Wenn du jemand anders wärst … – Rollenspiele im religionskundlichen und ethischen Lernen im Zyklus 1
Einleitung
Spielen ist für Kinder im ersten Zyklus eine der zentralen Lernformen (vgl. Wustmann Seiler, Rüdisüli & von Felten 2022). In diesem Artikel werden die Besonderheiten des Rollenspiels für das Lernen im religionskundlichen und ethischen Unterricht im Zyklus 1 thematisiert. Insbesondere stellt sich die Frage, wie das Rollenspiel Schüler:innen dabei unterstützen kann, verschiedene Perspektiven einzunehmen und über ethische Fragen nachzudenken beziehungsweise über verschiedene religiöse und kulturelle Traditionen zu lernen.
Nach einer Einführung zu Merkmalen und Bedeutung von Rollenspielen im ersten Zyklus werden Unterrichtsbeispiele diskutiert, die in zwei Kindergartenklassen erprobt wurden.[1] Beim ersten Beispiel stehen im religionskundlichen Unterricht (NMG.12) allgemein Feste und im Besonderen Traditionen des Ramadans im Zentrum. Beim zweiten Unterrichtsbeispiel denken Schüler:innen im Ethikunterricht (NMG.11) mit Hilfe eines Bilderbuchs über Verteilgerechtigkeit nach.
Das Rollenspiel im ersten Zyklus
Rollenspiele, szenische Handlungen, Als-Ob-Spiele in Fantasie- und realen Welten, mit zugewiesenen Rollen oder frei improvisierend, mit Requisiten oder ohne werden von Kindern im Alter von 4 bis 8 Jahren in vielen Varianten gespielt. Im 1. Zyklus und besonders im Kindergarten überschneiden und ergänzen sich die vielfältigen Formen, mit denen Kinder sich im reichhaltigen Spektrum des «ontological commitments» (Bunce & Wooley 2021, 1) spielend in der Welt orientieren. Wir verstehen deshalb den Begriff Rollenspiel im Folgenden nicht eng abgegrenzt, sondern interessieren uns für die weite Spanne an interaktiven und performativen Spielen, bei denen die Kinder eine oder auch mehrere Rollen verkörpern, aus denen heraus sie mit vorhandenen (oder auch nicht vorhandenen) Personen oder Wesen mit und ohne Materialien Geschichten und Handlungen nachspielen, kreieren oder entwickeln. Die Handlungen können real oder fiktiv sein und werden mit verbaler und/oder nonverbaler Kommunikation inszeniert (Weisshaupt, Hildebrandt & Leonhard 2019, 3). Auch das Spiel mit Puppenfiguren wird in diesem Sinne als eine Form des Rollenspiels verstanden.
In der Deutschschweizer Kindergartenpraxis wird oftmals zwischen dem Grossen und Kleinen Rollenspiel als zwei Formen des Rollenspiels im Freispiel unterschieden. Diese Unterscheidung wird im Folgenden auch für die Diskussion der Unterrichtsbeispiele verwendet. Im Grossen Rollenspiel steht den Schüler:innen im Kindergarten Raum zu Verfügung, wo sie mit unterschiedlichen Materialien und Gegenständen ihren Ideen für Rollenspiele nachgehen können. Das Kleine Rollenspiel ist das Spiel mit Puppen oder Spielfiguren im Spielhaus oder anderen inszenierten Spielumgebungen (wie z. B. einem Tischtheater). In diesem Setting kann neben dem interaktiven Spiel auch parallel oder alleine mit verschiedenen Figuren gespielt werden. Das Rollenspiel bietet den Schüler:innen die Möglichkeit, eigene Vorstellungen und Ideen einzubringen und fantastische oder realistische Szenarien zu entwickeln. Da die Kinder den Spielfluss steuern und gleichzeitig ihre jeweilige Rolle im Spielkontext aufrechterhalten, sind Rollenspiele auch ein ausgezeichnetes Übungsfeld für die Metakommunikation (Weisshaupt, Hildebrandt & Leonhard 2019, 4). Dass das Rollenspiel als Bestandteil der kindlichen Entwicklung soziale, emotionale, kognitive, ästhetische und sprachliche Fähigkeiten fördert, ist in verschiedenen empirischen Studien belegt (vgl. Hildebrandt et al. 2016, Felder et al. 2019). Dabei können Rollenspiele neben dem überfachlichen Lernen auch für das fachliche Lernen (z. B. Lese- und Schreibfähigkeit, Mathematik oder eben auch ERG) wirksam werden (Pyle et al. 2020, 53).
