Gewalt, Belohnung und Willensfreiheit
Computerspiele im Religionsunterricht
Einführung
Computerspiele gehören heute zum Alltag vieler Kinder und Jugendlicher. Je präsenter sie im Leben eines Kindes sind, desto eher prägen sie durch ihre Inhalte auch die religiöse Sozialisation.[1] Wie lassen sich Computerspiele in den Religionsunterricht einbinden? Neben dem Einsatz von religiösen Lernspielen[2] und der Analyse von religiösen Inhalten in Mainstream-Games[3] ist der Zugang über die Religionsähnlichkeit von populären Computerspielen möglich. Diese Ähnlichkeit lässt sich anhand von Grunderfahrungen oder Konzepten diskutieren, die sowohl im Game-Kontext wie im religiösen Kontext relevant sind – dieser Beitrag behandelt im Folgenden die Gewalt, die Belohnung und die Willensfreiheit.[4] Die Relevanz solcher Erfahrungen aufzuzeigen erübrigt sich, wenn die Erfahrungen direkt aus der Kultur und dem Alltag der Jugendlichen herausgegriffen werden. Dabei sind aber auch Fallgruben zu vermeiden: So kann es weder darum gehen, a) das Gamen als Religion darzustellen, noch darum, b) das Gamen als Mängelmedium im Gegensatz zur Religion zu behandeln oder c) lediglich als Sprungbrett zur Diskussion von religiösen Lehrinhalten zu verwenden. Vielmehr sollten die Games als Lern- und Erfahrungsorte ernstgenommen und als vollwertiger Gegenstand der Denk- und Erkenntnisprozesse behandelt, jedoch auch vor dem Hintergrund realweltlicher und religiöser Erscheinungen reflektiert werden. Durch die Reflexion der Religionsähnlichkeit von Games lassen sich Brücken zwischen Generationen und Kulturen bauen, zwischen säkularen und religiösen Welten, sowie zwischen medialer und unvermittelter Realität.
Kompetenzen und Lehrplanbezug
Der vorliegende Beitrag ist keine erprobte und abgeschlossene Unterrichtseinheit, sondern gibt Orientierung und Impulse für vier Unterrichtslektionen. Diese können als Block zum Thema «Medien» oder «Computerspiele» eingesetzt, oder auch als einzelne Lektionen zu den Themen «Faszination von Games», «Gewalt», «Belohnung», sowie «Willensfreiheit» verwendet werden. Um die Schülerinnen und Schüler als Spielende anzusprechen und ernst zu nehmen, wird (1.) als Einstieg die Frage nach der Faszination von Games behandelt. Danach folgen drei Lektionen, die sich je einem Thema sowie jenem Computerspiel-Genre widmen, das diese Thematik besonders gut ausdrückt, nämlich (2.) Gewalt anhand von Ego-Shootern, (3.) Belohnung anhand von Sportspielen, sowie (4.) Willensfreiheit anhand von Open-World-Spielen.
Die Schülerinnen und Schüler erkunden und reflektieren die Konzepte «Gewalt», «Belohnung» und «Willensfreiheit» in ihren Kontexten des Computerspielens sowie der Religion. Andererseits sollen Computerspiele als Medien erkannt werden, die – eher indirekt als direkt – Aussagen über lebensweltlich und religiös relevante Erscheinungen machen. Dies entspricht einerseits der Kompetenz ERG 1.1 des Lehrplan 21, nämlich dass die Schülerinnen und Schüler menschliche Grunderfahrungen auch in Medien erkennen, beschreiben und reflektieren können und dabei auch den religiösen Umgang mit diesen Grunderfahrungen kennenlernen. In einem weiteren Verständnis von Religion entspricht dies aber auch der Kompetenz ERG 3.1, dem Erkennen und Reflektieren religiöser Spuren und Motive in kulturellen Werken. Denn einerseits gründet der Umgang mit Gewalt, Belohnung und Willensfreiheit in Games und in der Computerspielkultur teilweise in religiösen Erfahrungen, andererseits können menschliche Grunderfahrungen situationsbedingt auch als Kontingenzerfahrungen erlebt werden – Erfahrungen des «Abhängigen» (Friedrich Schleiermacher), des «Mysteriums» (Rudolf Otto), oder des «Unbedingten» (Paul Tillich) – und somit potenziell religiös sein.
