Solidarität – ein Bezugskonzept der Didaktik des ERG-Bereichs «Gemeinschaft»
1. «Gemeinschaft»: ein Fachbereich ohne Fach
Der Lehrplan des Bereichs «Gemeinschaft», adressiert eine Vielzahl von Kompetenzen mit grosser Relevanz für die gesellschaftliche Gegenwart: Schüler:innen sollen befähigt werden, faire und offene Gespräche zu führen, mit Konflikten umzugehen, eigene Potenziale jenseits beruflicher Verwirklichung zu entdecken, Sozialkompetenzen zu entwickeln und für Menschen in besonderen Lebenslagen Verständnis zu entwickeln, diskriminierendem Verhalten zu entgegnen, Geschlechterrollen zu reflektieren, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Vielfalt zu realisieren (D-EDK 2014: 370).
So zentral und so akut dringlich diese intendierten Kompetenzen auch sind, bislang ist kaum empirisch evident, wie zu ihrer Entwicklung im Unterricht beigetragen werden kann. Während die Didaktik der Bereiche «Ethik» und «Religionen» bereits seit Einführung des Fachs ERG intensiv debattiert wird (Bietenhard/Helbing/Schmid 2015) und Publikationen wie Forschungsprojekte die Einführung der Bereiche Religionen und Ethik in der Schule begleitet haben (Bietenhard, Sophia/Estermann, Guido 2016, Helbling/Schallberger 2019), ist der Teilbereich «Gemeinschaft» bisher noch wenig erschlossen und erforscht.
Die geforderten Kompetenzen des Bereichs «Gemeinschaft» sind keineswegs einmalig oder neu; die verhandelten Stichworte sind schon lange in Lehrplänen präsent: beispielsweise seit den 1920er Jahren im Rahmen eines Lebenskunde-Unterrichts (Osuch 2000), als pädagogischer Bestseller «Lernziel Solidarität» in den 1970er Jahren (Richter 1974, darüber: Börner/Dafinger 2020), als Aspekt moralischer Erziehung oder Werte-Erziehung (Standop 2016), oder als Global Citizenship Education (UNESCO 2024). Auch in Klafkis Konzeption der Allgemeinbildung kommt den adressierten Kompetenzen Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit eine zentrale Rolle im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu (Klafki 2007: 52).
Doch der Abstand zwischen Anspruch des Lehrplans 21 und fachdidaktisch begründeter Unterrichtspraxis im Bereich «Gemeinschaft» scheint mehr als 10 Jahre nach der Verabschiedung des Lehrplans besonders gross. Die Diskussion «über die spezifischen konzeptuellen und fachdidaktischen Grundzüge des Fachbereichs […] steht […] erst am Anfang.» (Bietenhard/Schnüriger/Brönnimann 2024: 48). Und die schulische Praxis scheint stark zu variieren. Je nach Kanton und Schule werden die intendierten Kompetenzen des Lehrplans für «G» ins überfachliche Lernen oder in die Klassenstunde delegiert oder eigenen Unterrichtsgefässen zugeordnet (Schmid 2018), teilweise wird entlang des Lehrmittels «Schritte ins Leben» (Estermann/Odermatt 2018) unterrichtet, wobei einige Kantone dafür Vorgaben machen oder Hilfestellung für eine Zyklusplanung (z.B. Mühlematter et al. 2019) geben. Ein empirischer Einblick in die gegenwärtige schulische Praxis steht allerdings noch aus.
Wenn die Aufgabe der Fachdidaktik als Wissenschaft vom domänen- oder fachspezifischen Lernen und Lehren ist, die Brücke von intendierten Kompetenzen zu geeigneten, validierten Unterrichtspraktiken zu schlagen, lässt sich daher sagen, dass für den Fachbereich «Gemeinschaft» von ERG bislang noch keine ausgearbeitete Fachdidaktik besteht.
Mit der neuen Publikation «Fachdidaktische Zugänge Ethik, Religionen, Gemeinschaft mit Bildung für Nachhaltige Entwicklung» schaffen Bietenhard, Schnüriger und Brönnimann (2024) hier eine Grundlage. Dem Bereich «Gemeinschaft» ist ein eigener Teilband gewidmet, in dem Facetten fachdidaktischer Praxis in «Gemeinschaft» skizziert und reflektiert werden. Zudem zeigen sie in den systematischen Überlegungen im Grundlagenband auf, dass es keinen Konsens über die Stellung des Bereichs «G» in Relation zu den Bereichen «E» und «R», wie auch zu anderen Fächern und überfachlichen Zielen gibt, die der Lehrplan 21 einfordert:
Sie identifizieren zwei grundsätzliche Strategien in der Umsetzung des Lehrplans «Gemeinschaft»: «Die eine verfolgt Anwendungsorientierungen durch möglichst authentische Lerngelegenheiten im Raum der Schule und ihrer Umgebung, die andere gewichtet das gegenstandsbezogene Lernen im Fachunterricht.» (Bietenhard/Schnüriger/Brönnimann 2024: 49). Diese beiden Grundausrichtungen werden von den Autor:innen noch in je zwei Facetten differenziert. In Anlehnung an den Diskurs um die Didaktik von «Religionen» könnte diese Unterscheidung als ein Learning about «Gemeinschaft» und als ein Learning in «Gemeinschaft» bezeichnet werden. Damit ist ein im besten Sinne provozierender Auftakt eines möglichen Diskurses geschaffen. Auch der Titel der Tagung «Bildung der Solidarität», in dessen Zusammenhang dieser Beitrag entstanden ist, verweist in seiner Doppeldeutigkeit auf dieses Spannungsfeld: ob es im Fachbereich um eine Bildung über Elemente und Bedingungen von Solidarität geht oder um die Frage, wie Bildung so eingerichtet werden kann, dass sie Solidarität bildet.
