„Das Ergänzungsfach Religionslehre im Kontext der Idee gymnasialer Bildung
Implikationen des Maturitätsanerkennungsreglements MAR (EFRL, Teil 2)
1. Der Art. 5 MAR und das Ergänzungsfach «Religionslehre»
Eine Didaktik des gymnasialen bekenntnisunabhängigen Religionsunterrichts ist grundsätzlich bildungstheoretisch zu rahmen, da sich das Gymnasium selbst als Bildungs- und nicht als (fachspezifische oder berufliche) Ausbildungsinstitution versteht. Leitend für eine Rahmung des gymnasialen Fachunterrichts in der Schweiz ist der Art. 5 MAR «Bildungsziel», der trotz möglicher kritischer Rückfragen bis hin zur Forderung einer Totalrevision desselben[1] immer noch adäquat die eigentliche Aufgabe gymnasialer Bildung konturiert:
Art. 5 Bildungsziel
1 Ziel der Maturitätsschulen ist es, Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf ein lebenslanges Lernen grundlegende Kenntnisse zu vermitteln sowie ihre geistige Offenheit und die Fähigkeit zum selbständigen Urteilen zu fördern. Die Schulen streben eine breit gefächerte, ausgewogene und kohärente Bildung an, nicht aber eine fachspezifische oder berufliche Ausbildung. Die Schülerinnen und Schüler gelangen zu jener persönlichen Reife, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet. Die Schulen fördern gleichzeitig die Intelligenz, die Willenskraft, die Sensibilität in ethischen und musischen Belangen sowie die physischen Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler.
2 Maturandinnen und Maturanden sind fähig, sich den Zugang zu neuem Wissen zu erschliessen, ihre Neugier, ihre Vorstellungskraft und ihre Kommunikationsfähigkeit zu entfalten sowie allein und in Gruppen zu arbeiten. Sie sind nicht nur gewohnt, logisch zu denken und zu abstrahieren, sondern haben auch Übung im intuitiven, analogen und vernetzten Denken. Sie haben somit Einsicht in die Methodik wissenschaftlicher Arbeit.
3 Maturandinnen und Maturanden beherrschen eine Landessprache und erwerben sich grundlegende Kenntnisse in anderen nationalen und fremden Sprachen. Sie sind fähig, sich klar, treffend und einfühlsam zu äussern, und lernen, Reichtum und Besonderheit der mit einer Sprache verbundenen Kultur zu erkennen.
4 Maturandinnen und Maturanden finden sich in ihrer natürlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt zurecht, und dies in bezug auf die Gegenwart und die Vergangenheit, auf schweizerischer und internationaler Ebene. Sie sind bereit, Verantwortung gegenüber sich selbst, den Mitmenschen, der Gesellschaft und der Natur wahrzunehmen.[2]
Der Bildungsartikel des MAR postuliert allgemein ein förderorientiertes (und erst sekundär selektionsorientiertes) Bildungsziel, das insgesamt auf die Bildung der Persönlichkeit fokussiert und auf der Qualifikationsebene in zwei Hauptziele mündet: allgemeine Studierfähigkeit[3] und «vertiefte Gesellschaftsreife»[4]. Die übrigen Ziele können den genannten Hauptzielen einzeln oder gemeinsam zugeordnet werden, indem sie diese auf unterschiedliche Weise direkt wie indirekt flankieren, entfalten und präzisieren.[5] Auf der Basis des MAR mit seiner breiten Fächerstruktur und den individuellen Schwerpunktsetzungen kann ein Bildungsbegriff operationalisiert werden, der als «Kompromiss zwischen der Idee von Bildung als Allgemeinbildung und der Idee von Ausbildung als Förderung von individuell und gesellschaftlich verwertbaren Fähigkeiten»[6] einzuordnen ist.
Es soll in der Folge nun gefragt werden, inwiefern Art. 5 MAR für eine Didaktik der gymnasialen Religionslehre Rahmenbedingungen schafft, die nicht leichtfertig übergangen werden können, sondern vielmehr für eine Fachdidaktik gymnasialer Religionslehre leitend sind. Im Fokus stehen dabei zunächst grundlegende, (auch auf Volksschulstufe) kontrovers diskutierte Fragen nach den Bezugswissenschaften, dem Religionsbegriff, nach einer vorläufigen Bestimmung der Bekenntnisunabhängigkeit, nach einer ersten didaktischen Kontur und der inhaltlichen Stossrichtung des EF Religionslehre.
2. Die Frage nach den Bezugswissenschaften von Religionslehre
Argument der Wissenschaftstraditionen
Allgemeine Studierfähigkeit zielt einerseits auf überfachliche Kompetenzen, andererseits soll in den einzelnen Fächern im Sinn der Propädeutik (Art. 5,2 MAR) entsprechend den universitären Wissenschaftstraditionen fachspezifisches Wissen aufgebaut und entsprechende Methodik erlernt werden: «Weil an den Universitäten recht unterschiedliche Wissenschaftstraditionen bestehen, ergibt sich als Folge, dass alle wichtigen Wissenschaftskategorien über die entsprechenden Fächer auch am Gymnasium vertreten sein sollten.»[7] Mit Blick auf das EF Religionslehre bedeutet dies, dass auch innerhalb des Faches zumindest die beiden grossen Wissenschaftstraditionen im Bereich Religion – also Theologie und Religionswissenschaft (und deren diverse Subdisziplinen) – als Bezugswissenschaftstraditionen inhaltlich und methodisch zur Geltung kommen müssen bzw. sollten.