Welche Rolle die Lehrperson in der Spielaktivität einnimmt, wie stark und in welcher Weise sie an den Spielhandlungen beteiligt ist oder diese beeinflusst, ist sehr unterschiedlich und kann von der Beobachter:in oder Mitspieler:in bis hin zur Requisiteur:in oder Regisseur:in reichen. Die Lehrperson bestimmt den Rahmen, in dem sich das Spiel der Kinder entfalten kann: In freieren Formen stellt sie die Materialien und Requisiten, den Raum und seine Ausstattung zur Verfügung und überlässt die Ausgestaltung den Kindern. Bei engeren, geführten Formen definiert sie Rollen und Szenarios oder gibt den Plot und/oder Dialoge vor, welche nachgespielt werden.
Unterrichtsbeispiel religionskundliches Lernen: Feste und Ramadan
Die Schüler:innen eines städtischen Kindergartens beschäftigen sich während einiger Wochen mit dem Thema Feste.[2] Dabei erkunden sie die Vielfalt religiöser und nicht religiöser, gesellschaftlicher und familiärer Festtraditionen. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Fastenmonat Ramadan, der zu dieser Zeit gerade stattfindet. Festtraditionen sind für die Kinder des Zyklus 1 von besonderem Interesse und weisen einen hohen Lebensweltbezug auf (Adamina et al. 2018, 319).
Freispielangebot und geführtes Grosses Rollenspiel: Ein Fest feiern
Ein inhaltlicher Schwerpunkt des Unterrichts ist das Kennenlernen und Erkunden von Elementen, die ein Fest ausmachen. Dabei liegt der Fokus bewusst auf allgemeinen (universellen) Merkmalen eines Festes, die nicht mit einer bestimmten religiösen Tradition verknüpft sind. Als Spielimpuls entwickelt und spielt die Lehrperson gemeinsam mit den Kindern ein mögliches Szenario für ein Fest in einer geführten Sequenz: Tisch decken und festlich schmücken, Einladungskarten schreiben, ein Festessen planen und kochen, Gäste empfangen, usw. Das freie Rollenspiel bietet den Kindern die Möglichkeit, eigenständig ein Fest zu wählen, verschiedene Rollen auszuprobieren und in den verschiedenen Rollen eigene Geschichten und Handlungssequenzen mit den angebotenen Materialien weiterzuentwickeln. Der als Wohnung eingerichtete Freispielbereich wird ergänzt mit Objekten, welche zu einem Fest gehören können, wie Tischtuch, Konfetti, schönes Geschirr, Servietten, Tischschmuck, Kerzenständer, Blumenvase und Blumen. Papier und Stifte liegen bereit, um Fest-Einladungen zu verfassen. Spielbegleitend oder in gemeinsamen Gesprächen im Anschluss an die freien Spielzeiten nimmt die Lehrperson das im Spiel Erlebte auf.
Einblicke in den Unterricht:
Die Kinder organisieren sich im Freispiel eigenständig und handeln in unterschiedlichen Rollen: Beim Geburtstagsfest gibt es ein Geburtstagskind, Mutter, Vater und eine Katze. Aus dem geführten Unterricht wissen die Kinder, was zu einem Fest gehört: Sie kleiden sich festlich, schmücken den Tisch und dekorieren den Raum. Im Spielofen wird ein Geburtstagskuchen gebacken und für diesen besonderen Anlass darf auch ein Krug mit Wasser auf den Tisch. Weil sie eine Krone im Verkleidungsfundus finden, wird aus dem Kuchen spontan der Dreikönigskuchen und ein König wird auserkoren. Weil die Schüler:innen gelernt haben, wie man Einladungen gestaltet, nutzen sie dies eifrig und laden Gäste ein. Die Katze wird zum Postboten, um einem Kind, das gerade mit einem Puzzle beschäftigt ist, die Einladungskarte zu überbringen. Die Einladung wird gerne angenommen und für eine kurze Zeit schlüpft auch dieses Kind in eine Rolle und ist Teil des Spiels, bis es wieder zurückkehrt zu seinem Puzzle.

