Denken ohne fachliches Geländer?


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Denken ohne fachliches Geländer?

Ethik-Unterricht zwischen den Disziplinen

Ein Sammelband zur Standortbestimmung des Fachs «Werte und Normen»
Buchcover: Burkard, Anne / Martena, Laura (Hg.): Denken ohne fachliches Geländer? Ethik-Unterricht zwischen den Disziplinen. Heidelberg, Berlin: Metzler 2024.

Burkard, Anne / Martena, Laura (Hg.): Denken ohne fachliches Geländer? Ethik-Unterricht zwischen den Disziplinen. Heidelberg, Berlin: Metzler 2024.

Von Laura Mercolli

Pünktlich zum 50-Jahr-Jubiläum der gesetzlichen Grundsteinlegung für das niedersächsische Fach «Werte und Normen» legen die Herausgeberinnen Anne Burkard und Laura Martena einen Sammelband vor, der aus einer Tagung in Göttingen zu Perspektiven, Chancen und Herausforderungen des Schulfachs «Werte und Normen» hervorgegangen ist.

Zwei Schulfächer – ähnliche Herausforderungen

Das Fach «Werte und Normen», das im Bundesland Niedersachsen auf Sekundarstufe I und II unterrichtet und derzeit auch auf Grundschulstufe eingeführt wird, steht vor ähnlichen Herausforderungen wie das Deutschschweizer Fach «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG), obwohl die Fachgenese eine jeweils andere ist. Zum einen speisen sich beide Schulfächer aus mehreren Bezugsdisziplinen, namentlich der Philosophie und der Religionswissenschaft sowie weiteren Gesellschaftswissenschaften – was zu Fragen nach dem angemessenen Status und der Rolle der verschiedenen Disziplinen auf der Ebene der Bildungsziele, Inhalte und Kompetenzen führt. Zum anderen stellen sich durch die wachsende Bedeutung der Fachdidaktiken für beide Fächer sowie angesichts der bildungspolitisch geforderten Vergleichbarkeit mit anderen Philosophie- und Ethikfächern Herausforderungen der besonderen Art: Soll angesichts des multidisziplinären Zuschnitts eine einzige disziplinüberschreitende «Werte und Normen»- respektive ERG-Didaktik entwickelt werden? Soll es eine Leit-Fachdidaktik geben? Oder sollen die Philosophie- und Religionskundedidaktik nebeneinander bestehen? Der Sammelband nimmt sich dieser beiden Themen an und vereinigt Antworten auf die disziplinäre Verhältnisbestimmung und auf die fachdidaktische Entwicklung.

Disziplinäre Verhältnisbestimmung

In Anspielung an Hannah Arendts Diktum lautet der Titel des Bandes: «Denken ohne fachliches Geländer?» Nach der Lektüre ist klar: Niemand will das Geländer der eigenen disziplinären Fachlichkeit loslassen. Und doch zeigen sich Unterschiede: Anne Burkard argumentiert für die Idee einer Leitdisziplin und dafür, dass die Philosophie diese Rolle einnehmen sollte. Gleich halten es Nick Büscher und Christoph Wolter in ihrem Beitrag. Fritz Heinrich sieht die Disziplinen eher in einem produktiven Nebeneinander, insbesondere soll die Religionswissenschaft frei von der Dimension der Normativität bleiben. Wanda Alberts macht den Beitrag der Religionswissenschaft stark, Alexander-Kenneth Nagel klagt den Missstand an, dass die Soziologie bloss ein «Datenknecht» sei, und fordert, die sozialwissenschaftliche Denkart stärker zur Geltung zu bringen. Eine Stimme aus der Psychologie fehlt. Diese Bezugswissenschaft wird zwar in den Beiträgen sporadisch genannt, scheint jedoch keine Rolle in der Fachausbildung zu spielen.