Argument der Fachlichkeit
Das Gymnasium soll keine fachspezifische Ausbildung anbieten:
Die Schulen streben eine breit gefächerte, ausgewogene und kohärente Bildung an, nicht aber eine fachspezifische oder berufliche Ausbildung.
Das heisst: «Mit dem Satz wird aber nicht die Fachlichkeit in Frage gestellt. Gemeint ist, dass keine Fachspezialisierung erfolgen und kein Fach ein besonderes Gewicht haben soll, was im Hinblick auf die finalen Ziele wieder stimmig ist.»[8] Auf die Frage nach den Bezugswissenschaften für das EF Religionslehre kann auch hier analog geschlossen werden, dass sich eine einseitige Bevorzugung von Theologie oder Religionswissenschaft (oder Religionsphilosophie, Religionssoziologie etc.) innerhalb des Faches mit Blick auf die gymnasiale Idee ausgewogener, breit gefächerter und kohärenter (Allgemein-) Bildung verbietet, will man das Kriterium der Fachlichkeit nicht verfehlen.
Argument der domänenspezifischen Rationalitätsmodi
Die an Schweizer Gymnasien angestrebte «breit gefächerte, ausgewogene und kohärente Bildung» (MAR Art. 5,1) kann sich nur realisieren, wenn daselbst die gesellschaftliche Realität funktionaler Ausdifferenzierung gespiegelt und bildend bearbeitet wird, ohne jedoch in irgendeine Form einheitswissenschaftlicher Zentralperspektive zu münden, sondern vielmehr Perspektivenwechsel als Differenzkompetenz eingeübt wird[9]. Hierauf zielen PISA und die Systematik von Jürgen Baumert, wenn sie von domänenspezifischen, unterschiedlichen, sich perspektivisch ergänzenden und aufeinander verweisenden Rationalitätsmodi sprechen, wobei Philosophie und Religion als «Probleme konstitutiver Rationalität» (Baumert) verstanden werden bzw. «religiös-konstitutive Rationalität» (PISA) als eigener Rationalitätsmodus bestimmt wird.[10] Würde man nun im Fach Religionslehre allein eine kulturwissenschaftliche Perspektive (wie in der aktuellen Religionswissenschaft üblich) gelten lassen, verschlösse man sich den Problemen «konstitutiver Rationalität», denen sich die Religionen in ihren Theo-, Dharma- und Magiologien ebenso wie in ihren Ritualen gestaltend aussetzen. Religionskulturen würden um ihre eigene, religionsproduktive Perspektivität gebracht, religiöse Kommunikation in ihrem intrinsischen Anspruch stünde nicht zur Debatte, Differenzkompetenz könnte gar nicht bildend zur Geltung kommen.
Argument der vertieften Gesellschaftsreife als Perspektivenwechselkompetenz
Das Ziel der vertieften Gesellschaftsreife strebt ein ebenso selbstbestimmtes und vernunftbasiertes verantwortetes wie empathisches Handeln der Jugendlichen in der und für die Gesellschaft an, wobei die entsprechenden Lernprozesse in ihrer Aneignungslogik auch pädagogisch, lern- und entwicklungspsychologisch zu orientieren sind. Die pädagogische Theorie der Entwicklungsaufgaben Jugendlicher ortet auch im Bereich Religion eine entsprechende, spezifische Aufgabe des Jugendalters (in unseren Breitengraden)[11]: In Bezug auf das Phänomen Religion bedeutet dies, dass (grob vereinfacht gesagt) die für die Lerngegenstände herangezogenen Quellen mit Blick auf den Kompetenzaufbau einer solchen entwicklungsadäquaten Gesellschaftsreife sowohl religionsspezifische theologische (im weitesten Sinn) Selbstauskünfte (religiöse Kommunikationen) wie entsprechende theologische und religionswissenschaftliche Fremdzugänge sind (metareligiöse Kommunikationen), an denen sich die Jugendlichen kritisch abarbeiten, um zu vorläufigen Positionierungen zu gelangen. Theologie und Religionswissenschaft tragen mit ihrer je eigenen (und innerhalb der einzelnen Wissenschaftstradition je spezifischen) Perspektivität somit komplementär zu einer entwicklungsgerechten, vertieften Gesellschaftsreife im Sinn einer multiperspektivischen Zugangskompetenz zum Phänomen Religion bei, eine einseitige Bevorzugung einer einzelnen Bezugswissenschaft würde das angestrebte Bildungsziel verfehlen.
