Hijab in der Schule?


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Hijab in der Schule?

Eine ethische Fragestellung aus der Perspektive muslimischer Schülerinnen

In dieser Doppellektion für die Sekundarstufe II bearbeiten die Schülerinnen und Schüler einen Aspekt der Kopftuchdebatte als ethische Frage einer muslimischen Schülerin: «Soll ich mein Kopftuch in der Schule tragen?» Dabei wird das Werte- und Entwicklungsquadrat nach Hartmann / Schulz v. Thun theoretisch eingeführt und als Instrument zur Analyse der verschiedenen Aspekte der Debatte sowie zur Entwicklung eines eigenen begründeten ethischen Urteils herangezogen.
Von Matthias Kuhl

1. Lehrplanbezug und Grobziele

Die Schülerinnen und Schüler «bilden ihre Fähigkeiten zum selbständigen Urteilen weiter» (MAR[1], Art. 5), sie «stellen ethische Fragen aufgrund biographischer Erfahrungen und des gesellschaftlichen Umfelds in Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen» (Lehrplan EFRL BE[2], Grobziele Ethik), indem sie eine ethische Fragestellung anhand eines Fallbeispiels bearbeiten.

Sie können aus verschiedenen ethischen Positionen die ihnen zugrundeliegenden Werte erheben und mit Hilfe des Wertequadrats (Hartmann / Schulz v. Thun[3]) in eine positive Spannung bringen. Sie können die Ambivalenz der in Spannung stehenden Werte als Kern der ethischen Frage aushalten und beschreiben sowie schliesslich ein eigenes ethisches Urteil begründen.

Die Schülerinnen und Schüler «finden sich in ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung zurecht» (MAR, Art. 5), sie «informieren sich über die aktuelle religiöse Situation in unserer Gesellschaft» (Lehrplan EFRL BE, Grobziele Phänomen Religion), indem sie mit der Kopftuchdebatte «Hijab in der Schule?» ein aktuell kontrovers diskutiertes Thema bearbeiten, in dem sich die Fragen nach a) Religion im öffentlichen Raum und b) der Wahrnehmung und Deutung des Islam in der Schweiz sowie c) der Rolle der Frau überlagern und zuspitzen.

Die Schülerinnen und Schüler können die verschiedenen Aspekte, Fakten und Argumente der aktuellen Debatte unterscheiden, sich widerstrebende Positionen beschreiben und in sich begründen sowie eine differenzierte eigene Sicht auf die Fragestellung formulieren.

2. Fachwissenschaftliche Analyse

2.1 Die Frage nach dem Hijab in der Schule

Die Diskussion der Frage, ob (vor allem muslimische) Schülerinnen in der öffentlichen Schule den Hijab tragen dürfen, hat durch das Urteil des Bundesgerichts vom 11. Dezember 2015 – mindestens im Hinblick auf den juristischen Aspekt der Debatte – ein vorläufiges Ende gefunden. In der Urteilsbegründung[4] hält das Bundesgericht «das Freiheitsrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit» fest und bezeichnet demgegenüber einen «Anspruch darauf, von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben» als rechtlich unbegründbar.

Ein Ende der Debatte ist dennoch nicht in Sicht, da einerseits in verschiedenen Kantonen Vorhaben bestehen oder sogar Bemühungen in Gang sind, die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen zu ändern. Zum anderen ist der juristische Aspekt nur einer unter mehreren Dimensionen der Diskussion.

Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung strukturiert in ihrem Webdossier «Konfliktstoff Kopftuch»[5] die deutsche Debatte des Jahres 2005 in fünf Aspekte. Auch wenn die deutsche Diskussion in ihren Schwerpunkten und ihrem Verlauf von der schweizerischen zu unterscheiden ist, scheint mir die Differenzierung in verschiedene Aspekte der Debatte hilfreich. Für diese Doppellektion übernehme ich daher die Unterscheidung von politischer, juristischer, feministischer und religiöser Debatte.