1. Die Faszination von Games
Sachanalyse
Computerspiele sind beliebt: Gemäss der von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften zhaw durchgeführten repräsentativen JAMES-Studie 2016[5] spielen zwei Drittel der 1100 befragten Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren zumindest ab und zu Computerspiele. Laut eigenen Angaben verbringen die Jugendlichen im Durchschnitt 12 Stunden pro Woche mit dem Spielen – sei es alleine oder mit anderen Spielenden. Die meistgenannten Spiele und Spielgenres, die unten zur Sprache kommen sollen, sind First-person- bzw. Ego-Shooter mit der meistgenannten Spielreihe Call of Duty, Sportspiele mit der meistgenannten Spielreihe FIFA, sowie Open-World-Spiele mit der meistgenannten Spielreihe Grand Theft Auto. Doch warum spielen Jugendliche diese Spiele und Spielgenres, was fasziniert sie daran?
Aufschluss gibt hier das Lied «In meiner Welt» des Rappers Kevin J. alias Execute[6]. Hier lassen sich folgende motivationale Punkte festhalten, die auch von den Spielenden immer wieder genannt werden: Als Spielerin oder Spieler
- kann ich ein Held oder eine Heldin sein, kann stark sein und kann grundsätzlich alles sein, was ich will;
- habe ich ein klares Ziel vor Augen und kann selbst entscheiden, wie ich dieses Ziel erreichen will;
- werde ich herausgefordert. Ich muss kämpfen und mich bewähren, dann werde ich belohnt;
- darf ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen;
- bin ich Teil einer Gemeinschaft, in der ich mich aufgehoben fühle.
Diese motivationalen Aspekte lassen sich auf menschliche Grundbedürfnisse im weltlichen und religiösen Zusammenhang zurückführen.
So klingt in Punkt 1 das Bedürfnis nach Teilnahme an anderen Realitäten und Erfahrungen an, z. B. um das eigene Erfahrungsspektrum zu erweitern, um das Bewusstsein in idealere Existenzen zu absorbieren, oder schlicht um dem Alltag zu entfliehen. Dies kann z. B. auch durch Reisen, durch Gespräche mit Menschen, durch Geschichten aller Art, durch Rollenspiele, Schauspielerei oder Maskeraden erreicht werden, oder auch durch die Vergegenwärtigung einer «ganz anderen Wirklichkeit» in der Religion.
In Punkt 2 geht es um das Bedürfnis, folgenreiche und relevante Entscheidungen zu treffen, die wir oft auch im Alltag, im Beruf, in der Freizeit treffen müssen, können oder möchten, um Herausforderungen zu meistern und einen Unterschied zu schaffen – den ultimativen Unterschied machen unsere das Seelenheil betreffenden Entscheidungen.
Punkt 3 spricht das Bedürfnis an, durch ordentliche Anstrengung und Leistung auch tatsächlich Erfolg zu haben und belohnt zu werden, wie es die Leistungsgesellschaft generell verspricht. Dieses Bedürfnis überträgt sich in der Religion auch auf das Leben nach dem Tod.
In Punkt 4 erscheint das Bedürfnis, intensiven, auch weniger angemessenen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Kulturpraktiken wie Theater, Erzählungen oder Spiele kanalisieren seit alters her nicht nur positive Gefühle, sondern auch Feindseligkeit, Wut, Überheblichkeit und Schadenfreude. Aus christlicher Sicht wurden diese negativen Gefühle oft mit Sünde assoziiert und die betreffenden Kulturpraktiken daher abgelehnt. Im Fällen von Raserei, Manie, Ekstase oder Enthusiasmus haben ähnliche Gefühle jedoch eine (eher nicht-christliche) religiöse Rahmung erhalten.
Punkt 5 schliesslich handelt von der Erfahrung und vom Bedürfnis, mit anderen Menschen auszutauschen und dadurch Teil eines sozialen Gefüges zu sein. Heute gibt es neben den traditionellen Grossgruppen wie Nation, Partei oder Kirche auch unzählige Kleingruppen und soziale Netzwerke zu allen möglichen Interessensgebieten, die diese Erfahrung bieten und (multiple) Identität stiften.
