Theatrales Philosophieren in Bildungsprozessen


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Theatrales Philosophieren in Bildungsprozessen

Einführung in ein unkonventionelles Verfahren der Arbeit mit philosophischen Texten

In Ergänzung zu diskursiven Verfahren sind präsentativ-künstlerische Verfahren wie das theatrale Philosophieren geeignet, komplexe Begriffe und Argumente synchron, komprimiert und anschaulich zu artikulieren. Der vorliegende Beitrag erläutert die Grundzüge der Didaktik des theatralen Philosophierens.
Von Christian Gefert

Das theatrale Philosophieren ist ein unkonventionelles Verfahren zur Arbeit an und mit philosophischen Texten.[1] Der Prozess des Philosophierens über die Bedeutung eines solchen Textes wird hierbei nicht rein verbal-kognitiv aufgefasst. Vielmehr wird beim Philosophieren auch die performative Ausdrucksfähigkeit des Menschen einbezogen. Das theatrale Philosophieren ermöglicht die Suche nach einer angemessenen präsentativ-theatralen Ausdrucksform für die Interpretation eines Textes, d. h. die Deutung eines philosophischen Textes in prägnanten Körperbildern. Theoretisch begründet wird diese Form der philosophischen Arbeit am Text u. a. mit der symboltheoretischen Grundannahme[2], dass sich die rationale Ausdrucksfähigkeit des Menschen nicht nur in seinen diskursiven Fähigkeiten zeigt: Der menschliche Geist äussert sich vielmehr seit jeher nicht nur mit Argumenten, er äussert sich beispielsweise auch in Form religiöser Symbolik, musikalischen Ausdruck oder eben auch theatral-performativ. Diese präsentativ rationalen Ausdrucksformen werden beim theatralen Philosophieren in die Gestaltung philosophischer Bildungsprozesse einbezogen, um den Philosophierenden zu ermöglichen, Vorstellungen nicht nur diskursiv zu äussern. In diesem Zusammenhang lohnt es sich die Vor- und Nachteile einer Äusserung in präsentativer oder diskursiver Form einmal grundsätzlich vor Augen zu führen.

Diskursive und präsentative Formen[3]

Aufgrund der Tatsache, dass in Diskursen die gleichen Vorstellungen mit verschiedenen Worten und damit auf verschiedene Weise zum Ausdruck gebracht werden, sind in dieser Ausdrucksweise gegenseitige Definitionen möglich. Diskurse bieten deshalb den grossen Vorteil, die Relevanz von Ideen intersubjektiv prüfen zu können. Diskurse erlauben es jedoch nur, eine nicht zu subtil strukturierte Idee zum Ausdruck zu bringen, die lediglich wenige aufeinander bezogene Teilbestimmungen enthält. Bedeutungseinheiten werden nämlich im Diskurs gleichsam wie Wäschestücke auf einer Leine nacheinander dargeboten und dann zu einem «Sinn» zusammengezogen. Eine Diskursivierung von Ideen scheitert jedoch immer dann, wenn es notwendig wird, Gedanken zum Ausdruck zu bringen, die sich aufgrund ihrer Komplexität einer sprachlichen Projektion widersetzen, d. h. – um im Bild zu bleiben – wenn zu viele Wäschestücke hintereinander auf eine nicht ausreichend lange Wäscheleine gehängt werden sollen.