In der unterrichtlichen Bearbeitung des konkreten Fallbeispiels werden noch weitere Aspekte aus der konkreten ethischen Situation des Beispiels auftauchen. Ganz grundsätzlich jedoch und zunächst abgesehen vom Fallbeispiel sind mit den genannten vier Aspekten wohl die wichtigsten Argumentationslinien der Diskussion abgedeckt. Im Folgenden stelle ich die vier Aspekte der Debatte knapp vor. Um die Offenheit der ethischen Frage zu markieren, formuliere ich die verschiedenen Aspekte in Form von Fragesätzen, oft ambivalent, vor allem offen – auch dann, wenn die Debatte wie z. B. im juristischen Aspekt aktuell offiziell geklärt und geschlossen ist.

Die politische Debatte

In diesem Teil der Diskussion steht in erster Linie das Stichwort Integration im Zentrum. Zugespitzt auf die Frage nach dem Kopftuch lautet die politische Frage etwa: Muss in der Schule als öffentlichem Raum innerhalb eines säkularen Staates das Tragen eines muslimischen Kopftuchs als Symbol der Integrationsverweigerung verboten werden? Oder anders: Ist das Tragen eines muslimischen Kopftuchs in der Schule (eines auch religiös pluralistischen Staats) erlaubt oder sogar als positives Zeichen der Integration willkommen?

Die juristische Debatte

In erster Linie hatte das Bundesgericht in seinem Urteil abzuwägen zwischen Religionsfreiheit und dem religiösen Neutralitätsgebot des Staates, also gewissermassen zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit. Die juristische Frage lautet also: Kann der Bevölkerung eines Staates mit Religionsfreiheit der Anblick eines religiös (hier muslimisch) begründeten Kleidungsstücks zugemutet werden oder nicht?

Die feministische Debatte

Die hier im Zentrum stehende Frage ist die nach der Gleichstellung der Geschlechter bzw. der Rolle der Frau. Die feministische Fragestellung lautet: Muss das Kopftuch als Zeichen der patriarchalen Unterdrückung der Frau abgelehnt bzw. verboten werden oder ist es – im Gegenteil – ein in Freiheit gewählter Ausdruck der selbstbewussten weiblichen Identität?

Die religiöse Debatte

Unter diesem Aspekt der Diskussion geht es um die Frage, wie bzw. ob überhaupt das Tragen eines Kopftuchs innerhalb des Islam geboten und zu begründen ist. Mit diesem Aspekt werden schwierige Frage nach Stellenwert von Prophetenwort und Tradition bzw. nach dem angemessenen Umgang mit dem Koran aufgeworfen. Die religiöse Frage lautet in allgemeiner Form: Ist das Tragen eines Kopftuchs für eine Muslima ein unbedingt zu befolgendes religiöses Gebot oder handelt es sich um eine eher kulturell bedingte nicht-religiöse Sitte ohne verpflichtenden Charakter? Persönlich zugespitzt: Muss ich ein Kopftuch tragen, um eine richtige Muslima zu sein?

Concept Map 1: Die vier Aspekte der Debatte; Eigene Darstellung

Concept Map 1: Die vier Aspekte der Debatte; Eigene Darstellung

Überraschende «Allianzen»

Der Querschnittsblick durch die verschiedenen Debatten macht deutlich, das sowohl im Lager der Befürworterinnen und Befürworter des Kopftuchs als auch im Lager der Gegnerinnen und Gegner merkwürdige «Allianzen» zustande kommen: Der sorgsam auf seine negative Religionsfreiheit bedachte Freidenker findet sich in seiner Ablehnung des Kopftuchs einig mit dem islamophoben Freikirchenprediger, der Hardcore-Feministin, sowie dem ausländerfeindlichen Rechtskonservativen. Beim Freudenfest über das Bundesgerichtsurteil andererseits treffen die linksliberale Integrationsbeauftragte und der verklemmte Religionslehrer mit der sexy-trendy Hijabista und dem fundamentalistischen IS-Sympathisant aufeinander.

Um zu vermeiden, dass die ethische Urteilsfindung durch solche unheiligen «Allianzen» verunsichert und beeinflusst wird, z. B. in Form unreflektierter Selbstabgrenzung («mit denen will ich nicht in einem Boot sitzen») oder in Form der Geiselnahme durch andere («deine Position ist Wasser auf die Mühlen unserer gemeinsamen Feinde»), ist es hilfreich, die verschiedenen Aspekte der Debatte zunächst auseinanderzuhalten, gegeneinander abzuwägen und erst dann entsprechend ihres Gewichts in die ethische Urteilsbildung einfliessen zu lassen. Wenn auf diese Weise die Grundlagen der eigenen ethischen Entscheidung klar sind, kann auch das ethische Urteil eigenständig begründet werden – ohne den sorgenvollen Blick auf die sich damit ergebenden unheiligen Allianzen.