Im Freispielangebot erkunden die Schüler:innen Merkmale eines Festes.
Freispielangebot Kleines Rollenspiel: Ramadan
Das Angebot im Kleinen Rollenspiel mit Spielfiguren im Spielhaus hat das Ziel, fachliche Inhalte zu vertiefen und die Besonderheiten des Ramadans aus der Erzählung der Lehrperson nachzustellen. Als Spielimpuls erzählt die Lehrperson mit Hilfe eines Kamishibai die Geschichte von Betül, die ihrer Kindergartenfreundin Nele ihre Tradition des Ramadans zeigt (Biricik und Kamcili-Yildiz 2015). Dabei macht die Lehrperson auch die Lernziele transparent: «Ihr lernt einige Besonderheiten des Ramadans kennen, so wie Nele aus dem Bilderbuch durch ihren Besuch bei Betül.» Sie weist dabei auch auf die Vielfalt hin: «Manche muslimische Kinder feiern Ramadan wie Betül, manche etwas anders und wieder andere feiern den Ramadan gar nicht.»
Beim Spielhaus im Freispielangebot ergänzt die Lehrperson Materialien, mit denen die Kinder selbständig das Gelernte zum Ramadan vertiefen. Beispielsweise wird eine Sonne oder ein Mond an einem Haken neben dem Spielhaus aufgehängt. Im Spielhaus gibt es zwei Wohnungen mit zwei Familien, damit die Geschichte von Betül und Nele aufgegriffen werden kann.
Einblicke in den Unterricht:
Die Kinder spielen auf den zwei Stockwerken des Hauses verschiedene Elemente des Ramadans aus der Bilderbuchgeschichte nach. Dabei wird neben Raum und Rollen besonders der Zeitaspekt wichtig. Sie haben durch die Geschichte gelernt oder wissen aus eigener Erfahrung, dass bei Sonnenaufgang das Fasten beginnt. Daher nutzen sie die Spielsonne und den Mond, um die Tageszeiten zu bestimmen. Beim Spielen nehmen sie verschiedene Rollen ein und feiern mit allen Hausbewohner:innen das muslimische Fest des Fastenbrechens. Die Spielfiguren essen, trinken und beschenken sich gegenseitig.

Wenn der Mond über dem Puppenhaus steht, versammeln sich die Spielhausbewohner:innen zum Fastenbrechen.
Unterrichtsbeispiel ethisches Lernen: Philosophieren zu Verteilgerechtigkeit
Die Kinder im zweiten Jahr eines Kindergartens beschäftigen sich über drei Lektionen damit, was Teilen bedeutet. Auch wenn die Schüler:innen im Kindergarten schon erstaunlich komplexe Vorstellungen zu Gerechtigkeit im Einzelfall haben, favorisieren sie, wie viele Kinder ihres Alters, das «Prinzip der Gleichverteilung». Gerecht ist für sie, wenn alle gleich viel haben (vgl. Schauenberg, 2018). Ziel des Unterrichts ist, dass die Kinder die Komplexität und Vielfalt von Gerechtigkeitsvorstellungen erst einmal wahrnehmen, um dann über das Argumentieren zu weiteren Lösungen für das Teilen zu gelangen. Als Grundlage dient das Bilderbuch «Zwei für mich, einer für dich» (Mühle 2018). In der Geschichte haben die beiden Freunde Bär und Wiesel drei Pilze gesammelt und gebraten und streiten nun am Tisch, wie sie diese unter sich aufteilen.
In einer früheren Lektion hat die Lehrperson die Geschichte mit Hilfe des Bilderbuchs erzählt. Die Kinder haben im Kreisgespräch eigene Erlebnisse gesammelt, in denen sie vor der Entscheidung standen zu teilen und mit gerechten und ungerechten Entscheidungen konfrontiert waren.
Geführtes Rollenspiel
Die Lehrperson hat vorgängig die Rollen definiert und ermöglicht den Kindern durch die Bären- und Wieselohren als Requisiten sowie durch Spielimpulse den Einstieg in die Verkörperung der Rolle. Sie klärt den Raum, wo gespielt wird. Sie plant den Ablauf mit einem bewussten Einstieg und Ausstieg aus der Rolle und formuliert Fragen für das anschliessende gemeinsame philosophische Gespräch. Zudem stellt sie sicher, dass das Spiel in einer wohlwollenden und sicheren Atmosphäre stattfindet, welche die Kinder dabei unterstützt, ihre Rolle zu erkunden und Ideen spielend auszudrücken.
