Erzähl nochmal!
Versuch einer kulturtheoretischen Begründung des Erzählens von traditionellen Geschichten, Mythen und Märchen im ERG-Unterricht
Nachdem zwischen den 70er und 90er Jahren zahlreiche allgemeine Geschichtensammlungen aufgelegt wurden, sind heute kaum noch entsprechende Titel greifbar oder sie genügen nicht mehr den Ansprüchen von modernen, interreligiösen und interkulturellen Curricula. Dieses Buch schliesst diese Lücke. Die 111 Erzählungen handeln beispielhaft von existentiellen Fragen, erörtern Probleme des Zusammenlebens in unterschiedlichen Gesellschaften, erkunden Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit oder Himmel und Erde.
Die Auswahl und Zusammenstellung erfolgte im Austausch mit einer interdisziplinär, interkulturell und interreligiös zusammengesetzten Begleitgruppe. Um dem interreligiösen Schwerpunkt Rechnung zu tragen, liegt ein besonderes Gewicht auf den Geschichten aus den Heiligen Schriften und dem kulturellen Umfeld der grossen, epochenbildenden Religionen. Sie verfügen in der Regel über drei allgemeine Merkmale:
- Sie weisen in den verhandelten Themen eine gewisse Zeitlosigkeit auf.
- Sie beinhalten eine universelle bzw. keine eindeutig zu bestimmende Botschaft, sondern stehen immer neuen Auslegungen und Interpretationen offen.
- Sie basieren auf mündlichen Überlieferungstraditionen bzw. beinhalten oder bearbeiten entsprechendes Erzählgut.
Das Geschichtenbuch eignet sich zwar auch als Vorlesebuch in Schule und Familie, es soll aber vor allem das freie Erzählen fördern. Die Studierenden an der PHSG werden daher zum freien Erzählen animiert und angeleitet. Denn weil sowohl das freie Erzählen wie auch das konzentrierte Zuhören Kulturtechniken sind, die einer frühen und kontinuierlichen Übung in Gruppen bedürfen, war und ist die Schule der zentrale Ort dafür.
Diese zu keiner Zeit einfache Aufgabe wird in der Gegenwart erschwert durch zwei Faktoren: Viele jüngere Lehrpersonen kennen erstens nur noch wenige tradierte Geschichten aus ihrer Kindheit, da sie vor allem mit modernen Bilderbüchern aufgewachsen sind. Die Medialisierung und Digitalisierung der kindlichen Lebenswelt führt zweitens dazu, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrpersonen um einiges seltener mit dem freien Erzählen von Geschichten durch Eltern oder Lehrpersonen sozialisiert wurden und werden. Dies sind wichtige Gründe für den Umstand, dass vielen Lehrpersonen das Erzählen und vielen Kindern das Zuhören von Geschichten schwerfällt – besonders dann, wenn sie ohne oder nur mit wenig Bildmaterial erzählt werden. Die IQB Studie 2023 weist denn auch für Deutschland 17.6 % aller Schüler:innen der Abschlussklassen aus, die im «Kompetenzbereich Zuhören» den Mindeststandard nicht erreichen, weitere 16.8 % haben mangelhafte Kompetenzen (Vgl. https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2022/Bericht/) Die Zahlen für die Schweiz dürften nur unwesentlich besser sein. Die Evidenz für eine erhöhte Aufmerksamkeit auf das Erzählen als wichtige pädagogische Praxis des Zuhörens, der geteilten Intentionalität und der ungeteilten Aufmerksamkeit scheint durch diesen Befund bereits gegeben.
Hinter dem Entscheid der Fachschaft ERG der PHSG, sich mit dem Buch «Erzähl nochmal» auf die didaktische Reise des Erzählens und Zuhörens zu machen, stehen aber viele weitere Gründe, die für das Erzählen als pädagogische Grundpraxis im Allgemeinen sowie für das Erzählen von alten, traditionellen Geschichten im Speziellen sprechen. Diese sind keineswegs neu und es stehen ihnen selbstredend auch kritische Einwände entgegen – aber, so die mit diesem Buch vertretene These, sie erhalten gerade heute eine neue Dringlichkeit.