2.2 Das Wertequadrat

Die Bearbeitung der ethischen Frage aus dem Fallbeispiel wird in dieser Unterrichtseinheit aus didaktischen Erwägungen (s. u. 4.2) mit Hilfe des Werte- und Entwicklungsquadrats (Hartmann / Schulz v. Thun) unternommen. Das Wertequadrat ergibt sich aus der Spannung zwischen zwei positiven «Schwestertugenden» in Abgrenzung von zwei als diametrale Gegensätze konstruierten Untugenden.

Das klassische Beispiel ist das Wertequadrat von Sparsamkeit vs. Grosszügigkeit in Abgrenzung von Geiz vs. Verschwendung. Die beiden Werte Sparsamkeit und Grosszügigkeit stehen miteinander in positiver Spannung. Sparsamkeit ohne Grosszügigkeit wird zu Geiz, Grosszügigkeit ohne Sparsamkeit wird zu Verschwendung. Sparsamkeit hat eine Aversion gegen Verschwendung und Grosszügigkeit gegen Geiz. Die Entwicklungsaufgabe des Geizes ist die Grosszügigkeit, die der Verschwendung die Sparsamkeit.

Concept Map 2: Das klassische Beispiel für das Wertequadrat; Eigene Darstellung

Concept Map 2: Das klassische Beispiel für das Wertequadrat; Eigene Darstellung

Skizzierung von ethischen Problemen

Ein ethisches Problem ist abstrakt und etwas modellhaft zu beschreiben als die Ambivalenz zwischen verschiedenen positiven Werten, die in der ethischen Situation miteinander konkurrieren. Eine Entscheidung zwischen einem Gut und einem Übel wäre ja banal, und daher wird die Offenheit und Dringlichkeit eines ethischen Problems niemals zutreffender skizziert als in der Form der Ambivalenz zwischen Gütern. Genau dies kann das Wertequadrat leisten mit den beiden in Spannung stehenden positiven Werten.

Beispiel: Die juristische Debatte lässt sich – etwas vereinfacht – als ein Wertequadrat darstellen, in dem die beiden positiven Werte a) der freien Religionsausübung des Einzelnen und b) der Religionsneutralität des Staates miteinander in positiver Spannung stehen. Die totale Religionsfreiheit könnte im Extremfall einem Missions-Wettstreit, Religionskämpfen oder sogar -kriegen führen (den totalen Religionsfrieden sieht niemand heraufziehen), die scharfe Umsetzung einer laizistischen Staatsdoktrin könnte im Extremfall zur Absoluten Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum, einem Religionsverbot oder sogar der Verfolgung von Religionen führen.

Rekonstruktion von ethischen Fragen

In der öffentlichen Diskussion über ethische Fragen begegnet man in den seltensten Fällen der ethischen Herausforderung als offene Frage, sondern meist in der geschlossenen Form einer Positionsbestimmung, in der die ethische Frage bereits beantwortet ist. Mit Hilfe des Wertequadrates lassen sich jedoch aus ethischen Positionsbestimmungen wieder Ambivalenzen rekonstruieren. Die ethische Frage wird auf diese Weise wieder offen zugänglich.

Beispiel: Eine feministische Wortäusserung zum Kopftuch könne lauten «Wir stehen ein für das Selbstbestimmungsrecht der Frau und lehnen den Hijab als Symbol der Unterdrückung durch ein patriarchales System ab.» Als positiver Wert lässt sich daraus die weibliche Selbstbestimmung erheben. Die Unterdrückung durch ein patriarchales System wird abgelehnt (Aversion). Als übertriebene Variante der feministischen Selbstbestimmung und als diametralen Gegensatz zur Unterdrückung der Frau könnte man feministische Dekonstruktion und Zerstörung (des Islam), Abfall vom Islam bzw. Ausbruch aus der Gemeinschaft entwickeln. Falls es einen positiven Wert gibt, dessen Übertreibung die (muslimische) patriarchale Unterdrückung und dessen Aversion der Abfall vom Islam bzw. der Ausbruch aus der Gemeinschaft ist, dann wohl so etwas wie Geborgenheit und Eingebundenheit in die (muslimische) Tradition. Insgesamt ergibt sich in diesem Wertequadrat eine positive Spannung zwischen weiblicher Selbstbestimmung und Geborgenheit in der Tradition.