Pädagogisch-didaktisches Argument
Nicht zuletzt gilt es zu beachten, dass am Gymnasium im Blick auf Studierfähigkeit und vertiefte Gesellschaftsreife ebenso zugängliche und relevante Lerngegenstände gesichtet werden (am besten angestossen durch die Fragen der Schülerinnen und Schüler selbst), die in ihrer Operationalisierung in Lernprozessen ihrerseits bestimmte didaktische, inhaltliche wie methodische Zugänge bedingen: «Erst von dieser pädagogischen Situierung her stellt sich dann die Frage, welches relevante Wissen in die Lernprozesse einzubringen ist und welche Beiträge die Bezugswissenschaften (beispielsweise Philosophie, Theologie, Sozial- und Religionswissenschaft) auf welche Weise beisteuern können.»[12] Gerade aus pädagogisch-didaktischer Perspektive sind die Zielvorgaben der MAR Art. 5 mit Blick auf die Frage der Bezugswissenschaften also nur einzuholen, wenn im Bereich Religion die verschiedenen Wissenschaftstraditionen bespielt werden.
3. Die Frage nach dem Religionsbegriff
Die eben erfolgten Überlegungen zur Frage nach den Bezugswissenschaften auf der Basis von MAR Art. 5 münden notwendigerweise in einen Religionsbegriff, der nicht aus einer spezifischen Wissenschaftstradition zu gewinnen ist, sondern die mögliche Vielfalt des Zugangs zum seinerseits vielgestaltigen Phänomen Religion offenhalten muss. Insofern ist allein ein multiperspektivischer, pluriformer Religionsbegriff für das Fach EF Religionslehre sinnvoll zu didaktisieren, der fachspezifisch die verschiedenen Rationalitätsmodi zur Geltung bringt. Dies umso mehr als aus didaktisch-pädagogischer Perspektive die zu be- und verhandelnden (gesellschaftlichen wie persönlichen) religionsbezogenen Anforderungssituationen und Bewältigungskontexte je nachdem von sich aus nach unterschiedlichen Zugängen verlangen.
4. Die Frage nach der Bekenntnisunabhängigkeit
Da das am Gymnasium angebotene EF Religionslehre ein prinzipiell für alle Lernenden zu konzipierendes Angebot ist, darf es nicht den Charakter eines «religiösen Unterrichts» haben (BV Art 15 Abs 3). Diese rechtliche Bestimmung besagt nicht mehr und nicht weniger als dass der staatlich verantwortete Religionsunterricht keine konfessionelle, monoreligiöse kerygmatische Unterweisung sein darf, die auf Überwältigung abzielt. Sie besagt aber nicht, dass Lernende nicht auch an und durch religiöse Quellen (im weitesten Sinn) existentiell (religiös) herausgefordert werden und sich entsprechend positionieren sollen. Ansonsten ist nicht ersichtlich, wie die Ziele der vertieften Gesellschaftsreife und der allgemeinen Studierfähigkeit erreicht werden können, da diese u. a. Positionalität bedingen, gerade in jenen Inhaltsbereichen, bei deren Bearbeitung konstitutive Rationalität ins Spiel kommt.
Dass der konstitutive Rationalitätsmodus religiöser und/oder theologischer Kommunikation jeweils notgedrungen ein konfessioneller oder zumindest konfessorischer ist, bedeutet keineswegs zwangsläufig, dass der Unterricht (religiös) konfessionell verantwortet oder gerahmt werden muss.[13] Vielmehr werden im Unterricht die Eigenlogiken der jeweiligen konfessionellen Sprachspiele gesichtet, geklärt und beurteilt. Doch gerade wenn auch selbständiges Urteil und Positionalität seitens der Lernenden angestrebt werden, stellt sich die Frage nach dem Bezugsrahmen einer solchen Urteilskultur. Insofern hat auch ein bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht als Unterricht bzw. als Bildungsprozess im weitesten Sinne eine «Konfession»; diese Konfession als inhaltlich-kriteriologische Rahmung im Sinn eines habituellen wie kommunikativen Modus des Religionsunterrichts speist sich nicht aus einer sog. Bezugsreligion oder deren unaufgebbaren Perspektivität (z. B. protestantische Rechtfertigungslehre für den evangelisch verantworteten RU), sondern aus den der gymnasialen, staatlich verantworteten Bildung zu Grunde liegenden Zielwerten und -haltungen, wie sie im MAR Art. 5 (explizit wie implizit) zum Ausdruck kommen:
1 Ziel der Maturitätsschulen ist es, Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf ein lebenslanges Lernen grundlegende Kenntnisse zu vermitteln sowie ihre geistige Offenheit und die Fähigkeit zum selbständigen Urteilen zu fördern. Die Schulen streben eine breit gefächerte, ausgewogene und kohärente Bildung an, nicht aber eine fachspezifische oder berufliche Ausbildung. Die Schülerinnen und Schüler gelangen zu jener persönlichen Reife, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet. Die Schulen fördern gleichzeitig die Intelligenz, die Willenskraft, die Sensibilität in ethischen und musischen Belangen sowie die physischen Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler.
