Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen, Band 1|2


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Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen, Band 1|2

Ein neues Lehrmittel für den Ethikunterricht gemäss Lehrplan 21

Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen, Band 1|2, Lehrmittel für die 1./2. Klasse, mit digitalem Kommentar und Klassenmaterial, Zürich 2020.
Von Jonas Pfister

Wer bislang deutschsprachige Materialien zum Philosophieren mit Kindern einsetzen wollte, musste sich hauptsächlich auf Schulbücher aus Deutschland stützen.[1] Nun sind dieses Jahr gleich zwei Schweizer Lehrmittel auf Deutsch erschienen. Erstens, «Die Philo-Kinder. Zehn grosse Fragen zum gemeinsamen Nachdenken über das gute Leben» (2019). Dieses ursprünglich auf Französisch für die Romandie von Christine Fawer Caputo und Samuel Heinzen 2017 entwickelte Lehrmittel wurde von Sophia Bietenhard und Petra Bleisch für die deutschsprachige Schweiz adaptiert.[2] Zweitens, «Schauplatz Ethik». Dieses Schulbuch legt der Lehrmittelverlag Zürich in Koordination mit der interkantonalen Lehrmittelzentrale vor. Es ist in vier Bänden auf die ganze obligatorische Schulzeit angelegt. Was bietet es? Erfüllt es die Anforderungen an ein modernes Schulbuch für den Ethikunterricht? Was sind die Vorzüge, und allenfalls auch, was sind die Schwächen?

Zunächst soll der «Schauplatz Ethik» allgemein kurz vorgestellt werden. Danach liegt der Fokus auf dem Band für die 1./2. Klasse (1. Zyklus).

Allgemeines zu «Schauplatz Ethik»

Als Erstes fällt auf: Es ist ein schönes Buch! Ein Umschlag, auf dem sanft gezeichnete Bilder von Menschen und anderen Lebewesen zu sehen sind. Im Innern bietet ein grosszügiges Layout mit Bildern und kurzen Texten viel Raum für eigenes Denken.

Als Zweites fällt auf: Das Buch enthält jeweils als Kapiteleinstieg ein doppelseitiges Wimmelbild. Und da zeigt sich bereits das Konzept des «Schauplatzes»: Die Schauplatz-Wimmelbilder zeigen Dinge, auf die sich unser Blick richtet. Die Dinge sind in dem Fall Situationen, mehr oder weniger alltäglich, in denen wir uns als Menschen befinden können, insbesondere die Kinder und Jugendlichen. In den Wimmelbildern gibt es zunächst natürlich einiges zu entdecken. Sie bieten damit einen geeigneten Ausgangspunkt dafür, die Wahrnehmung zu schärfen und verbunden mit der Aufgabe, etwas genau zu beschreiben, auch dafür, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit zu üben und weiterzuentwickeln. Daran schliessen sich fast wie von selbst Fragen an, die sich auf das richten mögen, was diese Menschen gerade tun, aus welchem Grund und mit welchem Ziel sie es tun, aber auch Fragen, die darüber hinaus ins Grundlegende und damit das Philosophische vordringen.

Nach der Doppelseite mit dem Wimmelbild folgt eine Doppelseite mit weiterführenden und zum Philosophieren anregenden Fragen. Unter «Philosophieren» wird hier eine «kulturelle Praxis des gemeinsamen und gründlichen Nachdenkens verstanden».[3] Man könnte ergänzen: es ist ein Nachdenken über Grundlegendes. Denn das ist, was letztlich Philosophieren ist, eine argumentative und begriffliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen unseres Verständnisses von uns selbst und der Welt.

In erster Linie soll es beim «Schauplatz Ethik» um die Frage gehen: Was ist ein gutes Leben und wie kann man ein solches führen? Diese Frage hängt natürlich eng mit der ebenfalls zum Bereich der Ethik gehörenden und im Schulbuch behandelten Frage zusammen, wie wir mit anderen Menschen und anderen Lebewesen umgehen sollen. Und natürlich hängt sie auch mit weiteren philosophischen Fragen zusammen wie derjenigen, woher wir etwas wissen können, also auch wissen, was gut ist (Erkenntnistheorie), was einen Menschen wesentlich ausmacht (Philosophische Anthropologie) und was es überhaupt gibt (Metaphysik). Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen geht es nicht darum und ist es auch kein Anliegen von «Schauplatz Ethik», den Schülerinnen und Schülern vorgefertigte Antworten zu geben. Vielmehr sollen sie dazu angeregt werden, Fragen zu stellen, Antworten zu suchen, diese zu begründen, die Begründungen zu prüfen und damit ihr eigenes Denken zu entwickeln. «Schauplatz Ethik» steht somit in der Tradition der Aufklärung, deren Ziel das eigenständige Denken ist. Oder wie Immanuel Kant sagt: Aufklärung ist der «Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit», und unter Unmündigkeit versteht Kant «das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen».[4] Es geht also darum, das Denken zu lernen.