2.3 Die verschiedenen Hijab-Debatten in Wertequadraten

Da in einem konkreten ethischen Problem aus den verschiedensten Aspekten der Debatte zahlreiche Werte zur Diskussion stehen, die nicht alle als sich einander komplementär ergänzende «Schwestertugenden» zu positionieren sind, sind jeweils mehrere miteinander um Relevanz konkurrierende Wertequadrate angezeigt.

Die beiden vorangehenden Teile, nämlich der Hinweis auf verschiedene Aspekte der Hijab-Debatte und die Beobachtung, dass Wertequadrate zur Skizzierung ethischer Fragen genutzt werden können, lassen sich schliesslich verbinden in einer Skizze, in der die vier Aspekte der Debatte als vier Wertequadrate vorliegen.

Concept Map 3: Die vier Aspekte der Debatte als Wertequadrate; Eigene Darstellung

Concept Map 3: Die vier Aspekte der Debatte als Wertequadrate; Eigene Darstellung

Damit liegt das unterrichtsleitende Concept Map vor, das in der Fallarbeit noch ergänzt wird durch weitere Wertequadrate aus dem konkreten Fallbeispiel, z. B. Ästhetik, Gruppe, Schulsystem.

Concept-Map 4: Weitere Aspekte des konkreten Falls als Wertequadrate; Eigene Darstellung

Concept-Map 4: Weitere Aspekte des konkreten Falls als Wertequadrate; Eigene Darstellung

3. Didaktische Wertanalyse

Das in dieser Doppellektion angesprochene Thema «Hijab in der Schule? Eine ethische Fragestellung aus der Perspektive muslimischer Schülerinnen» nimmt die Rolle der Frau in der Religionskultur des Islam mit einer ethischen Fragestellung in den Blick.

Die damit ausgewählte ethische Herausforderung ist keine künstliche oder theoretische, sondern eine aktuell in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierte Frage, die auf diese Weise eine besondere Gegenwartsbedeutung bereits in sich trägt. Da das aktuelle Bundesgerichtsurteil die Kontroverse wahrscheinlich nur vorläufig und zudem lediglich partiell klären konnte, wird die Debatte über das muslimische Kopftuch die Schweiz auch künftig noch beschäftigen. Die im Rahmen dieser Doppellektion erarbeiteten Erkenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten werden damit auch in Zukunft von besonderer Bedeutung sein.

Die hier ausgewählte Fragestellung und die Form ihrer Bearbeitung hat zudem eine mehrfache exemplarische Bedeutung:

Einerseits greift sie mit dem Hijab eine aktuelle Fragestellung zum Themenbereich Religion in der Öffentlichkeit auf und ermöglicht damit eine modellhafte Auseinandersetzung mit den politischen und juristischen Fragen zur Religionsfreiheit und der Rolle der Religion in einem religionsneutralen Staat, die auch bei vielen anderen Fragen ähnlich oder gleich relevant werden. Als Beispiel seien hier die Fragen der Ausbildung von Imamen an staatlichen Hochschulen, des Religionsunterrichts an der öffentlichen Schule oder des Geläutes von Kirchenglocken genannt.

Zum zweiten kann die in dieser Doppellektion vorgestellte Untersuchung und Unterscheidung der verschiedenen Aspekte einer öffentlich geführten Diskussion exemplarisch für die Entwirrung unübersichtlicher Diskussionen, Meinungslagen und vermeintlicher Allianzen und Widersprüche sein.

Zum dritten gibt die Doppellektion mit dem Denkmodell des Wertequadrats ein Werkzeug an die Hand, dass sowohl zur Analyse von politischen Äusserungen und Diskussionen als auch zur Skizzierung und Bearbeitung von ethischen Fragestellungen aller Art hilfreich sein kann.