Einblick in den Unterricht:
Die Kinder spielen die Geschichte aus dem Bilderbuch als geführtes Rollenspiel nach. In der Vorbereitungsphase verwandelt sich die eine Hälfte mit Hilfe von «Bärenohren» in den Bären. Gross und stark stampfen sie mit laut knurrendem Magen auf der mühseligen Suche nach Pilzen durch den Kindergarten. Die andere Gruppe schlüpft mit Unterstützung der «Wieselohren» in die Haut des Wiesels. Sie sind klein und wendig und braten mit grosser Hingabe pantomimisch die vom Bären gesammelten Pilze, voller Vorfreude auf die Lieblingsspeise.
Nachfolgend setzen sich jeweils die Gruppe der Bären und die Gruppe der Wiesel zusammen. Sie stellen sich die Frage, wie sie aus ihrer jeweiligen Perspektive die drei Pilze teilen würden, und suchen überzeugende Argumente dafür, warum sie als Wiesel respektive als Bär mehr von den Pilzen bekommen sollen. Dabei werden nochmals die Empfindungen beim Rollenspiel in Erinnerung gerufen: Wie ist das Gefühl als Bär bei der mühseligen Suche im Wald? Wie sieht die Vorfreude aufs Lieblingsessen beim Wiesel aus? In ihrer jeweiligen Rolle als Bär oder Wiesel nennen die Kinder zentrale Gerechtigkeitsprinzipien. Sie argumentieren mit Bedürfnissen («Das Wiesel ist noch klein und muss wachsen»), aber auch mit den jeweiligen Leistungen («Der Bär hat die Pilze gefunden», «Wenn das Wiesel jeden Tag kochen muss, hat es mehr verdient.»). Die Kinder erkennen auch, dass die Gegenseitigkeit beim Teilen ein wichtiges Prinzip der Gerechtigkeit darstellt («Heute könnte der eine zwei Pilze bekommen und morgen der andere»). Die Argumente werden von der Lehrperson notiert und im anschliessenden gemeinsamen Gespräch zwischen den beiden Gruppen von einzelnen Kindern eingebracht. Einige Kinder bemerken dabei, dass beide Seiten gute Argumente haben. Sie erkennen, dass keine schnelle und einfache Lösung gefunden werden kann, sondern die Interessen der Beteiligten sorgfältig abgewogen werden müssen.

Wie ist es wohl ein Bär zu sein? Rollenspiel als Einstieg ins Philosophieren
Ohne endgültige Lösung, aber mit vielen guten Ideen werden die beiden Bilderbuchfiguren verabschiedet. Die Kinder steigen aus dem Rollenspiel aus, indem sie ihre Bären- und Wieselohren ausziehen. Im anschliessenden philosophischen Gespräch zu allgemeinen Merkmalen und Herausforderungen des Teilens fragt die Lehrperson unter anderem: «Wie merkt man, dass man eine gute Lösung fürs Teilen gefunden hat? Kann man das sehen?» – «Ja», antwortet eines der Kinder, «man sieht das, wenn beide zufrieden sind.»
Besonderheiten des Rollenspiels im religionskundlichen und ethischen Lernen
Perspektivenwechsel einüben
In den Erprobungen zeigte sich, dass Rollenspiele eine hilfreiche Methode sind, um verschiedene Perspektiven einzunehmen. Das Spiel erfordert eine gewisse (emotionale) Identifikation mit der Rolle und ist «verbunden mit dem Konstituieren und Akzeptieren unterschiedlicher nebeneinander möglicher Welten» (Hentschel 2010, 238). Indem die Schüler:innen in die Haut von jemand anderem schlüpfen, können sie Situationen «erleben», die ihnen sonst nicht zugänglich wären, oder sie können in geführten Rollenspielen «die Realität nachempfinden» (Kalcsics 2022, 390). So können andere Wirklichkeitserfahrungen nachvollziehbar werden, Empathie und Konfliktfähigkeit werden eingeübt und die Kinder setzen sich mit verschiedenen Perspektiven auseinander (Hildebrandt et al. 2016, 189; vgl. Heimlich 2001).