Durchführung
Um die Attraktivität des Gamens in der Klasse festzustellen, wird zunächst nach der Computerspielnutzung gefragt. Die Umfrage kann sehr einfach durchgeführt werden, z. B. als simple Frage an die Klasse – wer spielt regelmässig oder ab und zu ein Computerspiel? Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass alle Formen und Genres von Games gemeint sind, also nicht nur die typischen Mainstream-Games wie Call of Duty oder FIFA, sondern auch simplere digitale Puzzle-, Quiz-, Karten- oder Social-Spiele, die häufiger von Mädchen gespielt werden. Eine andere, etwas aufwendigere, aber dafür auch erkenntnisreichere Methode ist es, das Nutzungsverhalten mit dem Fragebogen (AB1) zu ermitteln. Drei einfache Fragen bringen die Häufigkeit und die Dauer des Spielens sowie die bevorzugten Genres in Erfahrung. Die Antworten können direkt in die Excel-Tabelle (MB1) eingefügt werden. Diese Tabelle produziert Grafiken, welche die Resultate der Klasse mit denen der Schweizer Jugendlichen gemäss der JAMES-Studie 2016 vergleicht. Damit wird ersichtlich, wo der oder die Einzelne oder auch die Klasse mit ihren Spielgewohnheiten im nationalen Vergleich steht. Wichtig ist, die Attraktivität und Verbreitung des Computerspielens festzustellen. Selbst wenn das Computerspielen in der Klasse nicht sehr verbreitet sein sollte, kann durch den Rückgriff auf die JAMES-Studie festgestellt werden, dass das Spielen für die meisten Schweizer Jugendlichen attraktiv ist.
Als nächstes stellt sich die Frage, was am Spielen so fasziniert. Auch diese Frage kann direkt an die Klasse gestellt werden, wobei die einzelnen Antworten für die spätere Analyse gesammelt werden. Alternativ oder zusätzlich lässt sich die Frage (als Hausaufgabe) durch Interviews mit Freunden und Bekannten beantworten. Oder es können die Aussagen von Gamern aus dem Doku «Typisch Gamer»[7] oder das Lied «In meiner Welt»[8] von Kevin J. alias Execute analysiert werden. Die Schülerinnen und Schüler haben die Aufgabe, die Vorzüge zu benennen, welche die Welt des Gamens bietet, und sie kritisch zu reflektieren. Stimmen sie immer? Gibt es Gegenbeispiele? Gibt es Games, in denen einzelne Punkte besonders – oder gerade nicht – zum Tragen kommen? Gibt es weitere, nicht genannte Punkte, die zur Faszination von Games beitragen?
Zum Abschluss überlegen die Schülerinnen und Schüler, ob die genannten Motivationen des Spielens wirklich nur im Rahmen von Games erfahren werden können oder ob das Gamen möglicherweise das Bedürfnis nach Erfahrungen stillt, die Menschen generell suchen oder machen – vielleicht gerade auch in der Religion. Bei dieser Aufgabe müssen die Schülerinnen und Schüler die genannten Motivationen aus dem Computerspielzusammenhang lösen und auf andere Bereiche übertragen können. Dies ist zugleich eine Vorbereitung auf die folgenden Lektionen.
2. Ego-Shooter und Gewalt
Sachanalyse
Zu den Lieblingsspielen von Schweizer Jugendlichen gehört die Militär-Ego-Shooterreihe Call of Duty (CoD). Darin bekämpfen die Spielenden als Soldaten computergesteuerte oder – in Online-Partien – auch menschliche Gegner in diversen historischen oder futuristischen Kriegsszenarien. Die offensichtlichste Thematik in Ego-Shooter ist die Gewalt.[9] Ego-Shooter stellen direkt und detailliert brutale physische Gewalt dar: Menschen werden durch das Zutun der Gamer getötet und oft auch verstümmelt. Daneben üben die Protagonisten oft auch psychische Gewalt aus und haben Anteil an massiven Sachbeschädigungen. Das Töten und Zerstören ist die vordergründige Spielmechanik, ohne diese Handlungen können die Spielziele nicht erreicht werden. Diese extreme Gewalt wird durch den Kontext relativiert: Erstens findet sie meistens in der Ausnahmesituation eines militärischen Konfliktes statt und wird im Rahmen des gesellschaftlich und religiös (Paulus, Luther) akzeptierten staatlichen Gewaltmonopols ausgeführt. Und zweitens hat die Gewalt oft einen christlich-moralischen Hintergrund. In den Erzählungen von Ego-Shootern verkörpern die Spielenden meistens die «Guten», die ein «Böses» bekämpfen. Die Feinde sind oft Fanatiker oder Terroristen, die unethische Ziele verfolgen.
