Wallfahrtskirchen führen zum Fragen und Nachdenken


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Wallfahrtskirchen führen zum Fragen und Nachdenken

Wie Menschen mit Kontingentem umgehen

Ein polemischer Kommentar zu einem Unterrichtsimpuls und zu einer kollegialen Replik darauf, worum es beim Besuch von Wallfahrtskirchen (nicht) gehen kann.

Von Johannes Rudolf Kilchsperger

Endlich hat ein Artikel auf erg.ch auch eine Debatte ausgelöst. Petra Bleisch und Urs Schellenberg replizieren in ihrem Beitrag «Wallfahrtskirchen stellen Fragen nach Dankbarkeit?» (www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/bleisch-schellenberg-wallfahrtskirchen/) in aller Schärfe auf den Beitrag von Andreas Kessler «Wallfahrten: Nachdenken über Dankbarkeit» (www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/kessler-wallfahrtskirchen/). Kessler ist zuzutrauen, dass er das gewünscht und eventuell sogar beabsichtigt hat.

Auch ich hatte mich über Kesslers Beitrag gewundert, insbesondere über seine «kleine Intervention», die er darin vorschlägt: aus Anlass eines Besuchs von Wallfahrtsorten, «die Lernenden» aufzufordern, jemandem eine Dankesnachricht zu schicken, weil es dafür auch einmal zu spät sein könne! Die Geschichte, die er als Anstoss erzählt, wird dabei moralisch gedeutet, um nicht zu sagen moralistisch verwendet. Man fragt sich, was es dabei zu lernen gibt.

Worum es im religionskundlichen Unterricht gehen mag

Petra Bleisch und Urs Schellenberg demontieren denn auch Kesslers Vorschlag im Rahmen eines religionskundlichen oder ethischen Unterrichts. Ein Wallfahrtsort habe nur in religiösem Verständnis eine agency, welche Fragen stelle und an die Betrachtenden appelliere. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive sei «natürlich interessant zu erforschen, welche Menschen welchen Gegenständen solche Eigenschaften zuschreiben.» Und überdies sei die Erkenntnis, «dass manche Menschen aus Dankbarkeit in einer Wallfahrtskirche beten» ein Ertrag, der «doch mehr als mager» sei. Sie lesen Kesslers Rücksicht auf «religiös Unmusikalische» als Vereinnahmung der Schülerinnen und Schüler und argumentieren mit einer historisch-kritischen Rekonstruktion der Redewendung bei Max Weber. Und sie schiessen übers Ziel hinaus, wenn sie mit Barbara Bleischs Bestseller zur Debatte stellen, ob Dankbarkeit eine moralische Pflicht sei.

Auffällig ist, dass in der Replik Wallfahrtskirchen als «ergiebige Lernorte» erläutert werden, die Replik sich jedoch nicht äussert, worum es, abgesehen vom genannten «mehr als mager» bezeichneten Ertrag im Unterricht mit Jugendlichen nun gehen soll. Es ist die Krux (religions)wissenschaftlicher Betrachtung, dass sie sich oft schwertut, positiv herauszustellen, worum es geht. Wissenschaft hat nun mal primär kritischen Charakter.

Ich finde die von Bleisch und Schellenberg bemängelte Erkenntnis, «dass manche Menschen aus Dankbarkeit in einer Wallfahrtskirche beten» übrigens keineswegs banal, vielmehr eine Einsicht, die auf ziemlich komplexen Voraussetzungen beruht und durchaus exemplarischen Charakter für das Verständnis religiöser Deutungen und Praktiken hat. Jedenfalls dürfte sie den Horizont mancher Jugendlicher erweitern und bereichern. Wenn ein religionskundlicher Zugang dies ermöglicht, ist m. E. im Unterricht schon viel erreicht. Leider lassen Kesslers Kritiker offen, in welchem Zusammenhang und mit welchen Zielsetzungen der Besuch von Wallfahrtsorten mit Jugendlichen ergiebig wird. Selbstverständlich scheint mir eine Einbettung in den Unterricht, wie sie es fordern, mit einer Hinführung und der Nachbereitung einer Exkursion in unterrichtlichem Zusammenhang.