2 Maturandinnen und Maturanden sind fähig, sich den Zugang zu neuem Wissen zu erschliessen, ihre Neugier, ihre Vorstellungskraft und ihre Kommunikationsfähigkeit zu entfalten sowie allein und in Gruppen zu arbeiten. Sie sind nicht nur gewohnt, logisch zu denken und zu abstrahieren, sondern haben auch Übung im intuitiven, analogen und vernetzten Denken. Sie haben somit Einsicht in die Methodik wissenschaftlicher Arbeit.
3 Maturandinnen und Maturanden beherrschen eine Landessprache und erwerben sich grundlegende Kenntnisse in anderen nationalen und fremden Sprachen. Sie sind fähig, sich klar, treffend und einfühlsam zu äussern, und lernen, Reichtum und Besonderheit der mit einer Sprache verbundenen Kultur zu erkennen.
4 Maturandinnen und Maturanden finden sich in ihrer natürlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt zurecht, und dies in bezug auf die Gegenwart und die Vergangenheit, auf schweizerischer und internationaler Ebene. Sie sind bereit, Verantwortung gegenüber sich selbst, den Mitmenschen, der Gesellschaft und der Natur wahrzunehmen.
Diese im MAR Art. 5 in keiner Weise systematisierten und auch leicht eklektischen Bildungsziele beschreiben bzw. konturieren grob eine Bildungsidee in westeuropäischer, aufklärerisch-humanistischer, (bildungs-, wie staats-) bürgerlicher Tradition (die sich freilich gegen und mit «dem Christentum» formierte und formiert) als Voraussetzung persönlicher Reife und entsprechender mündiger Partizipation in einer demokratischen Gesellschaft. Unterricht und somit auch religionsbezogener Unterricht im EFRL weiss sich diesen demokratisch legitimierten Bildungszielen verpflichtet und konfrontiert dieselben im Bildungsprozess selbst notgedrungen mit den intrinsischen Ansprüchen sowohl religiöser wie metareligiöser (bzw. im weitesten Sinn kulturwissenschaftlicher) Kommunikation. Damit ist aber nicht eine «natürliche Religion» im Gefolge Kants als quasi erkenntnistheoretisch normative Bezugsreligion im Blick[14], sondern es handelt sich um eine bildungstheoretische Rahmung des Unterrichts, die unterrichtlich im Lernprozess als wertegeleiteter (Wissen, Autonomie, geistige Offenheit, Empathie, Vorstellungskraft etc.) und gleichsam wissenschaftspropädeutischer (z. B. Einsicht in die Methodik wissenschaftlicher Arbeit) Kommunikationshabitus und -modus ebenso kritisch wie selbstkritisch das Gespräch mit den intrinsischen Ansprüchen religiöser wie metareligiöser Kommunikation aufnimmt. Bei diesem sine ira et studio geführten Gespräch kommt es auf der Seite der Rezipierenden (Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler) notgedrungen ebenso zu (Selbst-) Anfragen, Irritationen und Verunsicherungen wie zu Unverständnis, Abwehr und begründeter Zurückweisung; Konsens, (Selbst-) Bestätigung und Horizonterweiterung sind ebenso zu erwarten wie nicht zuletzt Reformulierungen des unterrichtlichen Prozesses als solches (als wertegeleiteter und wissenschaftspropädeutischer Kommunikationshabitus), so dass die Bildungsziele selbst prinzipiell zur Debatte stehen.[15]
M. a. W. besteht das Bekenntnis des bekenntnisunabhängigen Unterrichts im wertegeleiteten, bildungszielorientierten Unterrichten selbst (das seinerseits immer nur zögerlich entschieden sein kann, will es nicht zu fixierender, dogmatistischer und monokultureller Praxis degenerieren und somit sich selbst widersprechen), das durchaus perspektivisch, aber ebenso veränderungsoffen Traditionen religiöser wie metareligiöser Kommunikation befragt bzw. sich durch sie befragen lässt.
5. Die Frage nach einer ersten didaktischen Kontur
Vertiefte Gesellschaftsreife und Studierfähigkeit sollen sich als persönliche Verantwortungsübernahme zeigen, die ihrerseits auf der Basis grundlegender Kenntnisse die Fähigkeit zum selbständigen Urteilen voraussetzt. Urteilsfähigkeit und entsprechende Verantwortungsübernahme der Lernenden zielen auf solid informierte Positionalität ab und somit auf argumentative, diskussionsoffene, (immer) vorläufige Normativität. Dies schliesst Fähigkeiten des (empathischen) Wahrnehmens, Beschreibens und Klassifizierens ein, kann sich aber nicht in solchen Kompetenzen erschöpfen, sondern sucht nach einem hermeneutisch erarbeiteten, persönlichen Standpunkt, der es den Lernenden ermöglicht, sich auf verschiedenen Ebenen in der Gesellschaft zurecht zu finden:
Maturandinnen und Maturanden finden sich in ihrer natürlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt zurecht, und dies in bezug auf die Gegenwart und die Vergangenheit, auf schweizerischer und internationaler Ebene.