Dieser Nachteil hat häufig ganz praktische Konsequenzen für die Gestaltung philosophischer Bildungsprozesse, denn dort werden vorrangig Begriffe behandelt, die aufgrund ihrer abstrakten Bedeutung ausserordentlich komplexe Assoziationen hervorrufen – denn wer kann beispielsweise seine vielfältigen Vorstellungen über den Tod hinreichend in eigenen Worten innerhalb einer Diskussion zum Ausdruck bringen? Gerade beim Philosophieren über komplexe Begriffe ist es deshalb hilfreich, sich auch präsentativ-künstlerischer Ausdrucksformen zu bedienen. Dies geschieht am produktivsten immer dann, wenn eine komplexe Bedeutung artikuliert werden soll, die nicht nach Massgabe der Diskursivität begrenzt werden kann, d. h. etwa nach Massgabe dessen, was eine Person vom Beginn bis zum Ende eines Auffassungsaktes behalten kann, wenn sie jemandem zuhört. Die Arbeit mit präsentativen Ausdrucksformen erlaubt eine synchrone und komprimierte Artikulation komplexer Ideen – sie ermöglicht es also einen «Sinn» gleichsam wie Wäschestücke nicht hintereinander aufgereiht, sondern übereinander bzw. gleichzeitig darzubieten. Ausserdem ermöglichen präsentative Ausdrucksformen – im Gegensatz zur abstrahierenden Funktion des Diskurses – die konkrete Präsentation von Einzeldingen. Dieser Vorteil lässt sich beim Philosophieren immer dann nutzen, wenn abstrakte Begriffe in einem konkreten Kontext betrachtet werden sollen. Beispielsweise wäre dies fruchtbar, wenn über den abstrakten Begriff Liebe philosophiert wird. Hier eignet sich der präsentative Ausdruck beispielsweise dazu, eine philosophische Deutung des platonischen Verständnisses von Liebe auf der Basis einer Lektüre – etwa eines Textauszugs aus Platons Symposion[4] – in einem konkreten Kontext zum Ausdruck zu bringen und zu erproben. Dies ist beispielsweise möglich, indem Philosophierende ihre Lesart des platonischen Liebesverständnisses in einer ihnen vertrauten Alltagssituation sichtbar werden lassen – beispielsweise in Form eines inszenierten Gesprächs zwischen zwei konkreten Personen. Die Anschaulichkeit einer solchen Liebesszene schafft dabei immer einen konkreten Kontext für einen abstrakten Begriff, über den dann wiederum diskutiert werden kann.

Ein solches Wechselspiel zwischen diskursiven und präsentativen Ausdrucksformen lässt sich produktiv für den die Gestaltung philosophischer Bildungsprozesse nutzen, um immer prägnantere rationale Formen der Interpretation eines Textes zu entwickeln.

Der Arbeitsprozess beim theatralen Philosophieren

Der Arbeitsprozess beim theatralen Philosophieren besteht aus vier Phasen. Zusammenfassend lassen sich diese Phasen beispielsweise für das Setting von schulischem Philosophieunterricht folgendermassen charakterisieren:

Die Argumentationsphase:

Lehrer*innen und Schüler*innen führen ein Gespräch über einen philosophischen Text. Sie erörtern dabei die Bedeutung verschiedener Begriffe oder Argumente aus dem Text. Sie entscheiden sich für besonders relevante Begriffe oder Argumente, deren Bedeutung im Folgenden theatral artikuliert und möglichst weit reichend gedeutet werden sollen.

Die Vorbereitungsphase:

Die Lehrperson wählt Übungen zur Vorbereitung und Durchführung des Arbeitsprozesses mit theatralen Formen zu diesen Begriffen oder Argumenten aus. Sie sensibilisiert die Schüler*innen durch die Realisierung dieser Übungen für den Arbeitsprozess mit theatralen Formen.

Die Erprobungsphase:

Die Schüler*innen erproben und präzisieren unter Anleitung der Lehrperson eigene theatrale Ausdrucksformen, mit denen sie ihre eigenen Deutungen der relevanten Begriffe oder Argumente des Textes artikulieren.

Die Reflexionsphase:

Im Gespräch wird herausgearbeitet, welches szenische Material für eine gemeinsame präsentativ-theatrale Deutung des Textes angemessen ist und weiterentwickelt werden soll.

Der philosophische Bildungsprozess innerhalb eines Projekts gestaltet sich beim theatralen Philosophieren in drei Stufen und mündet in eine Performance, im Rahmen derer die Arbeitsergebnisse des Projekts präsentiert werden.