Dennoch bleiben problematische Punkte und Fragen: Die ästhetisch imposante und verherrlichende Darstellung von brutaler Gewalt vermittelt unmissverständlich Botschaften, die einem Zusammenleben in Frieden und gegenseitigem Respekt entgegenlaufen. Hier soll es weniger um die Wirkung dieser Inhalte gehen, als um ihre Bedeutung: Dass Gewaltinhalte temporär auf die Gamer wirken, ist unbestritten. Doch es gibt auch nach jahrzehntelanger Forschung keine Klarheit darüber, ob, wie und wie umfassend sie sich auf die Persönlichkeit und den Alltag der Gamer auswirken.[10] Klar ist, dass diese Inhalte für die Gamer eine andere Bedeutung haben als für Aussenstehende: Wo Eltern und Lehrpersonen Mord und Totschlag sehen, betonen die Gamer den Wettbewerb und den Sieg durch Leistungen wie Reaktionsgeschwindigkeit, Konzentration, Orientierung, Taktik und Teamwork. Wird dies ernst genommen, dann ist die Gewalt in Ego-Shooter kein Ausdruck der Mordlüsternheit der Spielenden, sondern unterstreicht den existenziellen Aspekt eines survival of the fittest-Szenarios: Gamer setzen sich in einer feindlichen Welt durch und gewinnen damit Selbstvertrauen und Anerkennung. Ego-Shooter widerspiegeln damit das Jagdverhalten und den Überlebenskampf, wie er in modernen Gesellschaften nicht einfach nur in militärischen Konflikten, sondern auch in der Geschäftswelt, an der Börse oder in der Politik ausgetragen wird. Hingegen gibt es wichtige Unterschiede zur Gewalt in der Bibel: Diese ist meistens nicht Ausdruck eines Durchsetzungswillens des Menschen in Natur und Kultur, sondern Ausdruck der Sündhaftigkeit der Menschen. Sie ist aber auch das Mittel, mit dem Gott die Israeliten bestraft und unterstützt, damit eines Tages «Schwerter zu Pflugscharen» (Jesaja 2,4) werden – was Jesus mit seiner Liebesbotschaft und seinem Gewaltverzicht vorgelebt und bekräftigt hat. Die bereits vorliegenden Unterrichtsideen[11] zum Thema behandeln Computerspielgewalt nicht im Kontext von religiöser Gewalt. Dies soll hier getan werden.
Durchführung
Die Lehrperson kündigt an, mediale Gewalt zu thematisieren – und zwar einerseits in Ego-Shooter, andererseits in der Bibel. Sie betont, dass es nicht um die Verurteilung von Games oder von Ego-Shooter geht, sondern darum, herauszufinden, welche Botschaften diese Medien über Gewalt vermitteln und was dies für Menschen bedeutet. In einem ersten Teil kann der These nachgegangen werden, dass viele Action-Filme und Games auf moralisch legitimierte, biblische Gewalt zurückgreifen. Dazu kann gemeinsam der kurze Text von Spieldesignerin Elena Bertozzi (MB2) gelesen werden, die in Ego-Shooter und anderen Gewaltspielen eine jüdisch-christliche moralische Grundlage sieht.
Um dies genauer zu erörtern, wird zunächst die biblische Gewalt betrachtet. Ein guter Überblick bietet der Artikel «Gewalt in der Bibel» von Jürgen Neidhart.[12] Die einzelnen Gewaltereignisse werden von der Lehrperson erklärt oder aber in Gruppen – jede Gruppe kriegt ein Ereignis zugeteilt – erarbeitet und anschliessend im Plenum vorgestellt: Was passiert, warum, durch wen, womit?
Dann verschaffen sich die Schülerinnen und Schüler einen Überblick über den Kontext der Gewalt in den Kampagnen (Erzählungen) der neueren CoD-Spiele. In Gruppen lesen sie Kurzzusammenfassungen (MB3) – wer kämpft gegen wen und weshalb? – und versuchen, die Gewaltkontexte den biblischen Gewaltereignissen zuzuordnen. Die Ergebnisse werden im Plenum vorgestellt und diskutiert. Mögliche Erkenntnisse: In CoD-Spielen kommt Gott nicht vor, aber die meisten Game-Szenarien lassen sich als gerechte «Verteidigungskriege» (die Guten werden von Bösen angegriffen) begreifen. Ausserdem findet die Militärgewalt oft im Einklang mit Paulus‘ Schwertgewalt des Staates statt und erscheint legitim. Im Fall von CoD: Black Ops 3 lassen sich auch apokalyptische Untertöne diskutieren.