Aufmerksam werden und Fragen nachgehen

Auch ich halte die «kleine Intervention», die Andreas Kessler vorschlägt, für verfehlt. Sie könnte Unterrichtende in ihrem alltäglichen Praxisdruck darin bestärken, anstelle einer klaren Sachanalyse, worum es geht, vorschnell auf Vorstellungen und Lebensverhältnisse der Schülerinnen und Schüler zurückzugreifen und damit vom Unterrichtsgegenstand abzulenken oder ihn kurzerhand moralisierend zu funktionalisieren.

Kessler illustriert seinen Entwurf mit einem Bild von Votivgaben. Diese sind ein Charakteristikum vieler Wallfahrtsorte. Auf sie kann man Schülerinnen und Schüler aufmerksam machen, und sie finden auch deren Interesse. Allerdings ist nicht recht einzusehen, dass man aus Anlass von Wallfahrtskirchen jemandem danken soll. Da trifft Kesslers Unterrichtsimpuls sein Thema nicht recht. Bei Ex-Voto-Zeugnissen geht es doch gerade um Widerfahrnisse, die man nicht jemandem verdanken könnte, weil sie eben kontingent sind und deshalb transzendent gedeutet werden!

Man braucht Petra Bleisch und Urs Schellenberg nicht zu folgen, dass religiöse Orte und Artefakte nicht «an sich» Fragen stellen, vielmehr nur von einem religiösen Standpunkt aus, der ihnen religiöse Bedeutung zuschreibe. (Sie regen mit ihrer Umschreibung des Gegenstandes ja selber zu Fragen an.) Der Unterricht, sei er konfessionell oder religionskundlich ausgerichtet, braucht Schülerinnen und Schülern überhaupt keine Fragen aufzudrücken, zumal keine existentiellen. Interessanter ist, welche Fragen sich in der Erkundung von Wallfahrtsorten und anderen religiösen Spuren ergeben und auftun. Solche Fragen sind keineswegs an religiöse Standpunkte gebunden. Entdeckendes Lernen schliesst ein, Fragen aufzuspüren und Fragen zuzulassen, selbst wenn sie nicht ins vorbereitete Konzept passen. Unterrichtsgegenstände sind zu befragen; insofern ist Kesslers Redeweise, dass sie Fragen stellen, selbstverständlich metaphorisch zu verstehen. Im Unterricht ergeben sich immer wieder Fragen, und an ihnen wird Lernen erst möglich.

Votivgaben verarbeiten Lebenserfahrungen

Weder in einem konfessionellen Religionsunterricht noch in einem religionskundlichen Setting ist es angebracht, im Unterrichtszusammenhang Wallfahrtsorte zu besuchen, um hinterher jemandem einen Dankesbrief schreiben zu müssen. Jedenfalls scheint mir damit der Charakter von Wallfahrtsorten und ihren Ex-Voto-Zeugnissen noch nicht getroffen. Die Erfahrungen, die sich in Ex-Voto-Tafeln zeigen, betreffen eben, wie schon gesagt, nicht Dankesgründe, die Menschen einer Person schulden, vielmehr Lebensereignisse und Erfahrungen, die sie sonst nicht verdanken könnten, weil sie kontingent sind: eine überstandene Krankheit, ein Unfall, eine Heilung, eine bestandene Prüfung und dergleichen.

Votivgaben mögen einen an Kinderzeichnungen erinnern, wie sie gelegentlich im Wartezimmer einer Arztpraxis zu sehen sind, wenn Kinder sich damit für die Behandlung bei ihrem Arzt bedanken. Eine Votivgabe an Wallfahrtorten ist aber nicht einfach eine Dankesgabe an eine Person, sie ist vielmehr eine öffentliche Kundgabe von Dankbarkeit. Es sind Zeugnisse von Dankbarkeit, die keinen innerweltlichen Adressaten hat, ausser in dem Sinne, dass die Dankbarkeit geteilt werden will mit denen, die ebenso den Wallfahrtsort besuchen. Es sind Mitteilungen, die vernommen werden wollen, vielleicht auch um andere zu ermutigen, zu bestärken oder zu trösten.

Man mag im religionskundlichen Unterricht damit rechnen, dass Wallfahrten nicht einfach Vergangenheit sind, Pilgern ist für viele Zeitgenossen lebendige, vielfältige Praxis. Schülerinnen und Schüler wie auch Studierende berichten immer wieder davon.

