Stichwort Perspektivenwechsel
Aspekte einer Didaktik des Perspektivenwechsels im Fachbereich ERG
Die Welt mit anderen Augen sehen
«Gebildet sein» bedeutet Abstand von der eigenen Sichtweise nehmen zu können, um die Welt mit anderen Augen zu sehen.[1] Dadurch wird dem Einzelnen seine kulturell gebundene und biographisch geprägte Perspektivität bewusst und er kann seine Sicht erweitern durch Perspektiven der Wissenschaften, der Politik, der Kunst oder der Religion. Solche Perspektivenwechsel sind eine Grundaufgabe der Schule und ihrer Fächer. Und über die klassischen Fächer hinaus wird komplementäres Denk- und Handlungsvermögen erweitert, indem beispielsweise zur faktischen Sprache die symbolische tritt, zum Realitätssinn der Möglichkeitssinn, zur sachlichen Richtigkeit die ästhetische Stimmigkeit. Wer so unterschiedliche Perspektiven einzunehmen lernt, kann Anderes und Fremdes besser verstehen und respektieren, gleichzeitig aber auch für das Eigene einstehen.[2]
Unterricht fördert einseitig affirmative Haltungen
Gemäss der ersten Ergebnisse zur Untersuchung von Perspektivenwechsel und Unterrichtsqualität stellt die Forschergruppe um Duncker/Mathis jedoch fest, dass der grösste Teil des Unterrichts auf Monoperspektivität, auf Eindeutigkeit und Gewissheit ausgerichtet ist.[3] Von den Schülerinnen und Schülern wird eine affirmative Haltung erwartet, sie sollen die eindeutigen Lernergebnisse korrekt wiedergeben können. Gedankenexperimente, andere Sichtweisen, kontroverse Positionen finden Schülerinnen und Schülern zwar durchaus interessant. Die Lehrpersonen bemühen sich jedoch mehrheitlich, Differenzen und Fraglichkeiten auszublenden, Gewissheit zu vermitteln und sichere Antworten zu operationalisieren, die in Tests verlässlich abgefragt werden können. Ihren Erwartungshorizont in vier Stufen, haben die Bildungsforscher auch auf Lehrmittel angewendet. Auch da haben sie festgestellt, dass die Anregungen zum Perspektivenwechsel sehr gering bleiben. Die Stufen lauten:
- Eindeutigkeit und Affirmativität: keine Anregungen zu Perspektivenwechsel; Darstellung von sogenanntem Sachwissen.
- Pluralität und Relativität: assoziatives und additives Sammeln von Sichtweisen, mehrere Meinungen nebeneinander stellen.
- Perspektivität und Diskursivität: Perspektiven werden bewusst kontrastiert, verglichen und hinterfragt.
- Positionalität und Normativität: persönlich entscheiden und Position beziehen; was soll für alle gelten, warum…
Die Diskussion dieser Ergebnisse wirft viele Fragen zur Ausbildung und Haltung von Lehrpersonen, zur Wirkung von noten-gesteuerten Schulen, zum Anregungsgehalt von Lehrmitteln auf. Es wird befürchtet, dass ein zentraler Bildungsgedanke gar nicht eingelöst wird.