Für die gegenstandsorientierte Konzeption von «G», ein Learning about «Gemeinschaft», konturieren die Autor:innen drei Themenfelder: (1) Individuum und Person, (2) Gruppe, Gemeinschaft und Gesellschaft, (3) Beziehung, Interaktion und Kommunikation. Diesen werden dann spezifische Lerngegenstände zugeordnet. (Bietenhard/Schnüriger/Brönnimann 2024: 58–60). Eine auf diese Weise sachkundlich orientierte Didaktik ist ein Fundament, auf dem zukünftig der Zugang zu diesen Lerngegenständen zielgruppengerecht aufgebaut werden kann.
Fachdidaktisch bleibt in der gegenstandsorientierten Auffassung das Problem bestehen, dass sich die Lerngegenstände auf eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen beziehen (u.a. Psychologie, Soziologie, politische Philosophie, Gender Studies, philosophische Anthropologie, Politikwissenschaft), die insbesondere in der Sekundarstufe ohne diesen Fachbezug kaum didaktisch erschlossen werden können. Es bleibt ungeklärt, warum, wie und welche Inhalte ausgewählt werden und an welchen Parametern sich Lernen qualifiziert. Auf der einen Seite ist eine fachwissenschaftliche Erschliessung des Gegenstandsbereiches eine Bedingung für eine gediegene Fachdidaktik. Auf der anderen Seite droht aber eine pragmatische Überforderung in der Ausbildung von Lehrpersonen und in Bezug auf fachliche Ansprüche an den Unterricht, wenn ein Unterricht in «Gemeinschaft» voraussetzen würde, dass eine Lehrperson diese Disziplinen jeweils so vertieft studiert hat, dass sie eine Auswahl, Begründung und didaktische Erschliessung auf dem Stand der Disziplinen überall selbst vornehmen kann.
In dieser Lage sind erste Indizien nicht überraschend dafür, dass sich Lehrpersonen bei einer gegenstandsorientierten Gestaltung des Unterrichts von «Gemeinschaft» pragmatisch an gegoogelte Unterrichtsvorlagen halten oder am Lehrmittel entlang unterrichten und dabei einen ‘unfreiwilligen autodidaktischen Individualismus’ verfolgen, bei dem sich der affirmative Bezug auf den eigenen ‘richtigen’ Habitus rekursiv verstärkt (Schmidt 2023).
Dem Fachbereich «Gemeinschaft» fehlt das Fach, und das in zweifacher Weise: erstens im Sinne eines etablierten, stehenden Unterrichtsgefässes im Stundenplan, wenn der Kompetenzerwerb diffus an «überfachliches Lernen» oder implizites Lernen durch Sozialisation in der Schule delegiert wird, so dass es nicht nötig erscheint «Gemeinschaft» oder gar ERG als eigenes Fach zu adressieren und zu ressourcieren. Zweitens fehlt das Fach im Sinne der Bezugsdisziplin, auf die sich eine Fachdidaktik stützt, wenn sie wissenschaftlich generierte Wissensbestände lernbar machen will.
Wie kann dieses Problem des fehlenden Fachs und einer fehlenden Fachdidaktik produktiv angegangen werden?i
2. Bezugskonzepte statt Bezugsdisziplinen als Referenz
Eine gut begründbare und pragmatische Lösung bestünde darin, diese Aufgabe an einen der anderen Bereiche zu delegieren. Sowohl die Religionskundedidaktik wie die Philosophiedidaktik haben Ressourcen und Praktiken, die hierfür in Frage kommen. Insbesondere für die Philosophie und Philosophiedidaktik als «Bezugsdisziplin» oder sogar «Leitdisziplin» für die Themen von «Gemeinschaft» lassen sich gute Argumente anbringen. Philosophie als Leitdisziplin erlaubt nicht nur eine fachliche und diskursive Absicherung gegen Willkür und Unwissenschaftlichkeit, sondern es ergeben sich auch Vorteile für die Ausbildung von Lehrpersonen im Sinne einer fachlichen Verortbarkeit und Zuschreibung von Verantwortung (Burkard 2024).
Doch würde in der Schweiz diese Lösung vermutlich keinen Konsens finden, denn ein Ergebnis der Debatte um das Fach ERG in der Entstehungszeit war gerade, dass die Bereiche «R» und «E» mit Religionskunde und Ethik/Philosophie je eigene Bezugsdisziplinen haben, die Religionskunde-Didaktik und die Ethik-Didaktik eine zentrale Referenz darstellen und dass Lehrpersonen mit entsprechend qualifizierten Dozierenden ausgebildet werden sollen (Bleisch 2018, Bietenhard, Sophia/Estermann, Guido 2016, Mercolli Rosenberger 2024). – Eine einzige Leitdisziplin für das ganze Fach ERG erwies sich für die präzisen Lehrplananforderungen nicht differenziert genug und provozierte Fragen der disziplinären Über- und Unterordnung. Daher erscheint es naheliegend, auch für den Bereich «G» nach diesem Modell vorzugehen und eine bereichsspezifische Fachlichkeit und Didaktik anzustreben.
Blickt man jedoch genauer auf die Anforderungen des Lehrplans, wiederholt sich das Problem: diese sind nicht mit einer zusätzlichen dritten Bezugsdisziplin adäquat abzudecken. Die Verweise auf die Disziplinen Psychologie, Soziologie, politische Philosophie, Gender Studies, philosophische Anthropologie und Politikwissenschaft sind zu direkt, um sie auf eine Disziplin zurückzuführen oder sie aus der Perspektive einer Disziplin allein thematisieren zu können.
Aus diesen Gründen wird hier wird daher dafür argumentiert, den Bezug zu diesen Disziplinen zwar aufrecht zu erhalten, diesen aber über Bezugskonzepte zu filtern und zu strukturieren, die die spezifischen Anliegen und Eigenheiten des Fachbereichs «Gemeinschaft» eingrenzen. Die Eingrenzung und fachdidaktische Erschliessung des Wissensbestandes erfolgt dann nicht über die Auswahl von Inhalten oder Theoriepositionen in den Disziplinen, sondern über eine anhaltende Fachdiskussion über diese Bezugskonzepte, was Unabgeschlossenheit impliziert, Kontroversität voraussetzt aber auch normative Rahmensetzungen erlaubt.