1. Zur pädagogischen und existenziellen Bedeutung des Erzählens
Die Selbstvergewisserung der menschlichen Gattung erfolgt weitgehend narrativ. Sie entfaltet sich in Mythen, Epen und Geschichten. Keine Geschichtswissenschaft kann auf Formen des Erzählens verzichten. Auch die Selbstvergewisserung jedes einzelnen Menschen ist narrativ (vgl. Didion 2021). Die versprachlichte Erinnerung stabilisiert das Erleben nach hinten und nach vorne. Denn «das wesentliche Merkmal, das den narrativen Denkstil vom wissenschaftlichen unterscheidet, ist das Verhältnis zur Zeit – nicht im Sinne der metrischen bzw. chronologischen, sondern im Sinne der modalen, nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft differenzierten Zeit.» (Herzog 2006). Die Erzählung im Sinne einer wiederholt vor anderen zur Kenntnis gebrachten Begebenheit ist somit sowohl stets konkret («Es geschah dort und dann.») als auch allgemein («Es kann wieder geschehen irgendwann und irgendwo.»). Der reflexive Blick auf sich selbst bzw. die Schau, den sie ermöglicht, aber nicht erzwingt, ist daher nie losgelöst von allen Bindungen, Begrenzungen und Komplikationen, mit denen es die menschliche Gattung zu tun hat, seit es sie gibt. Womit die Erzählung mit Peter von Matt auch die ältere Schwester der Theorie genannt werden kann.
Ausgehend von dieser narrativen Grundverfassung des Denkens sowohl in gattungs- als auch in individualgeschichtlicher Perspektive lassen sich weitere wesentliche Punkte anführen:
a. Förderung der Vorstellungskraft
Das Erzählen, Hören und Verinnerlichen von Geschichten bildet eine wichtige Grundlage für die Bildung der Vorstellungs- und Artikulationskraft von Kindern. Das blosse Hören ohne äussere Bilder zwingt zu inneren Bildern. Das wiederholte Hören von Geschichten lässt allmählich innere Räume der Vorstellung entstehen, die durch jede neue Geschichte weiter verdichtet und ausgestaltet werden. Wie die psychoanalytisch orientierte Erzähltheorie (vgl. zum Beispiel Bruno Bettelheim: «Kinder brauchen Märchen» 1993) dargelegt hat, sind solche Fantasieorte eine wichtige Bedingung für eine realistische Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie bilden einen Raum, um das Unwirkliche, das Drängende, Ersehnte, Befürchtete, einzuordnen und zu unterscheiden vom Erleben der Alltagsrealität. Und es gilt: Je realer und reicher die Vorstellungskraft, desto kleiner und weniger bedrohlich der Raum, den das Unvorstellbare einnimmt. Denn wer sich eine Sache, eine Befindlichkeit, eine Erfahrung usw. nicht vorstellen kann, muss sie entweder zur Vergewisserung ausagieren oder aber ängstlich abwehren. Denn die Vorstellungskraft, also die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, ohne dass man es sieht, ohne dass man es erfährt und bevor man es tut, fusst zwar wie von der Entwicklungspsychologie im Anschluss an Piaget gezeigt, auf einem biologischen Reifeprozess, muss aber zugleich durch Übung und vielfältige Variation gefestigt werden.
John Dewey schreibt in Kunst als Erfahrung (1987): «Einbildungskraft und Imagination sind die wichtigsten Instrumente des Guten». Insofern wäre das Gute immer auch ein Produkt der Einbildungskraft. Es ist nicht einfach empirisch festzustellen. Es ist abhängig von der Kraft, es uns vorstellen zu können. Aber weil es nur Vorstellungen des Guten und nicht das Gute selbst gibt, folgt daraus, dass bei der Verwirklichung des Guten Grenzen gesetzt sind. Ethische Erziehung zielt also einerseits darauf ab, die Vorstellungen des Guten zu erweitern und zu differenzieren, und andererseits, die Grenzen des Machbaren zu erörtern. Das Erzählen und Bearbeiten von Geschichten vom Guten und Schlechten und die Auseinandersetzung mit Denk-, Überzeugungs- und Glaubenspraxen verschiedener Menschen aus unterschiedlichen Kontexten stärkt beides (vgl. Reichenbach 2018).