4. Zentrale Entscheidungen

In dieser Doppellektion (vgl. MB Verlaufsplan) wird die ethische Frage als Fallarbeit mit Hilfe des Werte- und Entwicklungsquadrats (Hartmann / Schulz v. Thun) bearbeitet.

4.1 Fallarbeit

Die zentrale Frage der Doppellektion wird nicht nur abstrakt als aktuelle gesellschafts- und religionspolitische Herausforderung angesprochen, sondern kommt als ethische Frage («Was soll ich tun?») einer fiktiven, aber konkreten Einzelperson in den Blick, die in der Beantwortung ihrer ethischen Frage dennoch eingebunden ist in den politischen, gesellschaftlichen und religiösen Kontext der Schweiz.

Die Schülerinnen und Schüler sollen in der Fallarbeit «Chardas Hijab» die Perspektive der Hauptperson Charda übernehmen und an ihrer Stelle Fragestellungen, Fakten, Werte, Urteilskriterien und schliesslich ethische Urteile entwickeln. Damit diese Perspektivenübernahme gelingen kann, habe ich den Fall «Chardas Hijab» detaillierter ausgearbeitet, als das in der Regel bei einer Fallarbeit üblich ist. In einem eher wenig detailliert ausgearbeiteten Fall «eine muslimische Schülerin erwägt, in der Schule den Hijab zu tragen» gibt es m. E. zu wenig positive Identifikationsangebote, als dass sich Schülerinnen und Schüler mit einer solchen abstrakten «muslimischen Schülerin» identifizieren könnten und deren ethisches Problem probeweise einmal zu ihrem eigenen machen könnten. Mit dem hier eher detailliert ausgearbeiteten Fall «Chardas Hijab» ziele ich also weniger auf Allgemeingültigkeit und vielmehr auf Exemplarität.

Der hier präsentierte Fall «Chardas Hijab» ist aus der Überlegung entstanden, dass das umstrittene Phänomen «Hijabista»[6] für Schülerinnen und Schüler ansprechend und interessant sein könnte, da das Tragen eines Kopftuchs dort nicht als konservativ und fundamentalistisch, sondern modisch und «sexy» daherkommt und von daher neue und unerwartete Identifikationsangebote macht.

In dem Fall habe ich Charda als Gymnasiastin vorgestellt, die zudem nicht nur eine sprichwörtlich oberflächliche Fashionista ist, sondern mit ihrer Passion für Mode eine ernsthafte akademische und berufliche Zukunftsperspektive verbindet. Mit diesem Aspekt des Falls «Chardas Hijab» wird die Hauptperson möglicherweise für weitere Schülerinnen und Schüler so weit akzeptabel, dass ihre ethische Frage tatsächlich interessant wird.

4.2 Arbeit mit dem Wertequadrat

Die Bearbeitung der zentralen ethischen Frage wird in dieser Doppellektion mit dem Werte- und Entwicklungsquadrat (Hartmann / Schulz v. Thun) unternommen. Ich habe zunächst verschiedene andere Methoden in Erwägung gezogen und möchte diese daher kurz andiskutieren.

Eine Fallarbeit in Anlehnung an die klassischen Schritte ethischer Urteilsbildung (nach Tödt, Pfeiffer oder anderen) schreitet in vorbildlicher Weise die verschiedenen Etappen zu einem sorgfältigen ethischen Urteil ab und wäre insofern eigentlich unverzichtbar zum ethischen Lernen im Rahmen des Unterrichts. Sie hat jedoch – abgesehen von einem hohen Interesse an Allgemeingültigkeit, die ich hier nicht anstrebe – die Schwierigkeit, dass sie methodisch für den Unterricht nicht allzu viel hergibt, sondern dazu neigt, eine eher papierne Arbeit im Kämmerchen zu werden.

Aus dem Dilemmalernen habe ich gewissermassen die Detailliertheit des geschilderten Falles übernommen. Während ich die einzelnen Schritte methodisch anregend finde, sehe ich – gerade im Vergleich zu den Schritten der ethischen Urteilsfindung nach Tödt – eine erhebliche Schwierigkeit des Dilemmalernens darin, dass eine Positionierung zu der ethischen Frage extrem früh und vor der eigentlichen Beschäftigung mit ihr stattfindet. Zudem: Wenn diese frühe Positionierung nur provisorisch ist, warum muss die Gruppeneinteilung unbedingt dieser Positionierung folgen und darf auf keinen Fall von aussen vorgegeben werden?