Insgesamt strebt der Bildungsartikel der MAR also auf verschiedenen Ebenen eine allgemeine Orientierungskompetenz als Differenzkompetenz der Lernenden an.
Was bedeuten diese Zielvorgaben des MAR Art. 5 für eine erste didaktische Kontur des EF Religionslehre? Es gilt zu entfalten, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten religionsbezogene Orientierungskompetenz in Auseinandersetzung mit religiöser und metareligiöser Kommunikation als Differenzkompetenz bedingt. Ohne ein später zu entwickelndes Kompetenzenmodell vorwegzunehmen, ist mit Blick auf MAR Art. 5 festzuhalten, dass die Lernenden befähigt werden sollen, religiöse, religionsbeschreibende, religionsrechtliche, religionskritische etc. Quellen (im weitesten Sinn) in ihrer je eigenen Perspektivität (formal, inhaltlich wie methodisch) und somit ihrem intrinsischen Anspruch wahrzunehmen, zu lesen (im weitesten Sinn), zu beschreiben, einzuordnen, zu deuten, sie zu befragen, sich ihnen gegenüber persönlich zu situieren, mit den Mitlernenden die eigene entsprechende Positionalität der offenen Diskussion auszusetzen und verantwortet in die Gesellschaft zu tragen (in welcher Form auch immer). Letztlich geht es bei den hier schrittmässig aufgelisteten Fähig- und Fertigkeiten um eine sogenannte «religionsbezogene Kommunikationskompetenz», die in einem späteren Artikel zu konturieren ist.
6. Die Frage nach der inhaltlichen Stossrichtung
Aus der durch die im MAR Art. 5 angestrebte allgemeinen persönlichen wie gesellschaftlichen Orientierungskompetenz der Jugendlichen sind nicht direkt Inhalte für das EF Religionslehre abzuleiten, dennoch impliziert der Bildungsartikel eine gewisse inhaltliche Stossrichtung auch des EF Religionslehre: Es sind eben Lerngegenstände didaktisch und methodisch aufzuarbeiten, die dem Ziel der persönlichen Gesellschaftsreife als grundsätzliche Orientierungskompetenz im Feld religiöser wie metareligiöser Kommunikation dienen. Dass hierbei material die verschiedenen vorab in der Schweiz gelehrten und gelebten Religionskulturen (und religionskulturellen Ausprägungen) inklusive ihrer historischen Genese im Fokus stehen, die im gesellschaftlichen Kontext relevant sind, liegt ebenso auf der Hand wie dass der Zugriff auf diese Religionskulturen begrifflich und methodisch geklärt wird. Ebenso kann mit Blick auf Art. 5 MAR nicht davon abgesehen werden, dass grundsätzliche religiöse und damit z. T. verbundene ethische Fragen als religiöse Kommunikation selbst zum Thema werden und die Lernenden sich mit ihnen positionierend auseinandersetzen, freilich auch mit Blick auf religionskritische Anfragen.
Wie ein solcher Stoffplan in etwa aussehen könnte, zeigt der Entwurf einer Gruppe von Berner Lehrpersonen, der in dieser Form ab 2017 für das EFRL im Kanton BE (2 Jahre 2 Lektionen pro Woche) orientierend sein soll[16]:
Grobziele | Inhalte |
Die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten können sich einen vielfältigen Zugang zum Phänomen Religion erarbeiten |
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Sie informieren sich über die aktuelle religiöse Landschaft und können sich selbstkritisch entsprechend positionieren |
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Sie erarbeiten sich zu prägenden Religionskulturen einen ebenso grundlegenden wie exemplarischen Überblick |
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Sie setzen sich vertieft mit religiösen Grundfragen auseinander und können ihre eigene Position argumentativ begründen |
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Sie kennen verschiedene Ansätze von Religionskritik und können diese verorten und beurteilen |
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Sie gewinnen Kenntnisse zur Frage des guten Handelns in religiösen Traditionen und reflektieren kritisch deren Konsequenzen |
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7. Exkurs: Begründungen des EF «Religionslehre» mit Blick auf Art. 5 MAR
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen steht auch aufgrund der sog. weltanschaulichen Neutralität derselben stets unter einem gewissen Erklärungs-, Rechtfertigungs- und Begründungsdruck, dies umso mehr, wenn er Unterricht für alle Lernenden sein soll. Dementsprechend wurde und wird eine Palette von Argumenten vorgetragen, Religionsunterricht im schulischen Kontext zu verantworten, wobei sich ein – wenn auch je nach (fachdidaktischer) Perspektive unterschiedlich gewichteter – gewisser Begründungskanon eingespielt hat.[17] Im Folgenden geht es darum, die gängigsten Begründungen zu sichten und sie auf die Kompatibilität mit dem Bildungsartikel MAR Art. 5 hin zu prüfen.