Hier wird «Solidarität» als ein solches zentrales Bezugskonzept vorgeschlagen, da es das Spannungsfeld des Einzelnen und seines sozialen Zusammenhangs in der modernen, pluralen Gesellschaft aushandelt. Für die Tagung «Bildung der Solidarität» wurde ausserdem noch «Biografizität» als Bezugskonzept vorgeschlagen, da es verhandelt, welche Bedingungen nötig sind, um Identitätsfacetten und soziale Kontexte, in denen das eigene Leben verbracht wird, als gestaltbar zu erfahren. Dieses Bezugskonzept, wo nicht der Bezug zu Anderen, sondern der Selbstbezug Ausgangspunkt ist, wäre an anderer Stelle einmal auszuarbeiten.ii
Wenn es gelingt, Wissensbestände einer oder verschiedener Disziplinen im Hinblick auf bestimmte schulische Anforderungen von Lehrpersonen zu strukturieren und durch einen Diskurs kontrovers zu erschliessen, kann von einer Wissensdomäne gesprochen werden, in der Expertise entwickelt werden kann (Krauss/Bruckmaier 2014). Die professionstheoretische Funktion eines Bezugskonzepts wie «Solidarität» ist dann, aus den verschiedenen Bezugsdisziplinen eine Wissensdomäne zu konturieren, die die Grundlage für professionelles fachdidaktisches Handeln darstellt.
Ist diese Wissensdomäne einmal näher umrissen, wird es auch möglich, das Professionswissen der Lehrpersonen durch empirische Untersuchungen genauer zu bestimmen: Welches Wissen aus dieser Domäne benötigen Lehrpersonen für eine erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen dieses Unterrichts? Dieses «Content Knowledge» (CK), und das «Pedagogical Content Knowledge» (PCK) unterscheidet sich vom «Fachwissen» und «fachdidaktischem Wissen» insofern, als sie deutlich machen, dass es nicht allein um ein Wissen der Lehrperson im Fach geht, sondern ein um Wissen und Können, das Lehrpersonen empirisch ermittelbar zur Verfügung haben, wenn sie erfolgreich auf Expertenniveau unterrichten. Die Bestimmung einer Wissensdomäne für den Bereich «Gemeinschaft» eröffnet so auch interessante Perspektiven für die Qualifizierung der intendierten Lernprozesse im Unterricht und erschliesst sie für die empirische Professionalisierungsforschung (Baumert/Kunter 2006), was perspektivisch dann auch empirisch gesättigte Grundlagen für die Aus- und Weiterbildung von ERG-Lehrpersonen legt.
Hier wird also vorgeschlagen:
- Die Fachlichkeit und Didaktik des Bereichs «Gemeinschaft» soll nicht durch einen der beiden anderen Bereiche «Ethik» oder «Religionen» bestimmt werden, sondern es braucht eine eigenständige, bereichspezifische Gegenstandsbestimmung und didaktische Profilierung.
- Dabei soll ein aktiver Bezug zu wissenschaftlichen Disziplinen (u.a. Psychologie, Soziologie, politische Philosophie, Gender Studies, philosophische Anthropologie) bestehen, auf die sich die geforderten Kompetenzen des Lehrplan 21 beziehen.
- Die notwendige Eingrenzung des Wissensbestandes soll nicht über bestimmte Inhalte oder Theoriepositionen dieser Disziplinen entstehen, sondern über eine Fachdiskussion, die unabgeschlossen ist, Kontroversität voraussetzt aber auch normative Rahmensetzungen erlaubt.
- Als ein zentrales Bezugskonzept dieser Fachdiskussion wird «Solidarität» vorgeschlagen, da mit ihm in seinen vielfältigen historischen, philosophischen, theologischen, soziologischen und politischen Bezügen das Verhältnis des Einzelnen zu Anderen (Gruppen, Gemeinschaften, Gesellschaft, weitere Mitwelt) genügend breit und dennoch konturiert genug verhandelt werden kann.
- Aus der Fachdiskussion zu Bezugskonzepten kann dann eine Wissensdomäne des Bereichs «Gemeinschaft» konturiert werden, was die fachliche Gediegenheit und wissenschaftliche Aktualität sichert, aber auch eine pragmatische Begrenzung des Wissensumfangs für die Ausbildung von Lehrpersonen erlaubt.
- Mit Bezug auf eine solche Wissensdomäne lässt sich dann auch empirisch ein fachbezogenes Professionswissen für Lehrpersonen («Content Knowledge» und «Pedagogical Content Knowledge») bestimmen, was die Fachdiskussion auch an die Professionalisierungsforschung in anderen Fächern anschliesst und erlaubt, sie für die Aus- und Weiterbildung zu operationalisieren.
3. Facetten des Solidaritätsbegriffs
Produktive Vielfalt
Die Geschichte (Brunkhorst 2016) und die disziplinären Bezüge (Bayertz 2019) des Begriffs Solidarität sind sehr reich und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine Erschliessung als Bezugskonzept für die Anliegen von «Gemeinschaft». Auch wird im Lehrplan 21 Solidarität explizit zusammen mit Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde als eines von vier benannten «Wertkonzepten» im Abschnitt «Didaktische Hinweise zu Ethik, Religionen, Gemeinschaft» genannt, die Lehrpersonen im Unterricht verdeutlichen und einbeziehen sollen (D-EDK 2014: 261).
Die Begriffsgeschichte regt vielfältige Assoziationen an, die auf der einen Seite in die römische Rechtsgeschichte reichen, in einer christlichen Soziallehre ebenso eine zentrale Rolle spielen wie in der Geschichte sozialistischer und anarchistischer Bewegungen (Wildt 2017). Im 19. Jahrhundert löst Solidarität den Kampfbegriff «Brüderlichkeit» der Französischen Revolution ab, um das auszudrücken, was nunmehr die Bürger eines Staates verbinden soll, wenn es nicht mehr die Zugehörigkeit zum Stand, zur Ethnie oder zum geteilten Glauben ist (Brunkhorst 2016: 9 ff, Süß 2023).