b. Artikulationskompetenz von Gefühlen
Eng mit der Schulung der Vorstellungskraft verbunden ist die Artikulationskompetenz von Gefühlen. Nach Josef Früchtl sind Gefühle narrativ strukturiert: «Wir können ein Gefühl nicht (vollständig) verstehen, ohne seine Geschichte zu erzählen, und eben dies gibt narrativen Kunstwerken eine zentrale Bedeutung im Prozess menschlicher Selbstverständigung.» (Früchtl, 2021). Die Fähigkeit zur Artikulation von Gefühlen wird wesentlich gefördert im Rahmen eines kulturellen Aneignungsprozesses von vorgefundenen Erzählmustern. Denn die Schulung der Gefühle bedarf nicht nur der Artikulation, sondern auch der Mässigung, der Kompensation und der Transformation, die modellhaft in Geschichten verhandelt werden. Und sie fällt umso produktiver und differenzierter aus, je spannungsreicher, vielfältiger und fremder die Genres sind, mit denen Kinder in Kontakt kommen und konfrontiert werden.
c. Gedächtnis durch Narration
Es ist überdies auch aus einer allgemeinen lerntheoretischen Perspektive davon auszugehen, dass Lehren und Lernen, Bilden und Bildung stark mit Erzählen-können und mit Erzählungen-deuten-können in Zusammenhang stehen. Nicht nur weil beim Erzählen Informationen organisiert sowie Sinn und Bedeutung konstruiert werden, sondern auch, weil Erzählungen über ein besonderes gedächtnisförderndes Potenzial verfügen: In Erzählungen Mitgeteiltes lässt sich oft besser behalten und erinnern als blosse, kontextarme Information.
2. Zu den Vorzügen des traditionellen Erzählguts
Weshalb nun aber eine neue Sammlung mit ausschliesslich alten bzw. aus alten Überlieferungen sich speisenden Geschichten für den Unterricht? Es sei mir verziehen, dass ich zur Beantwortung dieser Frage etwas tiefer grabe und in der Tonlage etwas höher greife als man es vielleicht in einem Werbetext fürs Geschichtenerzählen für nötig erachtet. Aber es ist nun mal ein Spezifikum des Fachs ERG, dass es an allen Ecken und Enden an existentielle und menschheitsgeschichtliche Fragen stösst.
a. Zivilisatorische Verständigungsprozesse beruhen auf gemeinsam geteilter Bedeutsamkeit von Kulturgütern
Eine Geschichte kann für heutige Erzählende und Zuhörende deshalb besonders bedeutsam sein, wenn sie es bereits für die Erzählenden und Zuhörenden in der Vergangenheit war – wenn also die ausgewählte Geschichte eine Geschichte hat. Und weil nur jeweils das wichtig ist, was irgendeinmal wichtig wurde, ergibt sich die Bedeutung von Geschichten durch ihre Erzähl- und Interpretationsgeschichte. Die Menschen, die sich zu unterschiedlichen Zeiten mit dem Lesen, Hören, Weitererzählen, Interpretieren, Kritisieren einer Geschichte beschäftigen, bilden zusammen eine Art Rezeptionsgemeinschaft, die an der Bedeutsamkeit einer Geschichte arbeitet. Das Erleben der eigenen Teilnahme an einer Rezeptionsgemeinschaft als bedeutsam ist eng verbunden mit der Bedeutsamkeit, die dem Akt der Wiederholung für Bildungsprozesse beigemessen werden kann. Denn die Grundlage der Welterschliessung besteht weniger in der staunenden Wahrnehmung des Neuen, sondern vielmehr in einer Praxis des Wiedererkennens – und in der Folge des Aneignens und Verwerfens – dessen, was in der Vergangenheit wichtig war. Das kindliche Erforschen der Welt bedeutet in diesem Sinn nicht nur das Suchen nach dem noch nie Gesehenen, sondern auch nach dem längst Bekannten, das ihm noch nicht gezeigt wurde, das ihm noch nicht erschienen ist. Der englische Begriff für Forschen research heisst ja nichts anderes als Wiedersuchen, Wiederentdecken, Wiederholen. Die Grundform der Praxis des Wiedererkennens ist die Wiederholung. Erfinden heisst Wiederfinden. Alles Neue enthält Altes, alles Alte war einmal neu. Das Neue ist demnach die Transformation des Alten in jenes Neue, das es selbst einmal war. Die Wiederholung ist die Ermöglichung dieser Transformation. Nur das Problem, das wir weiterhin besprechen, spricht nicht sein Urteil über uns. Nur die Geschichte, die wir selbst weiterspinnen, wird nicht zum Netz der Verstrickung. Daher ist jede Wiedererzählung einer alten, wichtigen Geschichte auch eine Art Versuch, alte Fragen und ihre Antworten präsent zu halten und die immer drohende schicksalshafte Wiederholung umzuwandeln in eine selbstbestimmte Variation.