Die erste Stufe: Diskurs und präsentatives Material

Seinen Ausgangspunkt nimmt der Arbeitsprozess in der Lektüre und Diskussion eines philosophischen Textes. Die Schüler*innen lesen diesen Text abschnittsweise. Sie eröffnen dabei die diskursiv-argumentative Bedeutung des Textes, indem sie über ihn sprechen. Gleichzeitig bringen sie produziertes oder rezipiertes präsentatives Material (z. B. Bilder, Filmausschnitte oder Musikstücke) in den Bildungsprozess ein, das die Bedeutung einzelner Begriffe, Argumente oder der Gesamtbedeutung des philosophischen Textes angemessen ausdrückt. Dieses präsentative Material wird als «Materialfundus» gesammelt und als Impuls für die Gestaltung eigener szenischer Deutungen des Textes genutzt. So kann z. B. die Rezeption eines passenden Filmausschnitts die Situation für eine theatrale Improvisation in der Erprobungsphase bestimmen. Es können ferner

  • selbst verfasste Dialoge oder Bewegungschoreographien,
  • Fragmente aus fremden dramatischen und anderen Texten,
  • Musikstücke,
  • Filmausschnitte,
  • Bilder oder Fotografien,
  • Gegenstände (Requisiten) oder
  • Kleidungsstücke als präsentatives Material bzw. als Impuls für eine szenische Improvisation dienen.

Die Schüler*innen werden so motiviert, ihre Ideen zur Interpretation eines philosophischen Textes nicht nur diskursiv, sondern auch in angemessenen präsentativen Ausdrucksformen zu verkörpern. Durch diese Äusserungen über den Text entsteht ein Fundus performativen Materials. Er entsteht durch Improvisationen mit unterschiedlichen Bezügen zum philosophischen Text, so zum Beispiel durch die Arbeit

  • an einer im Text genannten Rahmensituation;
  • an konkreten Situationen, die im Text oder in der Diskussion über den Text zur Konkretion abstrakter Begriffe oder Argumente als Beispiele genannt werden;
  • an Sprachspielen mit dem philosophischen Text, die sich in der offenen Improvisation zu einer konkreten Situation verdichten;
  • an Argumenten oder Begriffen aus dem philosophischen Text als Grundlage für «sprachlose» Bewegungsimprovisationen, in denen die Beteiligten selbstständig Situationen konturieren;
  • an Situationen, die aufgrund der Anregungen durch präsentatives Material entstanden sind, das die Schüler*innen in den Bildungsprozess einbringen, um ihre Vorstellungen über die Bedeutung des philosophischen Textes zum Ausdruck zu bringen.

Die zweite Stufe: Kernszenen und das dramatische Gesamtkonzept

Ist eine Materialsammlung entstanden, kann die zweite Entwicklungsstufe innerhalb eines Projekts beschritten werden. Diese Entwicklungsstufe hat zum Ziel, Kernszenen aus dem bisher gesammelten und erprobten szenischen Material zu isolieren. Kernszenen sind erprobte Szenen, deren Form die am Projekt Beteiligten intersubjektiv für angemessen halten, um die Bedeutung von (Teil-)Aspekten des philosophischen Textes zum Ausdruck zu bringen. Der Massstab für die Angemessenheit einer präsentativen Ausdrucksform ist ihr intersubjektiv nachvollziehbarer Bezug zum philosophischen Text: Nur das szenische Material kann eine Kernszene und damit im weiteren Verlauf des Projekts auch Bestandteil der Performance werden, das für die am Projekt Beteiligten nachvollziehbar eine prägnante Deutung des philosophischen Textes darstellt. Die gemeinsame Prüfung des szenischen Materials in Hinblick auf dieses Kriterium wird dabei von den theatral Philosophierenden im Rahmen der Reflexionsphase geleistet.

Doch nicht nur die Suche nach Kernszenen kennzeichnet die zweite Entwicklungsstufe eines Projekts: Die Reflexionsphase dient darüber hinaus auch dem Ziel, ein dramatisches Gesamtkonzept einer Performance zu entwickeln, um so die unterschiedlichen Kernszenen zu verbinden und ein möglichst breites Deutungsspektrum des Textes zu erarbeiten. Der Weg zur Erarbeitung eines solchen Konzepts kann dabei durchaus unterschiedlich verlaufen. Eine Idee für ein dramatisches Gesamtkonzept zu entwickeln, kann heissen, einzelne oder alle bisher erarbeiteten Kernszenen in einem «Plot» zu ordnen. Die einzelnen Szenen können jedoch auch der Dramaturgie des philosophischen Textes folgen, d. h. chronologisch nach dem Auftreten bestimmter Begriffe oder Argumente in diesem Text geordnet werden und ansonsten nicht enger durch einen «Handlungsstrang» verbunden sein.