In die Ethik zieht der Begriff erst im 20. Jahrhundert ein und erhält gegenwärtig immer wieder neu durch Krisen Konjunktur (Piper 2023: 17 f). Zuletzt haben die Pandemie und der Krieg in der Ukraine Diskussionen um den Begriff provoziert (Reder/Stüber 2020, Stiehler et al. 2023), weswegen er auch als «Schwundbegriff» problematisiert wird: «Begriffe, die umso heftiger proklamiert werden und deren Konjunktur umso mehr Fahrt aufnimmt, je mehr das, was sie beschreiben, eben im Verschwinden begriffen ist» (Torkler 2021: 2).
Grob zusammengefasst können «aus den üppig wuchernden Verwendungsweisen des Solidaritätsbegriffs» (Bayertz 2019: 48), vier Zugänge unterschieden werden:
(1) Solidarität als Brüderlichkeit auf der Basis von Bluts- und Kulturbeziehungen,
(2) als national verfasste Gemeinschaft,
(3) als Band eines Sozialstaats und
(4) als politischer Kampfbegriff.
Insbesondere die beiden letzten Verwendungsweisen erweisen sich als begrifflich konsistent (ebd.) und können auch für unsere Zwecke verwendet werden.
Dann stehen zwei Verständnisweisen des Begriffs einander gegenüber: Solidarität wird entweder gefasst als «Bereitschaft eines Individuums oder einer Gruppe […] einem anderen Individuum oder einer anderen Gruppe bei der Durchsetzung seiner oder ihrer Rechte zu helfen». Solidarität richtet sich hier an ein Ausserhalb der eigenen Gruppe. Und weil die Durchsetzung der Rechte oft ein Resultat von Kämpfen ist, nennt Bayertz diese «Kampf-Solidarität», weil sie im Kontext der politischen Umbrüche des 19. Jahrhunderts hervorgetreten ist.
Oder Solidarität kann auch als «Inbegriff der wechselseitigen Bindungen und Verpflichtungen [gefasst werden], die zwischen einer Gruppe von Menschen bestehen» (Bayertz 2019: 48 f), insbesondere wenn diese Bindungen und Verpflichtungen durch gemeinsame Überzeugungen, Werte oder Lebensbedingungen geformt werden. Diese Solidarität richtet sich hier nach innen, ins Innere einer Gemeinschaft, weswegen Bayertz sie Gemeinschafts-Solidarität nennt.
Gemeinschaft und Gesellschaft
Solidarität ist somit das, was Menschen in modernen Gesellschaften verbindet und füreinander einstehen lässt. Um dies noch genauer zu fassen, kann auf eine Unterscheidung des Soziologen Ferdinand Tönnies zurückgegriffen werden. Er prägte mit seiner Schrift «Gemeinschaft und Gesellschaft» (Tönnies 1887/2019) eine wichtige Unterscheidung: Gemeinschaften sind Gruppen bzw. Kollektive, in denen der Einzelne für die Gruppe da ist. Die Ziele der Gruppe stehen über den Zielen des Einzelnen und der Einzelne dient der Gruppe oder erfüllt die Ziele, die das Kollektiv setzt. Der Einzelne ist dadurch in ein «Wir» aufgenommen und das «Wir» bestimmt, was richtig oder wichtig für den Einzelnen ist: Das «Wir» bestimmt die Identität des Einzelnen.
In einer Gesellschaft dagegen ist der menschliche Zusammenschluss für den Einzelnen da; das Kollektiv wird geschaffen, damit Einzelne ihre Ziele verwirklichen können. Eine Gesellschaft ist ein Rahmen und schafft Voraussetzungen, damit die Individuen ihre Autonomie wahrnehmen können.
Tönnies beschreibt die historische Entwicklung vom Altertum bis zur damaligen europäischen Gegenwart als Entwicklung von Gemeinschaft hin zu Gesellschaft. Aus dieser Perspektive kann die Entstehung des Problems der Solidarität und seine beiden oben unterschiedenen Bedeutungen deutlicher werden. Solidarität kann nach diesem Verständnis erst in Gesellschaften zur Frage werden: denn erst wenn das Verbindende, ein vormals als natürlich gegeben erlebtes «Wir» von Stand, Religion oder Abstammung nicht mehr massgeblich ist, stellt sich die Frage nach dem, was Individuen füreinander einstehen lässt. Solidarität bzw. «Brüderlichkeit» im Umfeld der Französischen Revolution ersetzt die durch Individualisierung verlorenen Banden der Gemeinschaft. Umgekehrt erscheint Solidarität innerhalb von lebendigen, intakten Gemeinschaften gar nicht als wirkliches Problem, denn der innere Zusammenhang benötigt keine Solidarität, sondern dieser sollte selbstverständliches Füreinander-Einstehen sein, das sich aus dem vorhandenen «Wir» ableitet. Hier bedeutet Solidarität, an dieses «Wir» zu erinnern und moralisch zu appellieren, wenn es dabei ist, zu erodieren. – Und wenn dann in einer pluralen Gesellschaft das Prinzip der Gemeinschaft weiterhin politisch massgeblich sein soll, dann muss nach essenziellen Merkmalen gesucht werden, die diese Gemeinschaft nach Innen sichert und nach Aussen abgrenzt, wie dies etwa der Nationalismus des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich und politisch wirksam tat und was in Faschismus, Rassismus und Antisemitismus immer wieder auf entsetzliche Weise sichtbar wird.
Man kann somit sagen: erst in pluralen Gesellschaften wird Solidarität ein Problem. Wenn Andere nicht als Beispiele oder Vertretung (als Frau, als Ausländer:in, als Muslim:in) eines Kollektivs wahrgenommen werden, sondern wenn Menschen einzigartige Andere sind – wobei gilt, dass jede:r anders als die und der Andere ist und jede:r für sich sein können soll, was er oder sie sein möchte – erst dann stellt sich die Frage: Was verbindet uns, wenn wir nichts gemeinsam haben? Was bringt uns dazu, füreinander einzustehen, wenn wir das Zusammenleben nicht auf gemeinsame «essentielle» Eigenschaften gründen können?