Fachdidaktik

Bei den Textbeiträgen, die auf die Fachdidaktik fokussieren, ist die Bereitschaft eher vorhanden, sich vom «fachlichen Geländer» zu lösen. Sarah Huck, Jürn Gottschalk, Linda Merkel und René Torkler schlagen in ihren jeweiligen Beiträgen fachdidaktische und bildungstheoretische Prinzipien vor, die geeignet sein könnten, als Gesamtidee für das Fach «Werte und Normen» und vergleichbare Fächer wie „Lebensgestaltung, Ethik, Religionskund“ oder ERG zu fungieren. Teilweise sind diese Prinzipien kompatibel mit der Einklammerung von Geltungs- und Wahrheitsansprüchen und der Enthaltung von Bewertungen (z. B. religiöser Phänomene), die zum Wissenschaftsverständnis der Religionswissenschaft gehören. Sarah Huck empfiehlt die Orientierung am Staunen, Jürn Gottschalk an der Fähigkeit, Diskurse zu überschreiten und zu verbinden, Linda Merkel an Problemen, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern und René Torkler an der narrativen Kompetenz. Eine fachdidaktische Grundkonzeption ohne übergreifende fachdidaktische Prinzipien hat Markus Rassiller vor Augen, wenn er neben der philosophiedidaktischen Modellierung eine ebenbürtige religionskundedidaktische Modellierung der Unterrichtsinhalte fordert. Was in verschiedenen Beiträgen zwar als zentrales Element genannt, aber nirgendwo als mögliches übergreifendes Proprium des Fachs «Werte und Normen» portiert wird, ist die Förderung der Fähigkeit, Kritik zu üben – sei es Ideologiekritik, Dekonstruktion, kritische Analyse von Diskursen, Sichtbarmachen von Ungesagtem, Widersprüchlichem, Ambivalentem. Ein auf die fachlichen und fachdidaktischen Anforderungen des Fachs «Werte und Normen» abgestimmtes Konzept von Kritik und Kritikkompetenz hätte das Potenzial, zu einem Identifikationspunkt zu werden, in dem sich sowohl die Philosophie wie auch die Religionswissenschaft finden könnten.

Fachentwicklung

Wer mehr über das Fach «Werte und Normen» erfahren möchte, kommt nicht zu kurz: Eine Reihe von Beiträgen widmet sich der Darstellung der Verhältnisse und Rahmenbedingungen (Thorsten Schimschal mit Blick auf die Geschichte des Fachs, Anne Burkard auf die gesetzlichen und curricularen Vorgaben, Sarah Huck auf die Lehrpersonenausbildung und Jonas Riebeling, Catrin Schmühl und Markus Rassiller mit Blick auf die schulorganisatorische Umsetzung), um daraus Schlüsse in Bezug auf die Fachentwicklung zu ziehen.

Es wird sichtbar, dass auf verschiedenen Ebenen konstruktiv an der Weiterentwicklung des Fachs «Werte und Normen» gearbeitet wird: durch konzeptionelle Arbeit, durch die Vernetzung der Ausbildner*innen verschiedener Bezugsdisziplinen und Ausbildungsstandorten, Fachverbände und Vertretungen der Schulpraxis, aber auch durch Hochschulentwicklungsprojekte wie das Projekt «Strukturelle und inhaltliche Verbesserung der Lehramtsausbildung für das Fach Werte und Normen an Gymnasien», welches von Christina Wöstemeyer in ihrem Beitrag vorgestellt wird.

Der Sammelband gewährt einen wertvollen Einblick in den gegenwärtigen Stand der Diskussion um das Fach «Werte und Normen», der auch für den Fachbereich ERG von Interesse ist. In ausgewogener Weise finden sich Beiträge mit deskriptiven Teilen, die auf die Darstellung des Fachs und seiner Rahmenbedingungen zielen, Beiträge mit konkreten fachdidaktischen Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Fachs sowie Beiträgen mit – auch fachpolitisch geprägten – Überlegungen, wie fach-, ausbildungs- und schulspezifische Herausforderungen des Fachs «Werte und Normen» gemeistert werden können.

Für die Fachentwicklung besteht meines Erachtens der nächste Schritt darin, den Blick auf den Schulunterricht zu richten: Was und wie lernen die Schüler*innen im Fach «Werte und Normen»? Über welches Professionswissen verfügen «Werte und Normen»-Lehrpersonen? Welche Haltungen und fachdidaktischen Überzeugungen leiten ihren Unterricht? Die aus solchen Fragen gewonnenen Erkenntnisse könnten so auf die konzeptionellen Überlegungen des vorliegenden Sammelbandes bezogen und Schlüsse für die Lehrer*innenbildung gezogen werden. Dadurch würde die in einigen Textbeiträgen beschworene Verbindung von Theorie und Praxis auf der Ebene der Lehrer*innenbildung um eine weitere Dimension ergänzt.

Artikelnachweis
Mercolli, Laura (2024). Denken ohne fachliches Geländer? Ethik-Unterricht zwischen den Disziplinen. Ein Sammelband zur Standortbestimmung des Fachs «Werte und Normen» in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/laura-mercolli-denken-ohne-fachliches-gelaender