Verständnis für religiöse Lebensäusserungen ermöglichen

Jeder Unterricht, sei er konfessionell oder religionskundlich, geht von Annahmen aus, worum es bei Unterrichtsgegenständen wie Wallfahrtsorten oder Votivgaben geht. Er mag dies entdeckend im Sinne eines forschenden Lernens tun. Es geht nicht darum, bei Schülerinnen und Schülern eine bestimmte religiöse Praxis vorauszusetzen oder moralisch Dankbarkeit einzufordern und einzuüben, vielmehr einen Horizont zu eröffnen, der sich im profanen Alltag nicht ohne weiteres ergibt: Im religionskundlichen Unterricht wird Gegenständen Aufmerksamkeit geschenkt, die sonst kaum in den Blick kommen. Wallfahrtsorte werden nicht deshalb Thema, weil sie den Jugendlichen existentielle Fragen oder Botschaften vermitteln, jedoch damit im Unterricht religiöse Bedürfnisse und Praktiken greifbar und vielleicht sogar verständlicher werden. Die Begegnung oder Auseinandersetzung mit Religionen und Religiösem ist bildend, selbst wenn oder gerade wo sie nicht zu religiöser und quasireligiöser Praxis führt, aber doch Verständnis weckt für Praktiken, die Menschen vollziehen, seien es eigene oder diejenigen von anderen in Geschichte und Gegenwart: in diesem Fall für das Bedürfnis nach Dankbarkeit, gerade weil es nicht einfach für alle in gleicher Weise erfüllbar ist!

Ernst Tugendhat bearbeitete vor Jahren in einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung die Frage: «Wem kann ich danken?» Er betont darin das Bedürfnis, für Dinge zu danken (wie zu bitten), für die man natürlichen Personen nicht danken kann. Diesem Bedürfnis könne man heute aufgrund intellektueller Redlichkeit jedoch nicht einfach nachgehen und nachgeben. Er meint dennoch, wenn dieses Bedürfnis mit dem Transzendenzbezug verschwinde, gehe dem Leben eine Qualität verloren. Ernst Tugendhat behauptet bemerkenswerterweise, dass dieses Bedürfnis geradezu ein Gegengrund sei, an die Existenz Gottes zu glauben. Es sei jedoch «ebenso verständlich, dass trotz dem entgegenstehenden Augenschein Hunderte von Millionen an Gott glauben, da es so naheliegend ist, das Bedürfnis statt als Gegengrund als Grund anzusehen.»

Selbst wenn ein religionskundlicher Unterricht ausserstande ist, religiöse Fragen zu traktieren, kann er religiöse Lebensäusserungen nicht ignorieren. Er steht eben gerade dafür, dass sie nicht evident und selbstverständlich sind, sie verdienen als empirische und als legitime Bedürfnisse Beachtung. Deshalb muss sich religionskundlicher Unterricht mit der Religionsfreiheit als Errungenschaft und Symbol der Moderne auseinandersetzen und sich um Verständnis religiöser Perspektiven bemühen.

Wallfahrtsorte wie andere religiöse Zeugnisse können einen schon zu komplexen Fragen führen, und es bleibt spannend, wie das im religionskundlichen Unterricht geschieht, der vorzüglich entdeckendes Lernen ist.

Literatur

Bleisch, Petra / Schellenberg, Urs (2019): Wallfahrtskirchen stellen Fragen nach Dankbarkeit? Eine Widerrede zu einem Beitrag von Andreas Kessler, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/bleisch-schellenberg-wallfahrtskirchen/

Kessler, Andreas (2019): Wallfahrtskirchen: Nachdenken über Dankbarkeit. Eine kurze Intervention im Rahmen einer Exkursion oder Schulreise, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/kessler-wallfahrtskirchen/

Tugendhat, Ernst (2006): Wem kann ich danken? Neue Zürcher Zeitung Nr. 287 vom 09.12.2006, Seite 71, www.nzz.ch/articleenz78-1.81818

Artikelnachweis

Kilchsperger, Johannes Rudolf (2020): Wallfahrtskirchen führen zum Fragen und Nachdenken. Wie Menschen mit Kontingentem umgehen, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/kilchsperger-wallfahrtskirchen/