Bildungstheoretische Begründung
Religionsunterricht an der Bildungsinstitution Gymnasium muss sich zuallererst bildungstheoretisch begründen lassen. Die Bildungsziele des MAR Art. 5 «allgemeine Studierfähigkeit» und «vertiefte Gesellschaftsreife» lassen sich nur einholen, wenn die in der Gesellschaft (vom Alltag bis zur schulischen und universitären Institutionalisierung) gelebten und verhandelten pluriformen Wirklichkeitszugänge und die mit ihnen korrespondieren Rationalitätsmodi kritisch er- und bearbeitet werden. Dass Religion(en) bzw. religiöse Kommunikation einen spezifischen, gesellschaftlich relevanten (historisch wie aktuell), von vielen Menschen in Anspruch genommenen Wirklichkeitszugang in einer eigenen Rationalitätsform (der nach Baumert sog. «konstitutive Rationalität») darstellen, ist offensichtlich. Dass es bei der Ingebrauchnahme dieser spezifischen Rationalitätsform in Kommunikation und Auseinandersetzung mit anderen Rationalitätsmodi zu allerlei Irritationen kommt, liegt ebenfalls auf der Hand (vgl. z. B. Diskurse über Kopftuch, Beschneidung, Minarett, katholischer Sexualmoral etc., um nur die oberflächlichsten Irritationen zu nennen) bzw. in der Natur der Sache (sprich: der verschiedenen Wirklichkeitszugänge und ihrer Rationalitätsmodi). Sollen Lernende also studierfähig und gesellschaftsreif werden (und somit gesellschaftlich orientierungsfähig), um entsprechend (Selbst-) Verantwortung zu übernehmen (MAR Art. 5), ist Religionsunterricht als religionsbezogene Kommunikation, die sich u. a. einem spezifischen, eben konstitutiven Rationalitätsmodus zur Wirklichkeitserschliessung aussetzt, unbedingter Teil von Allgemeinbildung.
Anthropologisches Argument
Unbestritten ist, dass der Zugang der Religionen zum Verstehen und Deuten von Welt immer eine Möglichkeit (wenn auch keine Notwendigkeit, es wird nicht der These eines homo religiosus gefolgt) gewesen ist und auch weiterhin wohl sein wird. Diese Möglichkeit religiöser Wirklichkeitserschliessung hat ihren Grund u. a. darin, dass Religionen intensiv Aspekte von «Wirklichkeit» bearbeiten, denen sich Menschen in der Regel nicht verschliessen können, auch wenn man keine ontologisch grundierte Anthropologie voraussetzt und sich der historischen Konstruktionskontingenz gewisser Fragestellungen bewusst ist: Endlichkeit, Leben und Tod, Scheitern und Gelingen, Liebe und Hass, Krieg und Frieden, Sinn und Sinnlosigkeit etc.. Diesbezüglich gehören die Religionen nicht zu den einzigen, aber zu den bedeutendsten, ja lange Zeit alleinigen Spezialisten, und mit ihren «Antworten» bzw. ihrem entsprechenden Sprach- und Handlungsrepertoire haben sie Menschen und ganze kulturelle Systeme geprägt (in Zustimmung wie Ablehnung) und tun dies immer noch. Die Lernenden stehen vor denselben Fragen. Das Woher, Warum und Wohin der eigenen Existenz treibt sie genauso um wie die Erwachsenen- ja in gewissen Phasen noch stärker als jene. Hierin liegt ein gewichtiger, ausreichender Grund, den spezifischen Zugang (bzw. Rationalitätsmodus) der Religionen auf Wirklichkeit als Teil einer multiperspektivisch angelegten gymnasialen Allgemeinbildung kritisch zu erschliessen. Nur in Auseinandersetzung auch mit Religion (mit dem Ziel religionsbezogener Kommunikationskompetenz) ist bei den Lernenden «persönliche Reife» und Orientierungsfähigkeit «in ihrer natürlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt» (MAR Art. 5) anzubahnen.
Kulturgeschichtliches Argument
Das Bonmot, dass die Vergangenheit weder tot, sondern nicht einmal vergangen ist, dass also Gegenwart ohne historisches Bewusstsein nicht erschlossen werden kann, ist unbestritten. Auch deshalb wird als Ziel gymnasialer Bildung im MAR Art. 5 festgehalten:
Maturandinnen und Maturanden finden sich in ihrer natürlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt zurecht, und dies in bezug auf die Gegenwart und die Vergangenheit, auf schweizerischer und internationaler Ebene.
Religionen haben die Vergangenheit mannigfach entscheidend mitgeprägt (von der Mentalität bis zur Stadtplanung, von der Erziehung bis zur Rechtfertigung von Sklaverei etc.) und sie haben zudem als «Bewässerungssystem»[18] ihre wirkungsgeschichtlichen Spuren in mancherlei kulturellen Formen und Praktiken (Recht, Moral, Architektur, Musik, Literatur, Film etc.) hinterlassen. Historisches Bewusstsein kann somit ohne die kulturgeschichtliche Relevanz der Religionskulturen nicht oder nur rudimentär gebildet werden.