Beispielsweise organisieren die Kinder im Spielhaus die Alltagsrituale rund um den Fastenmonat Ramadan und erleben damit Sichtweisen, die sie in der Alltagswelt allenfalls nicht haben. Beim Feste feiern im Grossen Rollenspiel können sie verschiedene Rollen erkunden, geladener Gast sein, aber auch Gastgeber:in und die Festelemente aus unterschiedlichen Sichtweisen variieren. Dies stellt eine grosse Chance des Rollenspiels dar, muss beim religionskundlichen Lernen aber auch sorgfältig begleitet werden. Ähnlich wie beim Erzählen von religiösen Geschichten ist wichtig, dass die Lehrperson das religionskundliche Ziel des Unterrichts im Blick behält (vgl. Franz-Klauser 2018). Dies kann sie durch eine religionskundliche Rahmung des Spielangebots den Kindern deutlich machen, indem sie beispielsweise darauf hinweist, dass nicht alle Menschen das Fest genauso begehen.
Für das religionskundliche Lernen ist die Beobachtung interessant, dass das Kleine Rollenspiel im Erprobungskindergarten weniger Identifikationsraum zu bieten scheint. Die Kinder spielen mit Spielfiguren die Geschichten und Rollen entlang des vorgegebenen Skripts nach und scheinen sich deutlich weniger in die Figuren hineinzuversetzen. Deshalb war es für die Lehrperson beim Freispielangebot Spielhaus auch möglich, religiöse Inhalte zu thematisieren wie das Feiern des Bayram und Materialien zur Verfügung zu stellen, welche als religiös wahrgenommen werden können, wie beispielsweise ein Kopftuch für die weibliche Spielfigur.
Für das ethische Lernen zum Thema «Verteilgerechtigkeit» versetzen sich die Kinder im Rollenspiel in die Situation anderer Menschen hinein und empfinden deren Bedürfnisse und Wünsche nach. Im Sinne der philosophischen Denkwerkzeuge (vgl. Martens 2003) ermöglicht das Spiel ihnen einen hermeneutischen Blickwinkel, mit welchem sie die Beweggründe und Denkweisen der Protagonisten aus der Bilderbuchgeschichte besser verstehen. Im anschliessenden philosophischen Gespräch können sie eine differenziertere Sicht aufs Teilen einnehmen und formulieren. Dass dies einigen Kindern gelingt, widerspiegelt sich in der im weitesten Sinne diskursethischen Einsicht einiger Kinder, dass Teilen dann gelingt, «…, wenn alle mit der Abmachung zufrieden sind».
Distanz einnehmen zu eigenen Positionen
Durch den Einstieg in eine fiktive Welt kommt es beim Rollenspiel zu einer Distanzierung zur Alltagsrealität. Die Kinder nehmen Bezug auf Erlebtes oder Fiktives und lösen sich aus der Handlungssituation des aktuellen Wahrnehmungsraums (Andresen 2011, 7). Beim religionskundlichen Lernen können sich die Kinder im Spiel religiös geprägten oder nichtreligiösen Festen wie zum Beispiel Ramadan, Weihnachten oder Geburtstag annähern, die ihnen in ihrer Lebenswelt begegnen, aber in ihrem näheren Umfeld allenfalls nicht gefeiert werden. Durch das Spiel wird damit ein handlungsorientierter Zugang zum fachlichen Inhalt ermöglicht, der gleichzeitig mit dem Anliegen des «Lernens über Religionen» verbunden werden kann. Die Kinder werden kognitiv und emotional aktiviert, ohne sie zu vereinnahmen.
Beim ethischen Lernen helfen das Einfühlen in eine Rolle und die damit verbundene zusätzliche Distanz zu den eigenen Erlebnissen, generalisierter über die ethische Frage nachzudenken und die eigenen Normalitätsvorstellungen überhaupt erst als ethisch fragwürdig zu erleben. Das Rollenspiel unterstützt in diesem Sinne den phänomenologischen Zugang zum Thema, in dem es das genaue Beobachten und Beschreiben der Situation fördert. Durch die Distanz zur eigenen Erlebniswelt wird die Fragwürdigkeit von Gerechtigkeit erst erkannt. Das eigene Alltagskonzept, dass das genaue Halbieren immer die gerechteste Variante darstellt, einer kritischen Prüfung unterzogen.