Solidarität als Realisieren eines Fehlenden
An die Stelle des «Wir» tritt in demokratischen, sich pluralisierenden Gesellschaften der Bezug auf geteilte Werte und Gesetze. In Demokratien ist dies der Konsens, dass es einen Anspruch auf grundlegende Menschenrechte, auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf Gerechtigkeit und Freiheit gibt.
Doch obwohl Individuen nominell einen Anspruch auf diese Rechte haben, können viele Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeiten diese gar nicht realisieren. Während es die Aufgabe der Politik ist, Gesetze für das Zusammenleben auszuhandeln, die gerecht sind, Gleichheit und Freiheit realisieren, ist Solidarität nun hier gefragt: wo geltende gesetzliche oder moralische Ansprüche zwar nominell bestehen, aber in der gelebten Wirklichkeit nicht greifen – wie beispielsweise bei der Gleichstellung der Geschlechter vor dem Gesetz oder der Durchsetzung von grundlegenden Menschenrechten. Mit denen und unter denen, die von diesen Ansprüchen ausgeschlossen sind, kann sich dann Solidarität bilden. Solidaritätsengagement entsteht somit da, wo zwar ein moralischer oder gesetzlicher Anspruch auf einen etablierten Wert für alle in einer Gesellschaft gilt, dieser aber in der Lebenswirklichkeit von Menschen keine Wirklichkeit darstellt (Mathwig 2023, vs. Wildt 2019).
In diesem Sinne gehört Solidarität auch nicht zur Politik, die für die Schaffung von Gesetzen zuständig ist, sondern der Ort der Solidarität ist gerade «das Politische der Zivilgesellschaft» (Mathwig 2023: 67). Solidarität als Engagement zeigt sich und verwirklicht sich in der Zivilgesellschaft als eigenständige Form der Macht, wo sich Advocacy-Groups bilden, wo Einfluss auf Meinungsbildung und Politik gesucht wird, um denjenigen den Zugang zu grundlegenden Ansprüchen zu eröffnen, denen er fehlt.
Solidarität weist somit weniger auf vorhandene Gemeinsamkeiten, als darauf, dass anderen etwas fehlt. Solidarität kann damit für einen demokratischen Horizont als das Engagement dafür gefasst werden, dass Anderen die Realisierung von Menschenrechten, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit ebenso zukommen sollen wie mir oder der Gesellschaft, der ich angehöre. Solidarität heisst dann nicht, das Band einer Gemeinsamkeit zu schliessen, sondern äussert sich dadurch, dass Andere anders sein und leben können, dass gerade ihre Weise zu sein oder ihre Weise sein zu wollen, aktiv bejaht, ermöglicht und gewollt wird.
So gründet sich Solidarität auf drei Faktoren:
(1) das Vorhandensein eines geteilten moralischen oder eines gesetzlichen Anspruchs auf realisierte grundlegende Wertprinzipien,
(2) das Erkennen, dass und weshalb Menschen die Teilhabe daran verwehrt ist und
(3) das zivilgesellschaftliche Engagement dafür, dass dies sich ändert.
4. Solidarität als Bezugskonzept für den Fachbereich «Gemeinschaft»
Abgrenzungen
Um einen so umrissenen Begriff der Solidarität als Bezugskonzept für die Fachdidaktik von «Gemeinschaft» zu erschliessen, sind zunächst einige Abgrenzungen nötig.
Erstens gilt es, das Konzept von disparaten historischen Aufladungen abzugrenzen, ihn vom «Geruch von Achselschweiss und Weihrauch» (Börner/Dafinger 2020) zu befreien, also von seinem Gebrauch im Kontext des sozialistischen, politischen Aktivismus und einer christlichen Sozialmoral, die im 19. Jahrhundert den Wertewandel der Gesellschaft begleiteten. Eine Bildung der Solidarität kann in der staatlichen Schule nicht bedeuten, eine «Gemeinschafts-Solidarität» zu aktivieren, die eine Schulgemeinschaft, eine Schulklasse oder auch nur eine Gruppe in der Schule, nach innen durch den Bezug auf moralische Werte zu einem emphatischen «Wir» verbindet.
Zweitens gilt es, das Konzept gegen eine normativ verstandene Werteerziehung abzugrenzen, wo unter Solidarität bestimmte Haltungen oder Handlungen verstanden werden, die als Lernziel eingefordert werden. In dem hier vorgeschlagenen Verständnis ist Solidarität, zusammen mit Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, ein Wertbegriff zweiter Ordnung: Begriffe, mit denen diskursiv ausgehandelt wird, wie ein Zusammenleben bei differenten Werten, Identitäten und Existenzweisen möglich ist. Solidarität als Bezugskonzept bedeutet somit nicht, im Unterricht einheitliche Moral zu vermitteln, sondern bedeutet Differenzwahrnehmung und Differenzwahrung nach Innen und Aussen.
Drittens sollten Schüler:innen nicht für eine bestimmte Solidaritätsäusserung vereinnahmt werden, etwa durch den Besuch einer Demonstration oder die Unterzeichnung einer Solidaritätsbekundung. Hier besteht eine vergleichbare Situation wie in den Bereichen Ethik und Religionen: auch dort werden keine bestimmten moralischen Positionen gelehrt oder Räume für religiöse Praktiken geschaffen. Wie dort ein Raum für die offene Klärung und Diskussion moralischer Positionen gestaltet, Gelegenheiten für einen Lernen über Religionen und religiöse Kulturen geschaffen werden, ohne Schüler:innen für oder gegen ein religiöses Bekenntnis zu vereinnahmen, so sollte hier auch keine bestimmte Solidaritätspraxis für eine Schulklasse oder Schulgemeinschaft verbindlich gemacht werden. – Daher gilt es für den schulischen Zusammenhang das zivilgesellschaftliche Engagement als schulische Aktivität auszuklammern. Ob Engagement aus Solidarität stattfindet, und wenn ja, für wen oder was es sich engagiert, kann kein Gegenstand und Ziel des Unterrichts in «Gemeinschaft» sein, sondern Privatsache. Damit wird für die Schule der am Ende des letzten Abschnitts angeführten Begriffsbestimmung der dritte Faktor ausgeklammert: das zivilgesellschaftliche Engagement.