Religionskulturelles Argument
Wenn auch die kulturprägende Kraft der traditionellen Religionskulturen (Christentum, Judentum und Islam) zumindest in Westeuropa deutlich schwächer geworden ist, wird nicht ungern in verschiedensten Kontexten (Film, Werbung, Musikvideo etc.) auf religiöse Traditionen Bezug genommen (de- und rekonstruktiv) oder es werden traditionell religiös konnotierte Erfahrungszustände ausserhalb traditioneller Religionskulturen gesucht und inszeniert. Hierin gehören auch alle Phänomene, die im wissenschaftlichen Diskurs als «sakralisierende», «religionsäquivalente» oder «religionshybride» Kommunikationsformen erschlossen werden: von der Kunstreligion über den Spitzensport bis zu alternativen Heilverfahren wie Reiki oder Homöopathie.[19] Das religionskulturelle Feld ist überaus vielfältig und gleichzeitig Ausdruck «fluider Religion»[20] und hierbei gilt es zu lernen: «Schülerinnen und Schüler sollen wahrnehmen lernen, wie unterschiedliche kulturelle Bereiche Religion präsentieren, inszenieren und transformieren; und sie sollen umgekehrt lernen, wie verschiedene kulturelle Phänomene auf mögliche religiöse Bedeutungen hin gelesen werden können.»[21] Solches Lernen holt ein, was der MAR Art. 5 mit kultureller Gegenwartsorientierung als Bildungsziel meint:
Maturandinnen und Maturanden finden sich in ihrer natürlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt zurecht, und dies in bezug auf die Gegenwart und die Vergangenheit, auf schweizerischer und internationaler Ebene.
Empirisches Argument
Mit Blick auf die «vertiefte Gesellschaftsreife» als Orientierungskompetenz, als ein sich Zurechtfinden in der «natürlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt», die heute eine auf allen Ebenen plurale Gesellschaft zeigt, ist das empirische Argument für einen Religionsunterricht mit Blick auf die Schweiz (sowie Europa und die Welt) evident: Religiöse Menschen und in verschiedenen Graden institutionalisierte Religionsgemeinschaften (von der Meditationsgruppe bis zur römisch-katholischen Kirche) sind da, die Begegnung mit ihnen ist unausweichlich (hierfür reicht eine Tram- oder Busfahrt in der Schweiz bzw. ein Stadtspaziergang[22]), sie prägen die Gesellschaft mit, indem sie althergebrachte Praxen verantworten bzw. in sie eingebunden sind (Taufe, Heirat, Beerdigung), indem sie sich in gesellschaftliche Diskurse einmischen (etwa die Stellungnahmen der SEK oder SBK), indem sie Wünsche anbringen oder Forderungen stellen (etwa Kleidung und Ernährung in Schulen, Bau von Moscheen und Tempelanlagen) etc. etc. Die auch im Feld des Religiösen durch Migration und Individualisierung zu beobachtende Pluralisierung ist zu einem Merkmal der (schweizerischen) Gesellschaft überhaupt geworden; so sitzen gerade in den Schulzimmern Kinder und Jugendliche aller Nationen, Religionen sowie Weltanschauungen und lernen und leben zusammen (wenn auch im Gymnasium diese Pluralität nicht gleichermassen vertreten ist). Gymnasiale Bildung als «vertiefte Gesellschaftsreife» hat diese gesellschaftliche (religiöse) Pluralität zu thematisieren, wobei der Religionsunterricht hierzu seinen unaufgebbaren, spezifischen Beitrag leistet, nicht zuletzt schon dadurch, dass hierzu «grundlegende Kenntnisse» erarbeitet werden.
Pädagogisches Argument
Die Jugendlichen haben heutzutage Vieles zu bewältigen. Sprechen wir etwa vom gesellschaftlichen Konstrukt «Jugend», so müssen Jugendliche (13–18 Jahre) ein gesundes Verhältnis zu ihrem Körper und zur Sexualität gewinnen, sie haben Beziehungen neu zu gestalten (sowohl den Eltern wie den Peers gegenüber), sie müssen ihr Verhältnis zum Lernen klären und nicht zuletzt haben sie sich mit der Sinnfrage auseinanderzusetzen, wobei sie erste eigenständige Standpunkte hinsichtlich politischer, aber eben auch moralischer und religiöser Fragen entwickeln.[23] Insgesamt sind sie im Aufbau dessen, was man mit dem zwar eher unscharfen Begriff «Identität» zu fassen versucht.