In einem zweiten Teil der Lektion soll untersucht werden, was die Gewalt in Ego-Shooter und in der Bibel für Menschen bedeutet. Dies kann durch eine Gegenüberstellung von Aussen- und Innenperspektive erreicht werden. Im Fall von Computerspielgewalt wird als Aussenperspektive ein Auszug aus dem PEGI-Fragebogen (MB4) gelesen, dem Instrument, das die PEGI[13] für die Alterseinstufung von Games benutzt. Die CoD-Spiele erhalten meistens eine Ab-18-Kennzeichnung, d. h. mindestens eine der fünf gelisteten Fragen wurde von den Testern positiv beantwortet. Anhand dieser Fragen und evtl. persönlichen Erfahrungen überlegen sich die Schülerinnen und Schüler, wie Computerspielgewalt von aussen wahrgenommen wird. Lassen sich vor diesem Hintergrund die Alterskennzeichnung, die Sorgen der Eltern oder sogar eine Verbotsforderung für «Killergames» nachvollziehen? Die Innenperspektive können die Schülerinnen und Schüler selbst – insbesondere die CoD– und Ego-Shooter-Liebhaber in der Klasse –, oder auch der Doku «Headshot: Gaming und Gewalt»[14] vermitteln: Wie nehmen die Gamer Computerspielgewalt wahr? Und was könnte daran so faszinieren?[15]
Die Lehrperson erklärt, dass es in Bezug auf die Gewalt in der Bibel ähnliche Diskussionen gebe: Aussenstehende kritisieren die Bibel teils aufgrund der brutalen – und oft von Gott verübten oder verfügten – Gewalt. Als Aussenperspektive können hier einige Beispiele mit Kommentaren aus dem Text «Die Bibel, ein teuflisches Buch!» einer Schweizer Atheismus-Webseite betrachtet werden.[16] Was empfinden die Schülerinnen und Schüler bei den entsprechenden Stellen der Bibel? Überzeugen diese Argumente? Die Innenperspektive kann durch die Lehrperson oder durch die Doku «Bibel-Gewalt im Alten Testament»[17] eingebracht werden.
Schliesslich werden Ähnlichkeiten und Unterschiede der biblischen und computerspieltypischen Gewaltinhalte, dem Umgang damit sowie den beiden Medien generell festgehalten.
3. Sportspiele und Belohnung
Sachanalyse
Sportspiele gehören zu den beliebtesten Genres. Insbesondere die Fussball-Games der FIFA-Reihe werden von vielen Kindern und Jugendlichen an erster Stelle genannt. In FIFA 17 können die Gamer u. a. mit einem Fussballer Karriere machen, als Trainer einen Club nach oben bringen, mit einer individuellen Mannschaft Online-Matches gegen Freunde austragen oder im Rahmen des E-Sports gegen Konkurrenten im In- und Ausland antreten.[18] Was den professionellen Fussball und generell sportliche Wettkämpfe mit Games verbindet, ist das Streben nach dem Sieg und der Belohnung für erbrachte Leistung.
Durch die Kombination von Computerspiel und Sport wird die simulierte sportliche Leistung und der Erfolg mit computerspieltypischen Arbeiten und Belohnungsmechanismen kombiniert: In FIFA 17 benötigen die Gamer motorische Geschicklichkeit und Reaktionsgeschwindigkeit, um die Matches zu gewinnen. Sie müssen sich aber auch mit strategischem Weitblick durch zahlreiche Menüs klicken, diverse Werte vergleichen, erhöhen oder reduzieren und unzählige Optionen aktivieren oder deaktivieren, um Traineraufgaben zu erledigen. Diese Handlungen verrichten die Gamer für den Sieg auf dem virtuellen Rasen, für den Aufstieg der eigenen Mannschaft, und teils auch für die Anerkennung ihrer Leistung und Erfolge durch ihre Freunde. Motiviert werden sie jedoch auch durch das ausgeklügelte Belohnungssystem: FIFA 17 gibt regelmässige Feedbacks wie die ständigen Verbesserungen der Fussballspielerwerte oder die simultane Beurteilung der Leistungen einzelner Spieler auf dem Spielfeld. Erfolgreiche Trainer-Aktionen und gewonnene Spiele werden mit «Erfahrungspunkten», «Münzen» und «Credits» belohnt, wobei letztere beiden als virtuelle Währung funktionieren, die man in den Online-Shops des Publishers gegen virtuelle Güter eintauschen kann. Darüber hinaus gibt es 44 so genannte Achievements oder Erfolge, die bestimmte Spielhandlungen auszeichnen – z. B. das Erzielen eines Tors mit einem Flachschuss, das Wechseln des Kapitäns oder das Erreichen eines Finanzziels.