Im Buch finden sich zu jedem Schauplatz mehrere Vertiefungen. Auf diesen Vertiefungsseiten wird weiteres Material angeboten (Bilder, Lehrtexte, Interviews, Zeitungsartikel, Zitate, usw.), mit dem man die mit dem Schauplatzbild aufgeworfenen Themen im Unterricht weiter bearbeiten kann. Zu den Vertiefungen gibt es umfangreiches Arbeitsmaterial, das online angeboten wird. Es lohnt sich, die Online-Lizenz zumindest für ein Jahr zu erwerben, damit man die Materialien anschauen, ausprobieren und danach angepasst auf den eigenen Unterricht weiterentwickeln kann.

In jedem Band gibt es zudem sogenannte «Ateliers», die Schülerinnen und Schülern anregen sollen, ein Thema eigenständig zu bearbeiten. Auf den letzten Seiten schliesslich findet sich der stufengerechte philosophische «Werkzeugkasten», d. h. Formulierungshilfen, um etwas a) zu beschreiben oder b) zu unterscheiden, um etwas c) zu begründen oder d) mit anderen darüber zu diskutieren oder e) sich eine Möglichkeit vorzustellen. In allen Bänden werden die philosophischen Impulsfragen nach diesen fünf Kategorien in farbigen Kästchen markiert.

Der Online-Lehrerband enthält zwei Abschnitte zur Vorbereitung des Philosophierens und zur Durchführung philosophischer Gespräche.[5] Das philosophische Gespräch ist ein wichtiger, wenn nicht der zentrale Teil des Ethikunterrichts. Hier kommt es zu der Auseinandersetzung mit anderen Ansichten, werden Widersprüche aufgedeckt und werden Behauptungen in Frage gestellt, hier werden Argumente ausprobiert, geprüft und allenfalls zurückgewiesen, und hier entstehen im Gedankenaustausch neue Fragen. Die Ausführungen dazu im Online-Lehrerband liefern lediglich eine grobe Charakterisierung eines philosophischen Gesprächs und geben nur einige allgemeine Hinweise zur Durchführung. Hier ist zu beachten, dass das Führen eines philosophischen Gesprächs (bzw. die Leitung eines (neo-) sokratischen Gesprächs[6]) anspruchsvoll ist. Es verlangt sowohl ein grosses Hintergrundwissen zum Thema (zu den Begriffen, Positionen und Argumenten) als auch Kenntnisse und Fähigkeiten der Gesprächsführung.[7] Es ist nicht die Aufgabe eines Lehrmittels, die Grundlagen dafür zu liefern; sie müssen im Rahmen des Studiums und der Ausbildung erarbeitet werden. Wichtig ist allerdings, dass man das im «Schauplatz Ethik» als dritten Schritt – nach dem Wahrnehmen und Fragen – bezeichnete Begründen[8] nicht bloss als Anfügen irgendeines noch so schlechten Grundes sieht, sondern als ein echtes gemeinsames Ringen darum, gute Gründe zu finden, und das heisst auch: schlechte Gründe zu erkennen und als solche aus- und für die Begründung der zur Diskussion stehenden These zurückzuweisen, nicht dadurch, dass man sagt, etwas sei falsch, sondern dass man aufzeigt, dass es falsch ist, so dass es die Schülerinnen und Schüler selber erkennen.

Kinder und Jugendliche verfügen wie Erwachsene bereits über mehr oder weniger differenzierte Werte, die ihnen mehr oder weniger bewusst sind, d. h. «die Moral ist schon da»; und es ist wichtig, dem Wahrnehmen davon, was für einen persönlich auf dem Spiel steht, Raum zu geben, sich bewusst zu machen, auszuformulieren, und sich mit anderen darüber auszutauschen.[9] Ebenso wichtig ist es aber, diese bestehende Moral auch herauszufordern und durch die Auseinandersetzung mit Einwänden weiterzuentwickeln. Denn es ist nicht so, dass wir in unserer Moral immer richtig liegen würden, und es ist auch nicht so, dass es für jede ethische Frage eine eindeutige Antwort gäbe. Vielmehr müssen Kinder und Jugendliche vieles erst lernen, und sie lernen dies in der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen und Erwachsenen – genau deshalb ist der Ethikunterricht auch so wichtig. Und sie müssen auch erkennen, dass sich ethische Fragen nicht einfach so beantworten lassen, sondern dass es darauf ankommt, wie man eine Situation beschreibt und wie man die Frage und die Antwort dazu formuliert. Und es kann sein, dass wir, wenn wir genau geklärt haben, was wir meinen, es dennoch unbestimmt bleibt, was wir nun tun sollen.

Eines der entscheidenden Hilfsmittel für die Weiterentwicklung der eigenen Moral ist sicherlich die Frage, wie man sich fühlen würde, wenn man an der Stelle des anderen wäre. Darüber hinaus bietet die Idee der gegenseitigen Abmachung eine Grundlage, der viele zustimmen würden: Wir halten uns an eine Regel, weil die anderen sich auch daran halten. Beides sind Überlegungen, die auch bereits Kinder nachvollziehen können. Sich es auch tatsächlich zu überlegen, erfordert unter Umständen einen Impuls von aussen, einen Impuls, den unter anderem die Lehrperson geben kann und manchmal geben muss.