Diese an sich schon überaus komplexe Identitätssuche steht ihrerseits in einem gesellschaftlichen Kontext, den man mit den sattsam bekannten Termini «Pluralismus» und «Individualismus» zu beschreiben versucht. Die Jugendlichen stehen also vor der Entwicklungsaufgabe, eigenständige religiöse wie moralische Positionen einzunehmen, und dies vor dem Hintergrund eines überaus unübersichtlichen religiösen, weltanschaulichen wie ethischen und moralischen Pluralismus und Individualismus. Hier sind sachliche Information, Denkhilfen und Raum für Exploration und persönliche Positionierung gefragt:
Ziel der Maturitätsschulen ist es, Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf ein lebenslanges Lernen grundlegende Kenntnisse zu vermitteln sowie ihre geistige Offenheit und die Fähigkeit zum selbständigen Urteilen zu fördern.
Den Lernenden keinen diesbezüglichen, spezifischen Lernbereich, also keinen Religionsunterricht anzubieten, ist pädagogisch schlicht fahrlässig.
Funktionales Argument
Indem Lernende religiöse, metareligiöse und weltanschauliche Kommunikationsformen sichten, klären und sich zu ihnen verhalten, ist konfessionsunabhängiger Religionsunterricht ein Lernfeld für interweltanschauliches Lernen und erfüllt so im überschaubaren, didaktisierten Rahmen eine gesellschaftliche Funktion: Einübung in die wissensgestützte wie empathische Wahrnehmung des (religiös, weltanschaulich) Anderen, und somit in einen interweltanschaulichen Kommunikationshabitus, der durch «geistige Offenheit» geprägt ist und so unterrichtlich gegenseitigen Respekt, Toleranz und Dialogfähigkeit kultiviert. Analog zum Sprachunterricht setzen sich die Lernenden religiöser Kommunikation aus und «lernen, Reichtum und Besonderheit der mit einer Sprache verbundenen Kultur zu erkennen», was seinerseits Grundlage für ein (religions-) friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft ist.
Die durch gymnasiale Bildung anvisierte reflektierte Verantwortungsübernahme «sich selbst, den Mitmenschen, der Gesellschaft und der Natur» gegenüber erfordert auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Rationalitätsmodi nicht nur Verfügungs-, sondern eben auch Orientierungswissen, das der die öffentliche Schule organisierende Staat selbst nicht vollumfänglich garantieren kann. Religionskulturen mit ihren Sinnkonzepten bilden quasi Reservoirs von (weltanschaulichem wie ethisch-moralischem) Orientierungswissen, die in einem konfessionsunabhängigen Religionsunterricht auch in ihrem intrinsischen Anspruch und ihrem Sinnangebot mit den Jugendlichen wahrgenommen, exploriert und kritisch beurteilt werden.
Ideologiekritisches Argument
Das ideologiekritische Argument lässt sich auf doppelte Weise entfalten: Religiöse Kommunikation ist einerseits kritisch auf ihr inhärentes Ideologiepotenzial hin zu sichten, andererseits kann religiöse Kommunikation als solche sowie auf der Basis ihrer Theologien und der daraus abgeleiteten Welt- und Menschenbilder ideologiekritisch gesellschaftliche, nicht-religiöse Kommunikation von Welt- und Menschenbildern und entsprechenden Werten (z. B. Gesundheit, freier Markt, Sicherheit, Autonomie etc.) aufdecken und hinterfragen bzw. deren angebliche Selbstverständlichkeit zur Diskussion stellen. Die vom MAR Art. 5 angestrebte gesellschaftliche Partizipationskompetenz (die immer auch eine Partizipation an religiösen wie metareligiösen Diskursen einschliesst) ist nur möglich, wenn gegenüber öffentlich vertretenen und verhandelten Welt- und Menschenbildern eine solche doppelte ideologiekritische Diagnosekompetenz entwickelt wird, deren spezifischer Ort der Religionsunterricht ist.
8. Fazit
Jedes gymnasiale Fach hat sich im Rahmen des MAR Art. 5 zu verorten. Eine solche Verortung des EF Religionslehre steckt auf verschiedenen Ebenen ein Spielfeld ab, das nicht grundlos verlassen werden kann:
- Als Bezugswissenschaften (inhaltlich wie methodisch) gelten prinzipiell alle universitären Wissenschaftstraditionen, die sich mit Religion beschäftigen (Studierfähigkeit).
- «Religion» als Gegenstand und Zielbegriff des Unterrichts ist offen und pluriform zu konzipieren.
- Die Bekenntnisunabhängigkeit meint einerseits das Verbot einer religiösen Überwältigungsdidaktik (rechtliche Voraussetzung), andererseits ist ein an den allgemeinen Bildungszielen orientierter RL-Unterricht nie unabhängig von einem «Bekenntnis», sondern betrachtet und beurteilt perspektivisch und selbstkritisch religiöse wie metareligiöse Kommunikation.
- Die Lernenden sollen sich in einem RL-Unterricht letztlich persönlich positionieren können (persönliche Gesellschaftsreife), ein rein beschreibender und einordnender bzw. verortender Zugang zu «Religion» verfehlt das mit gymnasialer Bildung Intendierte.
- Last but not least: Die Relevanz und somit Notwendigkeit von RL als Teil der gymnasialen Bildung ist erwiesen, das Spielfeld ist selbstbewusst zu besetzen bzw. einzufordern.