Solche virtuellen Belohnungen sollten nicht unterschätzt werden. Anders als es in der Realwelt oft der Fall ist, werden sie berechenbar, zuverlässig und regelmässig verteilt. Sie wirken auf das Hirn und schütten Glückshormone aus. Gamer spielen mehr oder weniger bewusst, um sich im Rahmen einer Work-Life-Balance oder auch als Kompensation für einen realweltlichen Mangel zu belohnen (Mood-Management). Für diese Belohnung sind Gamer bereit, einen teils erheblichen Aufwand zu betreiben. Dieser Aufwand wird in der Gamerszene gerne betont. Den virtuellen Erfolg herbeizuführen, ohne dafür ordentlich zu arbeiten (z. B. durch Mogeln), ist verpönt. Diese Betonung und Wertschätzung der Arbeit hat ihre Entsprechung nicht nur im Leistungssport, sondern auch in der modernen Arbeitswelt, die wiederum massgeblich durch die protestantische Arbeitsethik (Max Weber) beeinflusst ist. Hier ist die Arbeit nicht nur existenziell, sondern wird zur gottgewollten Pflicht. Anders als in Games kann das «Ziel» – das ewige Leben – weder berechnet, noch vorausgesetzt, sondern nur erhofft werden. Doch ähnlich wie die virtuellen Belohnungen in Games haben die weltlichen Erfolge oder Belohnungen im Hinblick auf die Erlösung nur bedingten Wert: Wo der stets gefährdete Wettkampfstatus in Sportgames ständige Leistungen abverlangt, die vorläufig durch virtuelle Belohnungen motiviert werden, führt die Gnadensungewissheit in der protestantischen Ethik zu einem unermüdlichen Arbeiten («innerweltliche Askese»), dessen Früchte – die weltlichen Erfolge – als Zeichen für die göttliche Gnade und Auserwähltheit begriffen werden und motivieren. Dass die Arbeit in Sportgames nicht Reinigung oder Dienst, sondern Wettkampf ist, wissen manche christlichen Gamer mit Paulus‘ sportlicher Metapher des Gewinnens einer unvergänglichen Krone zu rechtfertigen (1. Korintherbrief 9,24–27).[19]
Durchführung
Die Lehrperson fragt die Klasse, wer die Fussballsimulation FIFA spielt. Die FIFA-Kennerinnen und -Kenner sollen das Spiel den anderen vorstellen, alternativ kann ein Testvideo[20] gezeigt werden. Es werden drei Gruppen gebildet, die FIFA-Kennerinnen sollten unter allen Gruppen vertreten sein. Sollte die Klasse zu wenige FIFA-Kenner haben, wird auf Gamer anderer Fussballsimulationen oder Sportspiele zurückgegriffen. Die Lehrperson verteilt jeder Gruppe einen zu lesenden Text über Belohnungen in FIFA 17 (MB5). Bei Bedarf erklären die FIFA-/Sportspiel-Kennerinnen den Nicht-Kennern die Inhalte. Dann stellt jede Gruppe den anderen ihren Text vor. Im Plenum wird diskutiert, worum es in diesen drei Texten geht. Die Klasse stellt fest, dass es in Sportspielen wie FIFA 17 auch um diverse Formen von Belohnung geht. Welche Belohnungen sind typisch für den Sport, welche sind typisch für Computerspiele? Welche anderen Belohnungen gibt es noch in FIFA 17 und in anderen Sportspielen? Alle Formen der Belohnung werden gesammelt und geordnet. Hierzu kann das beigelegte Arbeitsblatt (AB2) verwendet werden.
Die Lehrperson fragt die Klasse, ob es auch in der Religion um Belohnung geht. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich in Gruppen oder im Plenum mit der Frage auseinander, ob und wie Gläubige belohnt werden für ihren Glauben oder ihre religiöse Lebensweise.
Dann lesen die Schülerinnen und Schüler einen kritischen Text, der Religion und Computerspiele aufgrund ihrer «virtuellen» Belohnungen in denselben Topf wirft (MB6). Diese Gleichsetzung soll näher untersucht werden: Funktionieren Belohnungen in Games und in der Religion wirklich gleich? Die Schülerinnen und Schüler erinnern sich an die herausgearbeiteten Belohnungsformen im Fall der Games: Es lassen sich zumindest ein grosser Sieg in einem Match oder Cup und kleinere Belohnungen auf dem Weg zum Ziel (Erfahrungspunkte, Achievements, Score, Feedbacks) unterschieden. Diese Zweiteilung lässt sich für die Religion prüfen. Während viele beim «grossen Ziel» übereinstimmen – die Erlösung und das ewige Leben – gehen die Vorstellungen bei den «kleineren Belohnungen» auseinander, wie sich anhand zweier Texte ersehen lässt.[21] Diese Texte werden gelesen und kritisch diskutiert – wie stehen die Schülerinnen und Schüler dazu?