b. Das Übermitteln und Vermitteln von Kulturgütern impliziert die Rolle der Zeugenschaft
Wer erzählt, wird zum Zeugen für die Erfahrung der anderen. Ausgehend von den berühmten Schlusssätzen der Überbringer der «Hiobsbotschaften» im ersten Kapitel des Buches Hiob («Ich ganz allein bin entronnen, um es dir zu berichten») kann die Erzählerin oder der Erzähler überlieferter Begebenheiten als Zeug:in verstanden werden, deren Überleben mit dem Auftrag der Bekundung und Übermittlung des Geschehenen verknüpft ist.
Die Perspektive der Zeugenschaft hebt das Erzählen und Vorlesen über den bloss netten Zeitvertreib hinaus. Die erzählende Person wird zur Mittlerin zwischen denen, von denen gekündet werden soll und den Hörenden. Sie macht die Sache von jenen zur Sache für diese. Jedes Erzählen wird insofern zur solidarischen Zeugenschaft, wenn es als Beauftragung in diesem vergegenwärtigenden Sinn interpretiert wird.
c. Die Verantwortung der Sprechenden gegenüber den Zuhörenden
Sprache ist ein sozialer Vorgang, der – zumal im pädagogischen Verhältnis – nicht unproblematisch ist. Der Sprechende zwingt die Zuhörenden in seinen Horizont. Insofern wohnt den meisten Sprechakten ein pädagogischer Aspekt inne. Die problematische Spannung zwischen Sprechenden und Hörenden ist in den Begriffsfamilien Horchen–Gehorchen und Hören–zugehörig–angehörig–hörig unübersehbar. Er impliziert einerseits eine Forderung an die Hörenden, die schnell zur Überforderung wird, und andererseits eine spezifische Schuld der Sprechenden. Diese Schuld ist umso grösser, je mehr ich nur aus mir oder von mir spreche, je kleiner also die soziale Situation ist, die ich mit dem Gesagten eröffne. Fehlen die anderen, die Abwesenden und die Toten; fehlen die Zeiten, die Vergangenen und die Künftigen – was wird dann gehört werden ausser den Begrenzungen und Forderungen meines kleinen Ichs oder des Hier und Jetzt? Denn das blosse Hier und Jetzt, dessen positive Eigenschaft die zum Handeln auffordernde Dringlichkeit ist, kann gleichzeitig auch die Schliessung der Zeiten und Räume bedeuten. Dieses Problem, diese Schuld der pädagogisch Sprechenden, lässt sich jedoch mindern, wenn ihr Sprechen hin und wieder von etwas kündet, das über sie hinausweist, das die soziale Situation weitet, das die Sprechenden und die Hörenden von sich wegführt und auf etwas anders hinhorchen lässt. Das heisst, wenn ihr Sprechen nach hinten blicken lässt – erinnernd – und nach vorne neigt – versprechend; wenn es nach aussen leitet – perspektivisch und transzendierend – und nach innen zieht – reflektierend und versenkend. Sollte daher nicht jedem Kind, bevor es gehorchen und leisten soll, in diesem Sinne verkündet und verheissen sein?
