms (ERG 4.4). Die Weltsicht und Weltdeutung des Spätmittelalters sind insbesondere durch ihr reichhaltiges Bildmaterial für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I leicht zugänglich, zugleich sind einige Elemente der mittelalterlichen Lebenswelt für uns heute so unverständlich (z. B. Ablasshandel), dass sie von uns umgehend hinterfragt werden wollen und zum Diskutieren anregen (ERG 4.5).

Zusatzmaterial

In der Lektionenplanung und den weiteren Zusatzmaterialien werden folgende Abkürzungen verwendet: Arbeitsauftrag (AA), Arbeitsblatt (AB), Arbeitsform (AF), Gruppenarbeit (GA), Gruppenpräsentation (GP), Hausaufgaben (HA), Lehrer-Schüler-Gespräch (LSG), Lehrervortrag (LV), Lehrperson (LP), Martin Luther (ML), Materialblatt (MB), Mittelalter, eigentlich: Spätmittelalter (MA), Partnerarbeit (PA), Schülerinnen und Schüler (SuS), Schülervortrag (SV), Tafelanschrieb (TA), Unterricht (U), Unterrichtseinheit (UE)

Quellen

Audiovisuelle Medien
Till, Eric (2003): Luther – Er veränderte die Welt für immer (Spielfilm), Bundesrepublik Deutschland.
Internetquellen
Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA): Die Reformation, www.eda.admin.ch/dam/PRS-Web/de/dokumente/die-reformation_DE.pdf (07.12.2017)
Here I stand – Posterausstellung zum Reformationsjubiläum, www.here-i-stand.com/de/ (07.12.2017).
Lehrplan 21, Kanton Bern – Ethik, Religionen, Gemeinschaft (mit Lebenskunde), be.lehrplan.ch/index.php?code=b|6|5
Schmidt, Heinrich Richard (2006): Macht und Reformation in Bern, www.schmidt.hist.unibe.ch/veroeff/SchmidtHRMachtundReformation.pdf (07.12.2017).
Printmedien
Dam, Harmjan (2010): Kirchengeschichte im Religionsunterricht. Basiswissen und Bausteine für die Klassen 5–10, S. 59–75 («Martin Luther – Die evangelische Kirche spaltet sich von der katholischen ab»).
Dengler, Mark (2017): Die Reformation: 1517–1648, Schwalbach.
Landgraf, Michael (2016): Reformation. Martin Luther und die Reformatoren, Stuttgart.
Petri, Dieter / Thierfelder, Jörg (2015): Grundkurs Martin Luther und die Reformation. Materialien für Schule und Gemeinde, Stuttgart
Sladeczek, Franz-Josef (2000): Bern 1528. Zwischen Zerstörung und Erhaltung, in: Dupeux, Cécile et al. (Hrsg.): Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog zur Ausstellung, Bernisches Historisches Museum, Zürich, S. 97–103.121.
Vischer, Lukas et al. (Hrsg.) (1998): Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Basel, S. 103–134 («Das Zeitalter der Reformation»).
von Burg, Christian (2000): 16. Jahrhundert, Mitteleuropa «ich schiss in das heilig krüz!» – Wie Ikonoklasten mit Fäkalien Bilder und Altäre schänden, in: Dupeux, Cécile et al. (Hrsg.): Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog zur Ausstellung, Bernisches Historisches Museum, Zürich, S. 120.
Zeindler, Matthias / Sallmann, Martin (2013): Die Berner Reformation. Impulse für die Kirchen der Gegenwart, in: dies. (Hrsg.): Dokumente der Berner Reformation: Disputationsthesen, Reformationsmandat und Synodus, Zürich, S. 10–38.
Artikelnachweis
Kehle, Hanna (2017): 500 Jahre Reformation: tote Geschichte oder lebendige Gegenwart? Ein Unterrichtsentwurf für den 3. Zyklus, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/kehle-500-jahre-reformation/

Über Hanna Kehle

Hanna Kehle studierte an der Universität Tübingen, arbeitete von 2014 bis 2017 als Religionspädagogin in der Pfarrei Bruder Klaus in Bern und ist seit Sommer 2017 als Gymnasiallehrerin tätig, unter anderem für das Fach Religionslehre.