Abschliessend wird die Belohnung im Zusammenhang mit Gewinnen und Verlieren reflektiert. In Games – wie häufig auch in der Welt – wird belohnt, wer erfolgreich ist. Wie funktioniert das in der Religion? Zu diesem Zweck wird das Browser-Spiel Run, Jesus, Run: aka the 10 second gospel[22] gespielt, mit der Aufgabe herauszufinden, was Gewinnen in diesem Fall bedeutet – nämlich das Verlieren des Lebens von Jesus durch die Kreuzigung. Die Belohnung geht also nicht mit Gewinnen, sondern mit dem ultimativen Verlieren einher. Doch auch das «kleine Verlieren» bereits im Leben ist zu beachten, wie viele Geschichten von Menschen bezeugen, die Ruhm, Reichtum, Macht oder sogar Familie aufgegeben haben, um Jesus nachzufolgen. Die Schülerinnen und Schüler überlegen sich, was Verlieren in ihrem Leben bedeuten könnte, um mehr Lebensqualität, Freiheit, und Zufriedenheit zu gewinnen.
4. Open-World-Spiele und Willensfreiheit
Sachanalyse
Open-World-Games wie die beliebte und berüchtigte Spielreihe Grand Theft Auto (GTA) stehen für das Versprechen, in einer Welt der schier unbegrenzten Möglichkeiten völlig frei handeln und damit die eigene Geschichte erzählen zu können. In GTA 5 beispielsweise wechseln die Spielenden zwischen drei kriminellen Protagonisten, die sich zusammenschliessen, um durch eine Reihe von Überfällen reich zu werden. Diese Hauptstoryline können die Spielenden verfolgen, müssen aber nicht. Die Gamer können auch einfach die Stadt Los Santos und ihr Umland erkunden und entdecken: durch die Stadt fahren, einen Ausflug in die Berge machen, das Kino oder eine Striptease-Bar besuchen, durch Aktiengeschäfte reich werden und Wohnungen und Autos kaufen, sich in Golf, Tennis und Yoga üben, aber auch wahllos Menschen überfahren, Autos stehlen und Strassenunfälle verursachen.
Mehrmals haben Beobachter und Designer auf die Parallelen von Computerspielen und dem jüdisch-christlichen Kosmos hingewiesen: Ein Schöpfer/Programmierer entwirft eine Welt, in welcher der Mensch sowohl gewissen Regeln unterworfen ist, als auch gewisse Freiheiten geniesst, um einem Ziel entgegen zu streben. Das Verhältnis von Determinismus und Indeterminismus – oder von Prädestination und Willensfreiheit – hängt dabei stark vom Genre ab: Die «Schlauchlevels» eines Ego-Shooters oder die vordefinierten Pfade von vielen Abenteuerspielen und Jump-and-Runs vermitteln ein stark deterministisches Weltbild, das keinen oder nur bedingt einen freien Willen zulässt. Theologisch entspricht dies der calvinistischen Prädestination: der Spielende muss mit seinem Avatar den Weg gehen, den der Schöpfer/Programmierer für ihn vorsieht, um das ebenfalls im Voraus festgelegte Ziel zu erreichen – sei es nun gut oder schlecht. Bei Aufbau- und Open-World-Games hingegen erscheinen viele Ereignisse zufällig, da sie den Spielenden viel Freiraum in Bewegung und Interaktion mit der Welt lassen. Diese Genres sprechen eher für den Indeterminismus und die Willensfreiheit bzw. für die katholisch-theologische Handlungsfreiheit: Der Schöpfer/Programmierer stellt die Welt zur Verfügung und legt die Regeln fest. Darüber hinaus bietet er ein grosses Spektrum an Aktivitäten, Stories und Zielen an – aber er zwingt niemanden, diese anzunehmen. Die Spielenden sind zwar den Regeln der Welt unterworfen, aber was sie in der Welt tun, steht ihnen frei.