Die dritte Stufe eines Projekts – Die Entwicklung einer prägnanten Präsentation des philosophischen Textes

Das szenische Material muss nun immer prägnanter gestaltet werden. Die Ausgestaltung von Kernszenen und des dramatischen Gesamtkonzepts führt auf der dritten Entwicklungsstufe eines Projekts zur Entwicklung einer präsentablen bzw. prägnanten Form. Neben der rein technischen Erprobung angemessener Szenen steht dabei immer wieder eine gemeinsame Prüfung der Angemessenheit des erarbeiteten szenischen Materials im Mittelpunkt. Im Rahmen dieser Prüfung muss bis zur Aufführung geklärt werden, ob es eine ästhetisch klare, theatral-präsentative Artikulationsform für die Bedeutung des Textes darstellt. Die theatral Philosophierenden müssen also immer wieder prüfen, ob eine intersubjektiv nachvollziehbare Verbindung zwischen dem szenischen Material und der im Bildungsprozess erarbeiteten Lesart des Textes, d. h. seiner Begriffe und Argumente besteht.

Der Abschluss: Die Performance

Ein Projekt beim theatralen Philosophieren endet mit einer Performance. Sie ist integraler Bestandteil des Bildungsprozesses, weil sich in ihr das Spektrum der gemeinsamen Deutung eines philosophischen Textes manifestiert. Art und Umfang der Realisierung einer solchen Performance sind jedoch in hohem Masse abhängig von den vorhandenen zeitlichen, räumlichen und materiellen Bedingungen bzw. Kapazitäten der an einem Projekt Beteiligten: Eine Performance kann in der Klasse oder im Kurs bzw. schulöffentlich einmalig oder in einer Folge von Aufführungen gezeigt werden. Unterschiedliche Arbeitsprozesse am selben philosophischen Text können dabei mit unterschiedlichen Gruppen zu ganz unterschiedlichen und gleichwertigen Ergebnissen führen.

Sichtbares Denken

Beim theatralen Philosophieren aktualisieren Schüler*innen (und Lehrer*innen) die Bedeutung eines philosophischen Textes in der konkreten Bildungssituation immer wieder neu. Doch auch wenn die konkrete Form einer Performance deshalb keine planbare Grösse darstellt, ist sie dennoch ein unverzichtbarer Bestandteil eines Projekts, weil sie die Erkenntnisinteressen der theatral Philosophierenden in einem gemeinsamen Arbeitsprozess bündelt. Dieser gemeinsame Prozess ermöglicht Schülern*innen (und Lehrer*innen) im Unterricht einen intensiven Austausch über Deutungsperspektiven auf den Text. Durch das Theaterspielen am Text konkretisieren Schüler*innen die abstrakte Bedeutung des Textes. Die spielerische Entwicklung einer Performance macht ihr Denken nach und nach sichtbar. Sie können so oftmals mehr und anderes ausdrücken, als es ihnen die blosse Teilnahme am Gespräch über den Text ermöglicht hätte.

Anmerkungen

[1] Vgl. grundlegend Gefert, Christian (2002): Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchungen zum Zusammenspiel argumentativ-diskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in philosophischen Bildungsprozessen. Dresden: Thelem.

[2] Cassirer, Ernst (1923–1929): Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., 1. Auflage. Berlin: Bruno Cassirer.

[3] Vgl. zu diesem Abschnitt Langer, Susanne K. (1979): Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, 2. Auflage, Mittenwald: Mäander.

[4] Platon (2012): Symposion, 2., durchgesehene Auflage. Hamburg: Meiner.

Artikelnachweis

Gefert, Christian (2023). Theatrales Philosophieren in Bildungsprozessen, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), https://www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/theatrales-philosophieren-in-bildungsprozessen


Über Christian Gefert

Dr. phil. Christian Gefert übt Regie- und Lehrtätigkeit in unterschiedlichen Performance- und Bildungsprojekten zur Philosophie aus und ist gegenwärtig als Schulleiter tätig.