Pädagogisch begründeter Perspektivenwechsel als Chance
Im Wahlpflichtfach ERG-Kirchen, wie es im Kanton St. Gallen eingerichtet wird, bietet sich eine grosse Chance, zu diesem Bildungsprozess als Perspektivenwechsel beizutragen. Im Unterschied zum schulischen ERG-Unterricht, der oft auf eine sachkundliche Sicht beschränkte bleibt, kann hier ein pädagogisch begründeter Perspektivenwechsel aktiv gestaltet werden. Hier kann die «Welt» aus ethischer und religionsbezogener Perspektive und auch spezifisch aus der Perspektive des Christentums wahrgenommen und erschlossen werden. Dadurch lernen die Schülerinnen und Schüler unterrichtliche Fragen aus einer religionsspezifischen und/oder christlichen Perspektive zu betrachten, die sich unterscheidet von den Sichtweisen anderer Teilbereiche der säkular-differenzierten Gesellschaft wie der Wirtschaft, der Politik, der Naturwissenschaft oder der Kunst. Gleichzeitig lernen sie aber auch, wie das Christentum bzw. Religion oder Ethik aus der Perspektive anderer Lebensbereiche bzw. anderer Fächer wahrgenommen werden und wie über sie gesprochen wird.[4] Das hilft ihnen, eine differenziertere Sprache zu entwickeln, um die eigenen Überzeugungen dialogisch mit den Perspektiven anderer und mit gesellschaftlichen Normen oder tradierten Glaubenszeugnissen einer Religionsgemeinschaft vergleichen zu können. Sie können wechseln zwischen einer Teilnehmerperspektive («ich gehöre dazu, ich sehe das auch so» etc.) und einer Beobachterperspektive («sie machen das so, sie glauben an …») und können sich reflexiv zu den eigenen subjektiven ethischen und religiösen Konzepten verhalten.
Die skizzierte Didaktik des Perspektivenwechsels wird zu einem zentralen Merkmal des Unterrichts im Wahlpflichtfach ERG-Kirchen. Neben den dargelegten grundlegenden Perspektiven bieten sich verschiedene Ebenen an, auf denen Perspektivenwechsel eingeübt werden kann:
- zwischen (beschreibender) schulischer Aussensicht und (bekennender) religiöser Innensicht
- als je verschiedene Perspektive der grossen religiösen Traditionen und (säkularen) Weltanschauungen
- innerhalb des Christentums: als evangelisch-reformierte Perspektive, römisch-katholische Perspektive, Perspektiven anderer christlicher Kirchen und Gemeinschaften
- als ethische oder religionskundliche Perspektive im Unterschied zu den Perspektiven anderer Fachbereiche innerhalb von «Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG), zu kirchlichem Religionsunterricht oder zu anderen Schulfächer sowie zur «Bildung für eine nachhaltige Entwicklung» (BNE)
- als Perspektive der «Nähe» beim sich Einlassen und Durchdringen eines Unterrichtsgegenstandes und als Perspektive der «Distanz» bei der metakognitiven kritischen Reflexion des Lernprozesses.
Orientierung an einer übergeordneten Fragestellung
Eine Didaktik des Perspektivenwechsel verhindert einen bloss affirmativen Unterricht. Systematisierend kann unterschieden werden zwischen unterschiedlichen Perspektiven auf der Ebene der Menschen und Personengruppen (Akteurenanalyse) und den unterschiedlichen fachlichen Perspektiven aufgrund ihrer jeweiligen Wissenschaftstradition. Damit aber der Perspektivenwechsel nicht nur ein additives Nebeneinanderstellen von Sichtweisen verschiedener Disziplinen oder Anschauungen wird, braucht es eine übergeordnete gemeinsame Fragestellung oder Anforderungssituation. Um diese Fragestellung zu klären oder um eine Anforderungssituation zu bewältigen, werden verschiedene Perspektiven befragt und deren Sichtweisen zueinander in Beziehung gesetzt. Das so entstehende Zusammenhangsdenken ergibt nicht eine Auflösung der Perspektivitäten, keine einfache klärende Synthese oder harmonische Ganzheit, sondern zeigt sich als transparentes Differenzgefüge.[5] Dieses Differenzgefüge ist Grundlage für die kritische Auseinandersetzung im Unterricht, für das Ringen um Positionen unter den Schülerinnen und Schülern oder für die Beurteilung oder Begründung normativer Forderungen. Eine so angeleitete Auseinandersetzung regt existentielle Lernprozesse an, ohne dass die Lernenden indoktriniert werden, ohne eine Festlegung auf ihre Herkunftskultur, Religionszugehörigkeit oder ihr soziales Milieu und ohne eine einseitige Orientierung an religiösen oder säkularen Überzeugungen.