Viertens: Der vorige Punkt muss nicht heissen, dass Solidaritätspraktiken nicht Gegenstand des Unterrichts sein könnten: exemplarische Solidaritätspraktiken aus der Geschichte, der Gegenwart oder aus fiktiven Erzählungen können zum Lerngegenstand gemacht werden, um die Bedeutung von Solidarität sachkundlich – und damit immer auch kontrovers und von den Anwesenden loslösbar – zu thematisieren. Im Sinne eines Überwältigungsverbots (Beutelsbacher Konsens) gilt es Abstand davon zu nehmen, durch die Drastik der Beispiele oder der Inhalte im Unterricht eine Veränderung der Einstellung oder Handlungen unmittelbar erwirken zu wollen.
Fünftens: Formen der Solidarität, die sich über Kategorien von Diversität (wie Gender, sexuelle Orientierungen, Herkunft, Formen von Beeinträchtigungen, sozioökonomischer Hintergrund) bilden, sind besonders anfällig für «Othering» und wenden sich schnell von einem Lerngegenstand nach innen in eine Schulklasse. Es ist eine grosse didaktische Herausforderung, Kulturen, Zugehörigkeiten, Identitäten, die jeweilige einzigartige Andersheit kennenlernen zu können, ohne sie durch Aneignung unkenntlich zu machen oder zu essentialisieren. Die Aneignung von Begriffen, die es ermöglichen Facetten von Diversität und Pluralität zu verstehen und zu artikulieren, schlagen leicht in eine problematische Selbstanwendung im Klassenzimmer um und können zu Identitätszuschreibungen, «Fingerpointing» oder gar zu Diskriminierung oder Selbstdiskriminierung führen.
Sechstens: Wenn Solidarität im Sinne von Gemeinschafts-Solidarität sich somit nicht direkt auf das Innere der Klassengemeinschaft richten soll, kein methodisch und didaktisch angestrebtes Unterrichtsziel ist, ist es natürlich auch nicht falsch, wenn sie sich ergibt und von Lehrpersonen taktvoll begleitet wird. Man kann dies auch so formulieren: Schüler:innen haben, gerade im ERG-Unterricht, – wie es der Philosoph und Vordenker des Postkolonialismus Eduard Glissant nennt – ein Recht auf Opazität (Glissant 2021: 58). Wie Erwachsene sind Schüler:innen sich selbst und anderen gegenüber nicht transparent in Bezug auf die Facetten ihrer Identitäten. Es kann keine Unterrichtsaufgabe sein, mittels Selbstdiagnosen oder wechselseitigen Identifizierungen von Zugehörigkeiten in der Klasse eine Klärung, Selbsterkenntnis oder Selbstaufklärung der Schüler:innen erreichen zu wollen. Es geht gerade nicht um Vermitteln oder Offenlegung von Identitäten der Anwesenden. Vielmehr gilt es sicherzustellen, dass ihre Zugehörigkeiten zu Gruppen und Gemeinschaften, ihre Zukunftswünsche, Sehnsüchte, ihre sexuelle Orientierung, Herkünfte gegenüber den anderen wie gegenüber sich selbst opak bleiben können. – Dies ist jedoch keine rein negative Abgrenzung, sondern gerade das Zugestehen von Opazität vermag einen spezifischen Raum des Austauschs zu eröffnen, der sich gerade auf Grundlage dieser Voraussetzung ergeben kann: «Der undurchschaubar bleibende Anteil zwischen dem Anderen und mir, den wir einander gewähren […] vergrössert seine Freiheit, bestätigt meine Entscheidungsfreiheit, und wir befinden uns in einer Beziehung des reinen Teilens, in dem Austausch, Kennenlernen und Respekt bedingungslos, selbstverständlich sind. Du hast das Recht unverständlich zu sein, zuallererst für dich selbst.» (Glissant 2021: 58)
Positive Bestimmungen
Was bleibt angesichts dieser Abgrenzungen? Ausgehend von den obigen drei Facetten der Begriffsbestimmung gründet sich Solidarität auf den Anspruch auf realisierte grundlegende Wertprinzipien, eine Erkenntnis in die Gründe für verwehrte Teilhabe daran und das zivilgesellschaftliche Engagement dafür, dass die Teilhabe entstehen kann. Durch die obigen Abgrenzungen wurde einerseits deutlich, dass die Solidarität sich nicht in erster Linie auf die Klasse oder Schulgemeinschaft nach innen richtet, sondern auf ein exemplarisches, sachlich orientiertes Lernen im Hinblick auf Verhältnisse in pluralen Gesellschaften. Solidarität als Bezugskonzept operationalisiert also weniger vorhandene Gemeinsamkeit, sondern ein Zusammenleben in Differenz. Es wurde deutlich gemacht, weshalb dabei der dritte Aspekt der Begriffsbestimmung, das zivilgesellschaftliche Engagement, für die Didaktik auszuklammern ist.
Für den Wertehorizont des Lehrplans 21 lässt sich somit positiv formulieren: es gilt in einem ersten Schritt zu verstehen, was es bedeutet, dass alle Menschen einen Anspruch auf Realisierung der Menschenrechte, auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit haben, und dass dies insbesondere auch bedeutet, dass sie anders sein und leben können. In einem zweiten Schritt heisst das, wahrnehmen und verstehen zu lernen, warum und wodurch genau dies vielen Menschen verwehrt ist, obwohl der Anspruch gilt.