d. Zur konträren Zielsetzung pädagogischen Handelns im Vergleich zu den sozialen Wirkungen des technischen Wandels
Der technische Fortschritt, so der Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy, hat neben den spezifischen Wirkungen der jeweiligen technischen Errungenschaft, drei allgemeine Wirkungen auf die Lebenswelt der Menschen: Er verkürzt die Zeit, erweitert die Räume und schwächt die Zugehörigkeiten zwischen Menschen. Die Aufgabe der Pädagogik dagegen ist konträr dazu: Sie sollte die Zeit erweitern, die Räume kleiner machen und die zwischenmenschlichen Zugehörigkeiten stärken. Mit dem Erzählen von alten, bedeutsamen Geschichten arbeiten wir an allen drei pädagogischen Aufgaben – im doppelten Sinn: Die Geschichten weiten einerseits die Zeiten, machen riesige (reale und phantastische) Räume bekannt und überschaubar und die Kinder werden zu Mitgliedern ferner Gesellschaften und Freundschaften. Andererseits soll die Erzählsituation in einer Schulklasse so gestaltet sein, dass man sich Zeit nimmt; also die Zeit lang macht, den Raum des Zuhörens eingrenzt; also eng macht und die Klasse für den Moment der Geschichte zur Hörgemeinschaft formt.
e. Zur unmoralischen, unpädagogischen und universalistischen Tendenz von alten Geschichten
Zweifellos haben neue, extra für Kinder ersonnene Geschichten viele Vorteile. Sie stammen aus der direkten Lebenswelt und aus der Gegenwart. Die Phantasiegestalten und -räume entsprechen den gewohnten und gegenwärtigen Standards, ebenso die vermittelten und abgewehrten moralischen Werte. Sie erfüllen daher wichtige Aufgaben, die Lebenswelt mit ihren Konflikten zugänglicher und verstehbarer zu machen. Aber da sie aus der Nähe stammen und für die Nähe sind, enden sie auch in der Nähe. Kaum jemand macht sich die Mühe, diese Geschichten ausserhalb familiärer oder schulischer Kontexte zu überliefern, zu kritisieren und zu variieren. Bearbeitungen von erfolgreichen neuen Kinderbüchern sind meist verkaufsgeleitete Erweiterungen. Sie werden entweder für richtig oder, wenn sich die Kontexte und Werte ändern, für falsch befunden. Genauso werden sie als spannend oder langweilig, als niedlich oder hässlich taxiert. Das heisst, neue pädagogische Geschichten werden gewöhnlich moralisch oder geschmacklich eindeutig bewertet. Sie pendeln daher oft zwischen zeitgebundenem Moralismus und l’art pour l’art. Ihnen fehlt, was die Faszination – diese immer zweideutige Anziehungs- und Abstossungskraft – alter Überlieferungen ausmacht: Eine unaufhebbare Mehrdeutigkeit, sowie ein gewisser Universalismus. Beides gründet nur zum Teil in der Geschichte selber, sondern genauso wesentlich in ihrer vielfältigen Rezeptionsgeschichte (jede Überlieferung ist freilich zu Recht nicht vor moralischer Kritik gefeit, geht aber nicht darin auf). So dass man in Anlehnung an Michel de Certeau sagen kann: Die Wahrheit einer Geschichte entschleiert sich nur im Raum der von ihr eröffneten Möglichkeiten (De Certeau 1987, 209). Insofern nehmen Lehrpersonen und ihre Schüler:innen beim Erzählen und Hören dieser Geschichten aktiv Teil an dieser Rezeptionsgeschichte und an der Entschleierung der von ihr eröffneten Möglichkeiten.
f. Sich mit mythischen Narrativen in Bildungskontexten vertraut machen
Um diesem Argument zu folgen, muss man freilich an so etwas wie einen universalen Zug – zugleich schön und schrecklich, fortschrittlich und regressiv, schöpferisch und zerstörend – in der Menschheitsgeschichte glauben, der sich auch in ihren Mythen finden, analysieren und kritisieren lässt. Für den Unterricht heisst dies zum Beispiel, dass man Kategorien wie gut und böse, unendlich und ewig, wahr und falsch nicht nur als Anlass zum Philosophieren und Dekonstruieren nehmen sollte, sondern auch als mythische Kategorien verstehen, die man in ihren existentiellen Dimensionen nicht definieren, sondern nur erzählen kann. Dafür braucht es Geschichten, deren Zweideutigkeit konstitutiv ist, die sich also letztlich nicht moralisieren und nicht pädagogisieren lassen. Denn das Sperrige und das Schwierige ist ein guter Schutz vor Moralismus.