Zudem: Wenn ich davon ausgehe, dass mindestens eine meiner Schülerinnen Muslima ist und einen Hijab in der Schule trägt, könnte das Dilemmalernen mindestens für diese Schülerin schwierig werden, weil ihr zu wenig Möglichkeiten zur Distanzierung bleiben.

Auch das Debattenlernen ist methodisch sehr ansprechend und für den Unterricht attraktiv, da die Einteilung in verschiedenen Positionen zufällig von aussen vorgenommen wird, gibt es für Hijab-tragende Schülerinnen noch gewisse Distanzierungsmöglichkeiten – und grosse Lernchancen, wenn probeweise einmal eine ganz andere als die eigene Position vertreten werden muss. Dennoch finde ich auch hier etwas schwierig, dass zu einem frühen Zeitpunkt eine Position eingenommen werden soll. Wenn ethische Probleme doch vor allem dadurch gekennzeichnet sind, dass sie als offene Fragen begegnen («Was soll ich tun?»), wäre auch für den Unterricht eine Form zu suchen, in der die ethische Herausforderung offen und als Ambivalenz begegnet.

Nach diesen Erwägungen habe ich mich für die Arbeit mit dem Wertequadrat entschieden. Zunächst beziehe ich mich hier auf die in der fachwissenschaftlichen Analyse (s. o. 2.) ausgeführte Tatsache, dass das Wertequadrat eine ethische Fragestellung nicht in bereits beantworteter oder unmittelbar zu beantwortender, also tendenziell geschlossener Form, sondern angemessen als offene Ambivalenz skizziert.

Die Begegnung und Arbeit mit der ethischen Herausforderung in der Form einer offenen Frage ist auch didaktisch die angemessenere Form für einen Unterricht, der ethische Fragen tatsächlich als zu untersuchende und zu bearbeitende Herausforderungen und nicht vorschnell als Ausformulierung, Vermittlung oder Durchsetzung verschiedener Positionen in den Blick nimmt.

5. Methodische Elemente

Die in dieser Doppellektion (vgl. MB Verlaufsplan) eingesetzten methodischen Elemente sollen im Folgenden kurz kommentiert werden.

5.1 Einstieg/Bildarbeit: Hijabista

Zum Einstieg gibt es eine erste Begegnung mit dem zentralen Thema der Doppellektion auf eher unerwartete Weise, nämlich anhand einer Bildbetrachtung der Fotos im Instagram-Account[7] der Hijabista Indah Nada Puspita, einer indonesischen Mode-Bloggerin, die als Muslima ihren Hijab auch als modisches Accessoire versteht und sich – wie viele andere – in Anlehnung an das Wort Fashionista selbst als Hijabista bezeichnet.

Die Schülerinnen und Schüler erhalten Gelegenheit, die neuesten Bilder durchzusehen und werden aufgefordert, ihre Beobachtungen zu schildern. Falls nötig, wird der Hinweis gegeben, bei der Betrachtung besonderes Augenmerk auf die Kopfbedeckung zu legen: Was ist auffällig oder bemerkenswert? Nach den Beobachtungen werden auch Reaktionen eingefangen: Was ist ansprechend oder abstossend? Und eher analytisch: Welches Bild der Frau im Islam wird hier gezeigt?

Schliesslich weist die letzte Frage bereits über den Einstieg hinaus auf die Doppellektion: Welche Assoziationen oder Fragestellungen gibt es a) auf Grund dieser Bilder und b) auf Grund des Vorwissens oder eigener Erfahrungen zum Thema Kopftuch? Die Antworten werden stichwortartig an der Tafel zusammengetragen.

Zum Abschluss dieses Einstiegs wird das Thema der Doppellektion genannt: Hijab in der Schule? Eine ethische Fragestellung aus der Perspektive muslimischer Schülerinnen.