Hieraus können vier zentrale Tätigkeiten konkretisiert werden, die Solidarität als Bezugskonzept positiv im Hinblick auf die Didaktik erschliessen:
Wahrnehmen-Lernen: Eine zentrale Tätigkeit der Didaktik von «Gemeinschaft» wäre ein Wahrnehmen-Lernen von Lebenssituationen, die nach Solidarität fragen. Dies beinhaltet zunächst die Klärung und Reflexion von geltenden moralischen oder gesetzlichen Ansprüchen auf realisierte Wertprinzipien. Hier bieten sich beispielsweise die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Präambel der Bundesverfassung, Martha Nussbaums Konzept der menschlichen Grundfähigkeiten (Nussbaum 2020) oder die Behindertenrechtskonvention an, die solche Ansprüche auf verschiedene Weise deutlich machen. In einem zweiten Schritt lässt sich dann thematisieren, wo diese Ansprüche nicht eingelöst sind. Der Lehrplan «Gemeinschaft» nennt hier verschiedene Felder: Geschlechter (5.2), sexuelle Selbstbestimmung (5.3), besondere Lebenslagen wie Krankheit, Armut oder Migration sowie die Situation von Minderheiten (5.5). Wahrnehmen-Lernen als Tätigkeit eröffnet hier ein Spannungsfeld: es gilt zwischen den universell geltenden Wert-Ansprüchen auf der einen Seite und konkreten Situationen von Menschen auf der anderen Seite zu relationieren. Es gilt allgemeine Prinzipien wie Freiheit oder Gerechtigkeit so zu fassen, dass sie Platz lassen oder aber in Spannung geraten mit lokalen und pluralen Spezifikationen (Nussbaum 2020: 212 f), den konkreten Lebenssituationen von Menschen an verschiedenen Orten, insbesondere in anderen Kulturen und von Menschen in anderen Situationen oder mit anderen Vorlieben.
Zuhören-Lernen: Bei diesem Wahrnehmen-Lernen gilt es somit zu beachten, dass die Begriffe nicht in erster Linie erworben werden, um sie auf andere applizieren zu können. Im Vordergrund steht vielmehr zu ermöglichen, dass durch Begriffe und exemplarische Beispiele die Stimme der anderen Person Raum bekommt, dass der Ort, von dem aus sie spricht, hörbar wird. Selbstbestimmung soll somit von der anderen Person aus entfaltet werden, damit sie sich selbst in ihren Anliegen, Werten, Problemen und Lebensentwürfen ausdrücken kann. Aus diesem Zuhören kann sich ein Verständnis entwickeln, was es für andere konkret bedeutet, von Ansprüchen ausgeschlossen zu sein. Solidarität als Tätigkeit der Differenzwahrnehmung und Differenzwahrung nach Innen und Aussen ist auf diese Weise insbesondere eine Praxis des Zuhörens.
Verstehen-Lernen: Durch ein solches Zuhören kann dann verstehbar werden, durch welche psychologischen, sozialen, historischen oder soziologischen Mechanismen Menschen die Teilhabe verwehrt ist. Der Lehrplan nennt hier beispielsweise die Psychologie von Vorurteilen, die Wirksamkeit von Geschlechterstereotypen und verweist auf Ursachen wie Migration oder körperliche Beeinträchtigungen, die gesellschaftlich ausgrenzende Folgen haben. Um dies fachdidaktisch zu entwickeln sind Fachbegriffe aus Disziplinen wie Genderstudies, Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Psychologie nötig, die Differenz wahrnehmbar machen, ohne dabei Kategorien zu bilden, die essentialisierende, kollektivierende oder gar diskriminierenden Identitätszuschreibungen befördern.
Sprechen-Lernen: Dies führt zu der Frage, wie eine Sprache der Solidarität gelernt werden könnte. Auch hier gibt der Lehrplan einige Ansätze: zuerst könnte dies heissen, ein respektvolles Vokabular für das Leben in pluralen Gesellschaften aufzubauen: dies kann zum Beispiel damit beginnen, die Vielfalt des Begehrens und Liebens sachgerecht und respektvoll benennen zu können. Eine Sprache der Solidarität zu sprechen, bedeutet auch, fähig zu sein, miteinander zu kommunizieren: zuzuhören, sich einzubringen und sich auszudrücken, anderen Meinungen respektvoll zu begegnen und Konflikte aktiv anzugehen (Kompetenzen 5.4 und 5.6).
Der Beitrag von Alexandra Binnenkade (erscheint am 24. März 2025 auf erg.ch) greift diese Tätigkeiten auf und entwickelt daran konkrete Unterrichtsbeispiele.
Effekte: Mit-ein-ander-sein – jenseits von Gesellschaft und Gemeinschaft
Diese skizzierten didaktischen Solidaritäts-Praktiken weisen letztlich über das Dual von Gemeinschaft und Gesellschaft im Sinne Tönnies hinaus, das für die Entstehung des Solidaritätsbegriffs prägend war. Die Tätigkeiten schaffen eine Form von Sozialität, die erst noch genauer zu beschreiben ist, denn sie ist einerseits eine Gemeinschaft – jedoch eine «Gemeinschaft derer, die nichts gemeinsam haben» (Biesta 2004). Eine solche Gemeinschaft ist keineswegs einsam und trist. Sie bildet sich in einem Feld, in dem aber nicht die Zugehörigkeiten der Anderen zählen, sondern zählt, dass jede:r Raum hat, ihre und seine eigene Stimme erheben zu können: «This means, however, that the community of those who have nothing in common, the community of strangers, the community without community, is of an ethical nature. The community of those who have nothing in common is constituted by our response to the stranger, the one who asks, seeks – demands, as Levinas would say – my response, who seeks to hear my unique voice.» (Biesta 2004: 318). Das Sprechen im Raum dieser Gemeinschaft, wäre ein Sprechen mit einer Stimme, auf die immer auch geantwortet werden kann, sie ist die Stimme der Response-Ability, der Fähigkeit der Antwort und Ver-Antwortung gegenüber dem je einzigartigen, opaken Anderen.
Auf der anderen Seite ist diese Weise des Zusammenseins auch eine Gesellschaft. Jedoch verbinden sich in dieser die Einzelnen sich nicht nur in Bezug auf geteilte Zwecke, sondern auch, weil sie sich zueinander als Menschen ins Verhältnis setzen. Die Gemeinsamkeit ihrer Ziele gründet dann nicht im Zweckverbund. Hier braucht es statt Einheit der Ziele den Abstand, hier gelangt man, wie es der französische Philosoph François Jullien vorschlägt, nicht zum Gemeinsamen durch Überwindung der Unterschiede, sondern durch ihre Wirksamkeit, dadurch, dass der Abstand zwischen dem je Anderen zur Wirksamkeit gebracht wird. Gerade der Abstand wird zur fruchtbaren Quelle von überraschendem Neuen, wenn er auf Augenhöhe geschieht (Jullien 2014: 72 f, Jullien 2017).