Zu den Themen im Band für die 1./2. Klasse

Im Band für die 1./2. Klasse werden sechs Schauplätze mit jeweils zwei Vertiefungen vorgestellt. Damit man sich einen Überblick über die Themen machen kann, sind die Schauplätze hier zusammen mit einigen Fragen aus den Vertiefungen in einer Liste zusammengestellt:

1. Schwimmbad
  • Identität: Wer bin ich? Was kann ich, was nicht? Was möchte ich können?
  • Regeln: Was ist erlaubt, was nicht? Wozu braucht es Regeln?
2. Schulzimmer
  • Freundschaft: Was gehört zu einer Freundschaft?
  • Streit und Versöhnung: Weshalb gibt es Streit? Wie kann man sich versöhnen?
3. Zuhause
  • Familie: Was macht Familie aus? Welche Formen gibt es?
  • Zeit: Wofür braucht man Zeit?
4. Schwimmbad
  • Angst und Mut: Was ist Angst und was Mut? Wann darf man Angst haben? Muss man immer mutig sein?
  • Nähe und Abstand: Wer darf was mit wem machen?
5. Wald
  • Achtsamkeit: Was ist Achtsamkeit? Warum ist sie wichtig?
  • Veränderung: Warum verändert sich einiges und anderes bleibt gleich? Welche Bedeutung haben bestimmte Veränderungen für unser Leben?
6. Bahnhof
  • Gleich und verschieden: Worin sind sich Menschen gleich und worin unterscheiden sie sich?
  • Zuhause und unterwegs: Wozu reisen Menschen?

Alle Schauplätze stellen Situationen dar, von denen die Kinder in dem Alter bereits viele kennen. Sie regen dazu an, Fragen zu stellen, und eignen sich dazu, grundlegende Fragen zum menschlichen Leben einzuführen. Die Themen und Materialien sind stufengerecht ausgewählt und formuliert. Die Wimmelbilder, Vertiefungen und Materialien regen wunderbar zum Denken an und bilden einen guten Ausgangspunkt für philosophische Gespräche. Fazit: «Schauplatz Ethik» bietet für den 1. Zyklus ein sehr gutes Schulbuch für den Ethikunterricht.

Literatur

Bietenhard, Sophia / Bleisch, Petra (2019): Die Philo-Kinder. Zehn grosse Fragen zum gemeinsamen Nachdenken über das gute Leben, Lausanne. (Deutschsprachige Adaption von Fawer Caputo / Heinzen 2017).
Bietenhard, Sophia / Bleisch, Petra (2020): Die Philo-Kinder. Ein Lehrmittel für Kindergarten und Unterstufe (Zyklus 1), in: erg.ch –Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/bietenhard-bleisch-die-philo-kinder/ (Zugriff am 18.08.2020).
Birnbacher, Dieter / Krohn, Dieter (Hrsg.) (2002): Das sokratische Gespräch, Stuttgart.
Fawer Caputo, Christine / Heinzen, Samuel (2017): Les Zophes. Dix grandes questions pour construire une réflexion éthique, Lausanne.
Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, H. 12, S. 481–494. Wiederabdruck in: Bahr, Erhard (Hrsg.) (1980): Was ist Aufklärung? Stuttgart. Und in: Kant, Immanuel (2017): Denken wagen, Stuttgart.
Pfeiffer, Matthias (2020): Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen. Ein erläuternder Kommentar, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/pfeiffer-schauplatz-ethik/ (Zugriff am 18.08.2020).
Pfister, Jonas (2014): Fachdidaktik Philosophie, 2. Auflage, Bern/Stuttgart.
Zoller Morf, Eva (2010): Selber denken macht schlau, Bern.

Anmerkungen

[1] Eine Ausnahme bilden die Bücher für Kinder von Eva Zoller Morf, zuletzt Selber denken macht schlau (2010), das ihre früheren Bücher ersetzt und erweitert.
[2] Siehe Bietenhard/Bleisch 2020 für eine einführende Darstellung sowie weiterführende Informationen zur Bestellung der Materialien.
[3] Elektronischer Lehrerband, 002.lmvz.ch/ethik-1-2/uber-das-lehrmittel/willkommen-bei-schauplatz-ethik/ (Zugriff nur mit Lizenz).
[4] Kant 1784, S. 481.
[6] Siehe Birnbacher/Krohn 2002.
[7] Siehe zur Gesprächsführung die «Checkliste zur Diskussionsführung» in Pfister 2014, S. 145–151.
[8] So auch im erläuternden Kommentar von Matthias Pfeiffer 2020.
[9] Ebd.
Artikelnachweis
Pfister, Jonas (2020): Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen, Band 1|2. Ein neues Lehrmittel für den Ethikunterricht gemäss Lehrplan 21, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/pfister-schauplatz-ethik-1-2/

Über Jonas Pfister

Dr. Jonas Pfister ist Lehrer für Philosophie am Gymnasium Neufeld in Bern. Er ist Autor von philosophischen Einführungen, Büchern und Fachartikeln zur Didaktik der Philosophie und Ethik. Bei «Schauplatz Ethik» hat er als externer Begutachter mitgewirkt.