In Bezug auf die Theologie lässt sich generell sagen: Je stärker von einem theologischen Determinismus ausgegangen wird – Gott bestimmt unser Wollen und Handeln –, desto bedeutungsvoller und sinnvoller erscheint die Welt, desto weniger kann der Mensch an seiner Erlösung mitwirken, und desto eher ist Gott selbst, und nicht die Menschen, für das Böse in der Welt verantwortlich (Theodizee-Problem). Bezogen auf Open-World-Spiele generell und GTA 5 im Besonderen ist beides zu beobachten: Einerseits ist GTA 5 ein Plädoyer für die Willensfreiheit, insofern die Spielenden ihre Neigungen und Motivationen im Rahmen der Stadtsimulation virtuell ausleben können. Andererseits enthält GTA 5 auch einen «Plan» für die Spielenden: die Hauptstory. Je mehr die Spielenden sich von dieser angebotenen Erzählung führen lassen, desto interessanter und bedeutungsvoller erscheint die Welt. Denn die Story verbindet viele der Spielkomponenten in einem übergeordneten Sinnzusammenhang. Wer jedoch Los Santos auf eigene Faust erkunden möchte, muss eigene Geschichten und damit eigenen Sinn in der virtuellen Welt finden, damit das Spiel nicht bald langweilig oder leer erscheint. Damit sprechen Open-World-Spiele wie GTA 5 für eine Art von Kompatibilismus in der Frage nach dem Verhältnis von Willensfreiheit und Determinismus: Freies Erkunden – oder Willensfreiheit – hat in diesen Welten genauso seinen Platz wie der festgelegte Storypfad, der einen übergeordneten Sinn ins Spiel bringt. Dennoch stehen Freiheit und Erzählung in einem Spannungsverhältnis, da beides zwar in derselben Welt, aber nicht gleichzeitig sein kann.
Durchführung
Die Klasse liest einen Auszug aus einem Blog von Computerspielforscher David Thomas (MB7) über die Parallelen von Computerspielen und Theologie. Gemeinsam werden grundsätzliche Fragen beantwortet: worum geht es in dem Text, welches Thema wird angesprochen? Die Lehrperson lenkt die Aufmerksamkeit auf die Willensfreiheit. Die Klasse diskutiert, ob man in Games eher viel oder eher wenig Freiheit hat.
Die Lehrperson kündigt an, die Frage nach der Willensfreiheit in denjenigen Games genauer zu untersuchen, die für ihr Freiheitsversprechen bekannt sind: die Open-World-Games. Zunächst wird bestimmt, was Open-World-Spiele überhaupt sind. Einige der Schülerinnen und Schüler werden sich hier gut auskennen, andere hingegen nicht. Als gemeinsame Grundlage wird eine Definition gelesen (MB8). Die Schülerinnen und Schüler tragen einige Beispiele zusammen. Die weitere Diskussion wird auf Open-World-Spiele generell bezogen, aber die Experten in der Klasse können jeweils Beispiele aus «ihren» Open-World-Spielen beisteuern.
Um die Frage zu erörtern, wie viel Freiheit Open-World-Spiele bieten, lesen die Schülerinnen und Schüler in Gruppen einen eher wohlwollenden (MB9) und einen eher kritischen (MB10) Text. Dabei überlegen sie, ob und inwiefern diese Spiele das Versprechen nach grenzenloser Freiheit halten können. Die Gruppen teilen ihre Einsichten dem Plenum mit. Als Erkenntnis kann festgehalten werden, dass offene Spielwelten weitgehende Freiheit bieten, die aber ständig durch eine durchschaubare Spielstruktur und durch Ereignislosigkeit herausgefordert wird. Missionen, Schätze und Erzählungen bringen Spannung, versuchen aber die Gamer zu lenken und schränken damit die Freiheit ein.
Die Schülerinnen und Schüler versuchen ihre Einsichten über die Freiheit in Open-World-Spielen in den philosophischen oder theologischen Positionen über die Willensfreiheit wiederzufinden. Dazu wird zunächst in das Thema von Determinismus vs. Indeterminismus eingeführt: In Gruppen erarbeiten die Schülerinnen und Schüler anhand von Texten die wichtigsten philosophischen[23] und/oder theologischen[24] Positionen und überlegen sich, welche dieser Positionen die Freiheit in Open-World-Spielen am besten widerspiegelt und weshalb.
Abschliessend wird im Plenum der Frage nachgegangen, ob die Welt tatsächlich wie Open-World-Spiele funktioniert, und welche Rolle Gott darin spielen könnte: haben wir wirklich Willensfreiheit? Und hört diese auf, wenn Gott (als Spieler) uns (als Spielfiguren) durch ein vorgefertigtes Erlebnis führt, oder bietet er nur optionale Stories? Ist eine Welt, die keine übergeordnete Story bietet, dennoch sinnvoll?
Zusatzmaterial
Literatur
Anmerkungen
Wiemken, Jens (2008): Computerspiele und Gewalt – Unterrichtsideen zum Jugendschutz. Unterrichtseinheit mit didaktischen Materialien, www.verbraucherbildung.de/
Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk und Neue Medien (Hrsg.) (2012): Modul (Ethik/Identität M3): Killerspiele? in: DVD «Digitale Spielwelten». Computer- und Videospiele als Unterrichtsthema, 2. Auflage.
Das Evangelium nach Michael. Amerikanische Christen um Mike Pence, www.deutschlandfunk.de/