5.2 Arbeitsblatt: Chardas Hijab

Mit diesem Arbeitsblatt (vgl. AB Chardas Hijab) begegnen die Schülerinnen und Schüler dem zu bearbeitenden Fall. Nach der Lektüre des Textes werden sie gebeten, die Perspektive der Hauptperson einzunehmen und anhand des Fallbeispiels zu Zweit über die Frage auszutauschen, welches Vorgehen zu einer sorgfältigen Entscheidungsfindung geeignet ist. Die wichtigste Erkenntnis wird festgehalten zum (nicht unmittelbar folgenden) Bericht in der Gesamtgruppe.

5.3 Filmarbeit: 10vor10

Mit der Ankündigung «Charda schaut 10vor10» wird der Ausschnitt «Comeback des Kopftuchs» aus der 10vor10-Sendung vom 11. Dezember 2015[8] gezeigt. Dieser Beitrag liefert weder verlässliche Informationen noch sorgfältig vorgebrachte Argumente, aber immerhin einen einigermassen bunten Strauss an Aussagen, Thesen, Meinungen und Positionen zum Thema und ist insofern ein typischer Medienbeitrag zu einem im Bereich Religion angesiedelten Thema. Im Rahmen dieser Doppellektion wird er bewusst eingesetzt als Beitrag, der das Thema eher diffuser, komplizierter und unübersichtlicher macht und damit das Wahrnehmungsspektrum erweitert und die ethische Frage öffnet.

Um im Anschluss an diesen Film langsam zu einem geordneten Vorgehen und zu einer Übersicht über die verschiedenen Aspekte des Themas zu finden, bekommen die Schülerinnen und Schüler bereits vor der Visionierung des Videobeitrags eine Beobachtungs- und Auswertungsfrage: «Welche verschiedenen Aspekte auf Chardas Frage werden in diesem Beitrag vorgestellt?»

Nach dem Film werden die Ergebnisse der beiden vorhergehenden Schritte zusammengetragen. Der Fokus liegt dabei auf der Analyse der verschiedenen Aspekte der Debatte.

5.4 Arbeitsblatt/Textarbeit: Koran und Kopftuch

Unter den im vorherigen Schritt zusammengetragenen Aspekten wurde sicherlich auch der Aspekt «religiös», «Islam» oder sogar «Koran» genannt. Mit der Ankündigung «Charda liest im Koran» wird dieser Aspekt aufgenommen und – wiederum in Übernahme der Perspektive Chardas – je einzeln – bearbeitet. Das Arbeitsblatt (AB Koran und Kopftuch) stellt zwei Stellungnahmen gegeneinander, die sich beide auf den einschlägigen Koranvers 24,30–31 beziehen. Es handelt sich bei diesen Texten um einerseits eine stark gekürzte Fassung eines «Standpunkts» des IZRS zu «Hijab/Gesichtsschleier»[9] und andererseits eine ebenfalls stark gekürzte Fassung der Auslegung von Sure 24,30–31 aus der Untersuchung «Das Kopftuch in Koran und Sunna»[10] von Prof. Dr. Ralph Ghadban.

Die Aufgaben des Arbeitsblatts zielen ab zunächst auf pointiertes Textverständnis im Hinblick auf Chardas ethische Frage, dazu weiterhin auf Charakterisierung der Koranauslegung sowie (als Zusatzaufgabe) Erhebung der den beiden Texten zugrundliegenden Werte.

Im Plenum (nach der Pause) werden lediglich die beiden letzten Aufgaben aufgenommen, einerseits dient das zur Charakterisierung und genaueren Einordnung der beiden Texte und ihrer Autoren, andererseits der Vorbereitung des nächsten Schrittes; der Arbeit mit dem Wertequadrat. Die aus den beiden Texten erhobenen Werte werden zur Weiterarbeit auf der Tafel festgehalten.

5.5 Lehrervortrag: Wertequadrat

Nachdem Chardas Koranlektüre ganz offensichtlich nicht die erhoffte Klärung, sondern zwei widerstrebende Positionen bzw. eine Vielzahl sich widersprechender Grundüberzeugungen und Werte zutage gefördert hat, führt der Lehrervortrag (vgl. MB Lehrervortrag) ein neues Denkmodell für Chardas weitere Überlegungen ein.