Allerdings liegt in diesen Bemerkungen zur mythischen Dimension dieser Geschichten der Fokus nicht darauf, Mythen einfach wieder zur Weltdeutung einzusetzen. Vielmehr geht es um die Bekanntmachung der Schüler:innen mit mythischen Erzählungen. Denn die digitalisierte Gesellschaft hat in den letzten Jahren gezeigt, dass mythische Weltdeutungen nicht einfach durch Wissenschaft oder durch Dekonstruktionen von Mythen verschwinden. Vielmehr geht es durch den bewussten und reflektierten Gebrauch alter mythischer Narrationen im Unterricht darum, den Kindern einen frühen, selbstverständlichen und bewussten Umgang damit zu ermöglichen. So können sie mythische Weltdeutungen innerhalb gewöhnlicher Bildungsdiskurse als das identifizieren, was sie sind, ohne sie verdrängen zu müssen oder ihren Lockungen in Unkenntnis zu erliegen.
g. Archiv und Sammlung statt Kanon
In pluralistischen Gesellschaften scheint die Zeit breit legitimierter kanonischer Bildungsbestände vorbei zu sein. Dies bedeutet keineswegs, dass Bildungsinstitutionen und insbesondere Lehrpersonen sich nicht innerhalb eines Horizonts von anerkannten Kulturgütern und Lehrinhalten bewegen sollten. Doch statt eines Kanons könnten neu anerkannte und bekannte Archive die Grundlage für eine individuelle Auswahl bilden. Eine sinnvolle Auswahl wiederum bedarf einer auszugsweisen und stets zu wiederholenden Inventarisierung, das heisst auch einer persönlichen Aneignung durch die Benutzer:innen. Sammlungen wie das Buch «Erzähl nochmal» sind in diesem Sinne zu verstehen: als nach bestimmten Gesichtspunkten geordnete Auszüge aus den Archiven, die den Lehrpersonen einerseits die Auswahl erleichtern und andererseits durch ihre Begrenztheit auf die unausgeschöpfte Fülle der Archive verweisen.
Arbeiten mit dem Buch «Erzähl nochmal!»Themenbezogene Kapitel und ein umfassendes Stichwortverzeichnis erleichtern die Navigation im Buch. Auf der ergänzenden Website www.erzählnochmal.ch finden sich Hilfen für eine lehrplanbezogene Verwendung im Unterricht. Begleitet durch Dozierende erarbeiten Studierende innerhalb eines laufenden Kooperationsprojekts der PHSG mit der Stiftung www.weltethos.ch geschichtenbezogenes Unterrichtsmaterial, das über die Website gratis bezogen werden kann.In den nächsten Jahren wird die Website sukzessive erweitert und ergänzt – etwa durch professionell erstellte Audiodateien, die den Aspekt des freien Erzählens nochmals betonen sollen. Ebenfalls wird in der Ausbildung auf unterschiedlichen Ebenen die Wechselwirkung von Erzählen und Zuhören bearbeitet, etwa durch Feinabstufungen und Variieren der Raumgestaltung und des Settings während des Erzählens oder durch das Üben des freien Erzählens mittels eines mehrstufigen Strukturierungs-, Verdichtungs- und Aneignungsprozesses der Geschichten. Dabei spielt das Auswendiglernen etwa im Sinne Steiners keine geringe Rolle: «Was man liebt, will man auswendig lernen – ich bin Fanatiker in diesem Punkt. Nichts kann es Ihnen wegnehmen; keine Polizei, keine Zensur. Sie tragen das Auswendiggelernte mit sich, und es wächst in Ihnen. Der Text verändert sich, und er verändert uns: Wenn man älter wird, ist es nicht mehr der gleiche Text, den man als junger Mensch gelesen hat. Denn von einem grossen Text wird man gelesen. Man hat die Ehre, ins Haus einzutreten als Gast eines Texts – immer als Gast! –, und man versucht zuzuhören.» (George Steiner in einem Gespräch mit der NZZ, 18.4.2009) Bossart R., Mustafi N., Winter M., Zahner M. (2024): Erzähl nochmal. Geschichten aus Religionen, Kulturen und Zeiten, Zürich. |
Literatur
Bossart, Rolf (2024). Erzähl nochmal! Versuch einer kulturtheoretischen Begründung des Erzählens von traditionellen Geschichten, Mythen und Märchen im ERG-Unterricht, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/rolf-bossart-erzaehl-nochmal