Solche Formen solidarischer Bezugnahme sind offen für Überraschungen, die sich aus dem Sprechen mit der Stimme der Verantwortung für den Anderen und der Verbindung aus dem Abstand ergeben. Mit Eduard Glissant könnten diese Überraschungen Kreolisierungen genannt werden. Wie die Kreolsprachen keine Unterordnungen und Vereinnahmungen von Lokalsprachen durch Kolonialsprachen sind, sondern einzigartige Neuschöpfungen aus Begegnung und Austausch, wären diese Überraschungen auch Unvorhersehbarkeiten, die sich im ERG-Unterricht ergeben könnten. «Die Kreolisierung ist keine beliebige (uniforme) Vermischung, wo jedes Einzelne verloren geht, sondern eine Reihe überraschender Lösungen, deren fluide Maxime so lauten könnte: ‘Ich verändere mich im Austausch mit dem Anderen, ohne mich zu verlieren oder zu verfälschen’.» (Glissant 2021: 54).
Solidarität zeigt sich so als anspruchsvolles, didaktisch fruchtbares Konzept, das sich in lernbare, grundlegende Tätigkeiten operationalisieren lässt: Wahrnehmen-Lernen, Zuhören-Lernen, Verstehen-Lernen und Sprechen-Lernen in einem Feld, das der Philosoph Jean-Luc Nancy «singulär plural sein» nennt. Es sind Lernprozesse, bei denen es um ein «Mit-ein-ander-sein» geht (Nancy 2016): Weisen des Mit-sein mit dem und den je einzigartigen Anderen.
Ausblick
Mit den hier teilweise apodiktisch vorgenommenen Abgrenzungen und Setzungen sollte skizziert werden, wie Solidarität als Bezugskonzept für die Fachdidaktik des Bereichs «Gemeinschaft» erschlossen werden kann. Mit Bezug auf die Begriffsgeschichte wurden am Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft zunächst drei zentrale Elemente des Begriffs Solidarität herausgearbeitet. Diese wurden dann im Hinblick auf die Didaktik eingegrenzt und als didaktische Tätigkeiten positiv skizziert. Diese Tätigkeiten erlauben einerseits jeweils einen konkreten Bezug zu aktuellen, kontroversen Diskursen in den Disziplinen (Gender Studies, Soziologie, Politische Philosophie usw.) und geben zugleich konkrete Gesichtspunkte für die Auswahl und Zielsetzung von Themen im Hinblick auf die intendieren Kompetenzen des Lehrplans. In ihrer Praxis verweisen diese auf eine solidarische Sozialität, die jenseits von Gesellschaft und Gemeinschaft zu verorten ist und deren Bildung angesichts globaler Herausforderungen vermutlich akuter gefragt ist denn je.
Damit wurde in Umrissen aufgezeigt, wie sich die oben geforderte Wissensdomäne für den Bereich «Gemeinschaft» durch das Bezugskonzept «Solidarität» gewinnen lässt und was es heissen könnte, eine Diskussion von Bezugskonzepten an die Stelle einer Bezugsdisziplin zu setzen. Gerade auch durch die Zusammenschau mit den anderen Beiträgen dieser Tagung zeigt sich das produktive Potenzial dieser Diskussion im Hinblick auf die Konturierung einer Wissensdomäne.
Damit wird aber auch deutlich, was es für eine professionstheoretische Fundierung des Unterrichts im Bereich «Gemeinschaft» noch alles bedarf: Der Weg von der weiteren Konturierung der Wissensdomäne in der Fachdiskussion über die empirische Untersuchung erfolgreichen professionellen Handelns auf dieser Grundlage bis hin zur empirisch gesättigten Identifikation von Professionswissen als Grundlage der Aus- und Weiterbildung ist noch weit.
Anmerkungen
i Diese Frage bildete den Ausgangspunkt für die Forschungstagung «ERG on the Spot. Bildung der Solidarität. Warum – Wie – Wozu? am 9. Februar 2024 an der PH FHNW in Muttenz
ii. Im Vorfeld der Tagung wurde im Hinblick auf den Kompetenzbereich ERG 5.1 noch das Konzept der «Biografizität» vorgeschlagen. Der Begriff stammt aus der Erwachsenenbildung, wo biografisches Lernen und Lernen im Hinblick auf «Sinn» in der Biografie schon immer eine zentrale Kategorie der Didaktik gewesen ist. Biografizität bedeutet, die sozialen Kontexte, Herkünfte, Zugehörigkeiten, in denen das Leben verbracht wird, nicht nur als Determinanten auffassen zu können, sondern sie als gestaltbar erfahren zu können. Biografizität beschreibt die Möglichkeit, dass persönliche Ressourcen und Limitationen, biographische Erfahrungen, Herkünfte und Zugehörigkeiten nicht im neoliberalen Sinn im Hinblick auf Anforderungen der Gesellschaft optimiert oder nivelliert werden müssen, sondern dass gelernt werden kann, diese in ihrem einzigartigen Beitrag zum Ganzen und in ihrer Wandelbarkeit zu sehen. Über Biografizität zu verfügen, bedeutet, die sozialen Kontexte, in denen das eigene Leben verbracht wird, als gestaltbar zu erfahren und mit Blick auf die eigenen Potenziale und Zugehörigkeiten wenn auch nicht Deutungsmacht, so doch eine Deutungs-plastizität über die eigene Biographie gewinnen zu können (vgl. Alheit 2010; Dausien 2011). Dieses zweite Konzept hier auszuarbeiten sprengt jedoch den Rahmen.
Literatur
Schmidt, Robin (2025). Solidarität – ein Bezugskonzept der Didaktik des ERG-Bereichs «Gemeinschaft», in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/robin-schmidt-solidaritaet-ein-bezugskonzept-der-didaktik-der-erg-bereichs-gemeinschaft