Damit die Distanznahme für das religionskundliche und ethische Lernen wirksam werden kann, braucht es die Lernbegleitung der Lehrperson. Sie inszeniert beim geleiteten Rollenspiel den Einstieg und Ausstieg aus der Rolle bewusst. Dadurch werden zum Beispiel Argumente und Konflikte, die im Spiel vorgebracht werden, nicht nachhallen und es kommt nicht zu einer Vermischung von Wirklichkeit und Spiel. Sie fragt während oder nach dem Spiel nach, um Empfindungen in die bewusste Wahrnehmung zu rücken («Wie fühlt es sich an, als kleines Wiesel dem grossen Bären gegenüberzustehen?»), und unterstützt dies beispielsweise durch die Veranschaulichung der Grössenverhältnisse, indem die Bären auf Stühlen stehen und die Wiesel darunter kauern. Die Distanznahme im freien Spiel ist komplexer, weil Kinder fliessend zwischen fiktiver und realer Welt wechseln. Die Grenze dazwischen verdeutlichen sie durch ihre Metakommunikation: «Du wärst jetzt das Geburtstagskind.»
Schutz der Privatheit
Die Distanz zur eigenen Person im Rollenspiel erlaubt den Kindern Position zu beziehen, ohne sich selbst auszustellen. Sie können Alternativen ausprobieren, ohne dass Handlungskonsequenzen im wirklichen Leben getragen werden müssen. Diese Handlungsorientierung bietet den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, mit Optionen zu spielen, verschiedene Handlungswege abzuwägen und über das Spielen zu klareren Vorstellungen zu gelangen. Beim religionskundlichen Lernen können die Kinder im Rollenspiel reale Erfahrung in ihr Spiel einbeziehen, aber sie werden weder von den Mitspielenden noch von der Lehrperson darauf behaftet, welche Bedeutung z. B. der Ramadan in ihrem Alltag spielt. Beim Rollenspiel zum ethischen Lernen können die Kinder Argumente in ihrer jeweiligen Rolle als Bär oder Wiesel einbringen. Das ermöglicht ein freies Sprechen und Fantasieren, ohne (selbst-)zensurierende Vorauswahl der Argumente, beispielsweise aus Unsicherheit oder aus Scham, es (zum Beispiel der Lehrperson) recht machen zu wollen. Im ethischen und religionskundlichen Lernen, wo der Umgang mit persönlichen Wert- und Glaubensvorstellungen sensibel ist, scheint das Rollenspiel eine geeignete Methode, um den Schutz der Privatheit zu gewährleisten.
Resümee
Die Umsetzungsbeispiele machen deutlich, dass sich Rollenspiele eignen, um ethisches und religionskundliches Lernen im 1. Zyklus zu unterstützen. Als Werkzeug und als «heuristisches Mittel» (Mercolli & Ritzmann 2023) helfen sie den Schüler:innen, zu ihrer eigenen Perspektive Distanz zu nehmen, sich in die Situation von anderen hineinzuversetzen, ihre Argumente einzubringen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Dafür bewähren sich Rollenspiele in geführten Unterrichtssequenzen wie auch im Freispiel, wobei es den jeweiligen Besonderheiten Rechnung zu tragen gilt. Dabei ist zu beachten, dass der Verlauf und die Wirkungen des Rollenspiels nie vollumfänglich planbar sind (Felder 2019, 73). Die sorgfältige Vorbereitung und religionskundliche oder ethische Ausrichtung des Unterrichts durch die Lehrperson wird dadurch umso wichtiger. Es lohnt sich, genügend Zeit und Raum einzuplanen, damit die Kinder in die Rollen eintauchen und das dabei Erlebte wahrnehmen, erkunden und beschreiben können. Wichtig zu berücksichtigen ist zudem, dass die Kinder das Rollenspiel als handelnde Akteur:innen selbstbestimmt gestalten können, insbesondere im freien Spiel. Dazu brauchen sie autonome Entscheidungsspielräume und das Zugeständnis, dass sie im Spiel die Expert:innen für ihr Tun sind. Dies bedeutet für die Lehrpersonen, dass sie, falls sie überhaupt eingreifen, ihre Einflussnahme auf das Spiel behutsam und reflektiert gestalten.