Inhaltlich entspricht dieser Lehrervortrag dem, was ich bereits oben (2.2) zum Wertequadrat skizziert habe. Der Lehrervortrag ist kein rein verbaler Vortrag, sondern er kommentiert das nach und nach an der Tafel entstehende grundlegende Concept Map 2 (s. o., 2.2) zum Wertequadrat anhand des klassischen Beispiels.

Die Schülerinnen und Schüler haben anschliessend die Gelegenheit, an der Erstellung von zwei Wertequadraten mitzudenken und mitzuwirken, wenn in einem entwickelnden Unterrichtsgespräch das Ergebnis von Chardas Koranlektüre in einem Wertequadrat skizziert und die derzeit geklärte juristische Debatte mit Hilfe des Wertequadrats noch einmal geöffnet wird.

5.6 Arbeitsblatt: Wertequadrate

Nachdem die Konstruktion von Wertequadraten damit einigermassen klar sein sollte, wird die Klasse in fünf Dreier- bis Vierergruppen geteilt, von denen jede ein Arbeitsblatt (vgl. AB Wertequadrate) mit einem Auftrag zur Konstruktion eines oder (als Zusatzaufgabe) mehrerer Wertequadrate erhält.

Zusätzlich zu den vier Aspekten der Kopftuchdebatte (von denen bereits zwei Aspekte im Rahmen des Unterrichtsgesprächs als Wertequadrat vertieft wurden), kommen hier noch drei weitere Aspekte aus dem konkreten Fall «Chardas Hijab» ins Spiel, die möglicherweise auch bereits in der Auslegeordnung zu Wort gekommen sind: der ästhetische Aspekt, der gemeinschaftsbezogene Aspekt sowie der auf das System Schule bezogene Aspekt (vgl. Concept Map 4, s. o., 2.3).

5.7 Arbeitsblatt: Hausaufgabe

Am Ende der Doppellektion liegen mit mindestens sieben Aspekten der Debatte, die in Form von Wertequadraten vertieft sind, wesentliche Grundlagen vor, die bei der ethischen Urteilsfindung dienlich sein können.

Das Hausaufgabenblatt (vgl. AB Hausaufgabe) leitet an zu einem Vorgehen, in dem die verschiedenen Aspekte gewichtet und die in den Wertequadraten in Spannung stehenden Ambivalenzen gegeneinander abgewogen werden und das schliesslich zu einem begründeten eigenen ethischen Urteil führt.

6. Weiterführung des Unterrichts

Die Hausaufgabe führt die Fallarbeit zu ihrem Ziel, nämlich einem eigenen begründeten ethischen Urteil. In der folgenden Doppellektion könnten einige, möglichst verschiedene ethische Urteile vorgetragen und analysiert werden: Wurden die in der Hausaufgabe genannten Schritte eingehalten, sind Skizze, Begründung und ethisches Urteil konsistent?

Ebenso könnte nun eine Diskussionsrunde eingeschaltet werden, entweder nach den Regeln des Dilemmalernens – um das je getroffene ethische Urteil anhand der in der Diskussion gehörten Gegenargumente noch einmal neu zu überdenken – oder nach den Regeln des Debattenlernens – um die rhetorische Umsetzung der ethisch begründeten Position einzuüben und zu reflektieren.

Schliesslich könnte nach Vorliegen des ethischen Urteils noch einmal evaluativ zurückgefragt werden, wie sehr die Wertequadrate tatsächlich zu einer Klärung, Vertiefung und Verhandelbarkeit des ethischen Problems und zu der Verbesserung des ethischen Urteils beitragen können.

Zusatzmaterial

Anmerkungen

[1] Verordnung des Bundesrates/Reglement der EDK über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen (MAR), Bern, www.edudoc.ch/record/38112/files/VO_MAR_d.pdf (30.08.2016)
[10] vgl. www.bpb.de/politik/innenpolitik/konfliktstoff-kopftuch/, PDF-Dokument, S. 75–81. (aktualisiert 23.11.2019)
Artikelnachweis
Kuhl, Matthias (2016): Hijab in der Schule? Eine ethische Fragestellung aus der Perspektive muslimischer Schülerinnen, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/kuhl-hijab-in-der-schule/

Über Matthias Kuhl

Matthias Kuhl ist Fachlehrer für Religionslehre am Gymnasium Kirchenfeld Bern und Studienleiter und Dozent für Religionslehre an der Universität Luzern.