Solidarität als existentielle Verbundenheit


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Solidarität als existentielle Verbundenheit

Ein fruchtbares und schwieriges Konzept im Schulfach ERG

Solidarität könnte ein zentraler Begriff für das Fachverständnis von ERG sein. Jedoch ist er gesellschaftlich und politisch mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen belegt. Solidarität, obwohl sehr beliebt, bleibt daher schwierig zu bestimmen. Eine einfache Funktionalisierung für eine Didaktik der Solidarität erscheint daher nicht sinnvoll. Der Beitrag versucht einen erfahrungsbasierten Solidaritätsbegriff zu entwerfen, der sowohl für die politische Bildung als auch für das Schulfach ERG fruchtbar gemacht werden kann.

Von Rolf Bossart

Solidarität als moralisches Konzept

Richard Rorty macht das Leiden als verbindenden Teil der menschlichen Konstitution aus, wodurch Solidarität ermöglicht wird (Rorty, 2021). Jürgen Habermas spricht gelegentlich von Solidarität in Bezug auf die sprach- und handlungsfähigen Subjekte (Habermas, 1995) in der idealen Kommunikationsgesellschaft. Andernorts heisst es bei ihm auch «Solidarität ist die Kehrseite der Gerechtigkeit» (2020, S. 120). Schliesslich nennt Hauke Brunckhorst (Brunckhorst, 2016, S. 35) Solidarität «ein altruistisches Handeln ohne Zwecke».

Ist also Solidarität vor allem eine moralische Forderung bzw. eine ethische Kategorie? Muss man demnach solidarisch sein? Wenn ja, in welchem Sinn? Dagegen ist mit Derpmann einzuwenden: Solidarität ist nicht von sich aus moralisch, sondern basiert auf gemeinsamen Identifikationen, die moralisch bewertet werden können (Derpmann, 2013). Bei Rahel Jaeggi erscheint Solidarität schlicht als eine kollaborative Tätigkeit zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels (Jaeggi, 2016). Diese Sicht ist entlastend und hat einen wichtigen Vorteil: Wenn die der Forderung nach Solidarität zugrunde liegenden Werte ethisch fragwürdig oder ausschliessend sind, kann dazu eine kritische Haltung eingenommen werden, ohne den Solidaritätsbegriff deswegen aufgeben zu müssen.

Es wäre daher wohl besser, mit Lisa Dillinger die Forderung nach Solidarität als «leere Forderung» zu fassen (Dillinger, 2021, S. 2): «Wenn Solidarität eine moralische Forderung sein soll, muss das zugrunde liegende Prinzip universell gültig sein, nicht aber die Solidarität selbst. Sie ist auf diejenigen beschränkt, die diese Prinzipien teilen.» Diese Differenzierung befreit den Solidaritätsbegriff von seiner moralischen Last und legt sie dort an, wo sie hingehört: zu denjenigen, für die Solidarität geübt werden soll.

Existentielle Verbundenheit

Mit der Zurückweisung des moralischen Imperativs im Solidaritätsbegriff haben wir diesen aber noch nicht hinreichend bestimmt. Zweckmässig erscheint die Definition von Mokrosch/Regenbogen (2009, S. 11): «Solidarität ist gekennzeichnet durch bestimmte Formen sozialer Bindungen. Sie meint bestimmte reziproke Beziehungen und Zusammengehörigkeitsgefühle interagierender Individuen (…).»

In einer davon ausgehenden Zuspitzung kann Solidarität als «Glutkern» des inneren Zusammenhalts einer Gruppe, Gemeinschaft oder der Gesellschaft insgesamt verstanden werden; eine entscheidende Rolle wird dabei oft dem Gefühl der wechselseitigen Verbundenheit (Vogelsang, 2020) der Gruppenmitglieder zugeschrieben.

Diese wechselseitige Verbundenheit ist aber nun nicht wie in einer Gemeinschaft eine natürliche Verbundenheit, bestimmt durch von den Mitgliedern als «natürlich» oder «gegeben» akzeptierten Merkmalen oder Interessen. Sie ist auch nicht wie in Gesellschaften geformte Verbundenheit durch gleiche Gesetze, Prozeduren, Institutionen, sondern vielmehr ist sie eine freie, situative und daher stets prekäre Entscheidung aufgrund einer persönlichen Erfahrung existentieller Verbundenheit. Die Vorstellung bzw. die Idee existentieller Verbundenheit ist das entscheidende Merkmal von Solidarität. Sie steht immer ausserhalb von natürlicher bzw. geformter Verbundenheit in Gemeinschaften bzw. Gesellschaften. Beiden jedoch fehlt ohne die Möglichkeit situativer existentieller Verbundenheit ihrer Mitglieder etwas Wesentliches. Gemeinschaften, die nur über natürliche Gegebenheiten und nie über freie Akte der Solidarität verbunden sind, drohen reine Zwangsgemeinschaften zu werden. Gesellschaften, die nur über Regeln und Verfahren gebunden sind, drohen rein instrumentelle Zweckgesellschaften zu werden. In Krisen aber wird der Zwang explosiv und der reine Zweck zentrifugal. Gesellschaft und Gemeinschaft – beide wesentliche menschliche Formen des Zusammenlebens – halten auf Dauer nur, wenn sie durch situative Akte Einzelner oder Gruppen zusätzlich gebunden werden, die auf der Erfahrung existentieller Verbundenheit gründen. Darum sind sie auch nicht einzurechnen im System, sie sind stets unvorhergesehen und zusätzlich. Was Solidarität als Ausdruck existentieller Verbundenheit charakterisiert, kann in folgenden Thesen umrissen werden:

Solidarität ist ein Akt der symbolischen Selbstgabe. Sie ist daher zugleich weniger und mehr als eine konkrete Hilfe. Ihre Grundlage ist nicht Empathie, sondern Erkenntnis; Erkenntnis des Fehlens eines ausgleichenden Akts für eine bestimmte, fundamentale Mangellage von Menschen.

Sie ist eine spontane Regung der Notwendigkeit, weder emotional noch rational. Sie zeigt sich als plötzliche Verpflichtung, die Sache der Anderen als meine Sache anzuerkennen. Die Gründe dafür können sehr unterschiedlich sein, haben aber immer einen universellen Kern. Solidarität ist so betrachtet ein individueller, spontaner, freier Akt auf der Basis eines universellen Urteils.

Die solidarische Position wehrt sich gegen gesellschaftliche Spaltung, aber sie setzt nicht auf Verschmelzung. Sie ist verpflichtender und wirksamer, wo immer man auf der Seite der Stärke und der Macht steht. Solidarisch sein kann je nach Situation heissen: Da zu sein, wo Dasein weder erwartet noch erwünscht ist, verhandeln, wo verhandeln nicht erwartet wird, auf Schwäche nicht mit Stärke zu reagieren, Rechte nicht um jeden Preis durchzusetzen, auf Ansprüche zu verzichten usw.

Solidarität ist spontan, situativ und daher keine Technik und kein Prinzip. Ihr prekärer Charakter bietet keine Sicherheiten, aber sie bietet stets die Hoffnung auf einen Akt der Verschonung, der ein Aufatmen ermöglicht.

Solidarität im Fach ERG

Was folgt nun daraus für die Verwendung des Solidaritätsbegriffs im Fach ERG? Hergeleitet aus den bisherigen Überlegungen ist erstens festzuhalten, dass Solidarität nicht gelehrt oder gelernt werden kann. Sie kann nur gezeigt und erzählt werden: Solidarität als spontaner Akt hat eine narrative Struktur.

Zweitens: Erwartete, erzwungene oder erpresste Solidarität in nicht selbstgewählten Gruppen wie Familien, Schulklassen oder Betrieben, kann es für Einzelne nicht geben. Sie führt entweder zu Reaktanz oder Heuchelei.

Drittens folgt aus der Tatsache, dass Solidarität nicht kontextlos als moralischer Imperativ funktionalisiert werden sollte, ein didaktischer Fokus auf Erfahrungen existentieller Verbundenheit.

Abschliessend seien davon abgeleitet einige Beispiele für den Schulkontext andeutungsweise skizziert.

Solidarität erzählen: Es gibt viele Geschichten, die sich aus der Perspektive existentieller Verbundenheit eignen, erzählt und betrachtet zu werden. Als Beispiel sei kurz auf die berühmte biblische Szene in der Höhle in 1 Samuel 24 verwiesen. David, der sich in der Höhle vor Saul verstecken muss, bietet sich unverhofft die Gelegenheit, sich seines Verfolgers zu entledigen, als dieser in derselben Höhle allein seine Notdurft verrichtet. Doch David verschont Saul und begnügt sich damit, als Beweis für seine Rechtschaffenheit, einen Zipfel von dessen Gewand zu schneiden. Der solidarische Akt beruht hier nicht auf einer plötzlichen Anwandlung von Mitleid mit seinem Peiniger, sondern vielmehr kann er genau als jene Erfahrung spontaner existentieller Verbundenheit gelesen werden, wo für einen entscheidenden Augenblick Saul für David nicht als der mächtige Saul, sondern als Mensch in seiner Schwäche erscheint.

Solidarität vormachen: Solidarität erscheint immer dort, wo die Lehrperson die solidarische Position einnimmt. Eine solche ist beispielsweise gegeben, wo bei Fehlverhalten eines/einer Schüler:in dieses zwar sanktioniert, aber gleichzeitig angezeigt wird, dass man grundsätzlich auf seiner/ihrer Seite steht und sich, komme was wolle, nicht distanzieren wird. Oder auch immer dort, wo Konkurrenz- und Leistungsdruck nicht mit Verweis auf andere Stärken des Kindes abgeschwächt wird, sondern darauf mit der unerschütterlichen und an keine Forderung gebundene Zuversicht auf ein gutes Leben gerade für dieses Kind reagiert wird. Konkret machen kann man das, was mit solidarischer Position in diesem Zusammenhang gemeint ist, mit Gegenüberstellungen von gängigen Aussagen von Lehrpersonen angesichts schwieriger Situationen. Einige Beispiele seien kurz in Schweizerdeutsch wiedergegeben. Dabei wird jeweils eine Konkurrenz- und Leistungsdruck eher befördernde Position (A) einer tendenziell solidarischen Position (B) gegenübergestellt:

Ein Junge beklagt sich über eine LP, die ihm eine ungerechte Note/Feedback gegeben habe: «Lueg, Du häsch Dir jo Müeh ghee, das ischs Wichtigschte.» (A) «Da häsch viellicht auch selber chli verbockt. Was mached mer jetzt us dem?» (B)

Ein Mädchen äussert gegenüber der Musiklehrerin ihre hohen Ambitionen im Gesangsunterricht: «Lueg, wenn Du dich do und do no chli verbesserisch, denn gohts i Richtig 6.» (A) «Du wötsch ä berühemti Sängerin werde? Das gfallt mir! Aber gell, zum berüehmt werde, bruuchts au vill Glück und da chamer nöd plane. De Teil überlönd mer besser am Zuefall oder am liebe Gott.» (B)

Die Lehrperson möchte ein Kind trösten wegen ihrer schlechten Fremdsprachenleistungen: «Du bisch nöd so guet im Französisch und Englisch, aber defür chasch toll singe.» (A) «Da isch jetzt grad schwirig mit de Schuel für dich. Aber ich ha Dich gern do bi mir i de Klass, mir gönd Schritt für Schritt und ich bi sicher, dass Du Din Weg machsch.» (B)

Bedingungen der Solidarität: Man kann Solidarität nicht direkt lehren, aber man kann sehr gut an den Bedingungen als den Voraussetzungen für solidarische Akte arbeiten. Als wichtige Bedingung der Möglichkeit für solidarische Akte bietet sich die Arbeit am Verhältnis von Autonomie und Abhängigkeit an: Wer sich seiner eigenen existentiellen und situativen Angewiesenheit bewusst ist, diese benennen und auch durch ihre Ähnlichkeit auf die Angewiesenheit anderer Menschen in anderen Situationen übertragen kann, weiss zumindest, wie notwendig oder wohltuend solidarische Akte des Beistehens oder Verzichtens in Situationen der Abhängigkeit und Ohnmacht sein können. Nebst Haltungsfragen können auch strukturelle Bedingungen existentieller Verbundenheit zum Thema werden. Beispielsweise kann das anwaltschaftliche Prinzip anschaulich gemacht werden in Rollenspielen, wo dieselbe Konfliktsituation (beispielsweise die Beschuldigung eines Kindes durch eine Gruppe) gespielt wird: Einmal allein, dann mit Präsenz einer unbeteiligten, neutralen Person und schliesslich mit Präsenz einer anwaltschaftlichen Position.

Ästhetische Dimension existentieller Verbundenheit: Die Erfahrung existentieller Verbundenheit kann auch in der Betrachtung von Kunstwerken oder bspw. in der Raumerfahrung von sakralen Räumen gemacht werden. Museen oder sakrale Räume ermöglichen ein Gefühl einer allgemeinen, absichtslosen Verbundenheit. Sie sind für mich gemacht, aber sie gehören mir nicht. Sie verweisen auf etwas anderes, an dem ich Anteil nehmen kann und von dem ich doch weit weg bin. Der Verweis auf etwas Grösseres und sein Fehlen, das sie aufzeigen, verbindet mich sowohl mit anderen Betrachter:innen als auch mit den Schöpfer:innen.

Literatur

Bossart, Rolf (2013): Zwangsvorstellungen der Freiheit. Kritik des Denkens der Gemeinschaft, in respektive. Zeitbuch für Gegenblicke, Nr.3, respektive.org
Brunckhorst, Hauke (2016): Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt am Main.
Derpmann, Simon (2013): Gründe der Solidarität, Paderborn.
Dillinger, Lisa (2021): Vortragsmitschrift R.B., Zürich.
Habermas, Jürgen (2020): Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main.
Habermas, Jürgen (1995): Theorie des kommunikativen Handelns. Band II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main.
Jäggi, Rahel (2016): Solidarität und Gleichgültigkeit, in: Kastner, Jens / Susemichel, Lea (Hg.): Unbedingte Solidarität, Münster.
Menke, Christoph (2008): Kontingenz und Solidarität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Nr. 56, S.155-158.
Mokrosch, Reinhold / Regenbogen, Armin (2009): Werteerziehung und Schule, Göttingen.
Rorty, Richard (2021): Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main.
Stüber, Caroline Sophie et al. (2020): Solidarität in der Krise, in: Zeitschrift für praktische Philosophie, Bd. 7, S. 443-446.
Vogelsang, Frank (2020): Soziale Verbundenheit. Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne, Freiburg.
Artikelnachweis
Bossart, Rolf (2025): Solidarität als existentielle Verbundenheit: Ein fruchtbares und schwieriges Konzept im Schulfach ERG, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/rolf-bossart-solidaritaet-als-existentielle-verbundenheit