Sind wir alle behindert?


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Sind wir alle behindert?

Einige Fragen zur Auseinandersetzung mit unseren Gesellschaftsstrukturen anhand des Bilderbuchs «Alle behindert!»

Klein, Horst / Osberghaus, Monika: Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig, 4. Aufgabe [sic!] 2021
Von David Labhart

«Wir haben während der Entstehung des Buches mit Hilfe sehr vieler Steckbriefe von Kindern mit Behinderung und deren Eltern festgestellt, wie individuell eine Behinderung sein kann»[1]

Zum Schluss des Bilderbuches mit dem Titel «Sind wir alle behindert? 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild» erläutern die Autor:innen Monika Osberghaus und Horst Klein mit unter anderem diesen Worten den Entstehungsprozess des Buches. In der ersten Auflage im September 2019 erschienen, erhielt das Bilderbuch 2019 und 2020 insgesamt drei Auszeichnungen und damit auch die notwendige Resonanz, um im 2022 in der 4. Auflage zu erscheinen. Ausgehend von vielen realen Steckbriefen von Kindern haben die Autor:innen 25 individuelle, aber fiktive Steckbriefe entworfen. Die ansprechend gestalteten Porträts eint, dass sie alle ein Kind mit Namen und Bild vorstellen und als Erstes beantworten, was diese Person gerne mag: Pommes, Tanzen, Kaugummi, Skifahren etc. Unter anderem wird dann auch jeweils erwähnt, welche Behinderung einem Kind zugeschrieben wird, «wie oft das vorkommt» und «was daran doof ist». Mit Kindern fühlt sich die Lektüre so an wie das Betrachten eines Freundschaftsbuches.

Das Bilderbuch trägt in sich implizit die Frage, ob die unterschiedlichen Abweichungen, Gebrechen, Rollen oder sozialen Lagen der dargestellten Kinder alle in den Topf der «Behinderung» zu werfen sind. Damit greift das Buch ein Thema auf, das im Moment eine grosse Aktualität besitzt: Sind wir trotz Unterschieden gleich? Dabei werden implizit und explizit Antworten gegeben, die die Komplexität der Materie nur unzulänglich umreissen. Als Ausgangslage für Diskussionen rund um die Frage von Behinderung wirft das Buch jedoch gute Fragen auf. Nachfolgende Ausführungen ermöglichen es, zentrale Fragen zu Behinderung mit dem Bilderbuch an Kinder heranzutragen.

Was ist Behinderung?

Pablo Pineda, ein Hochschulabgänger und Lehrer mit Trisomie 21, hat sich die Frage gestellt, ob Menschen mit Trisomie 21 wirklich behindert seien. Er meint zu dieser Frage, «dass der Begriff ‹Behinderung› ein willkürlicher, zu allgemeiner Begriff ist, er wird nur auf ein Kollektiv angewandt, aber gibt es eigentlich jemanden, der nicht behindert ist?» (Pineda 2014, S. 69, kursiv im Original). Für Pineda sind alle Menschen behindert, doch einige – die als behindert bezeichneten Menschen – verstecken ihr Behindertsein nicht. Er meint: «Aber ich möchte eigentlich nicht von ‹Behinderung› sprechen, denn es stimmt nicht, dass wir weniger fähig sind, wir haben andere Fähigkeiten» (ebd.).

Ein Beitrag von Michel Callon, einem französischen Soziologen, ist mit «Behinderte aller Länder, vereinigt euch!» (Callon 2005) betitelt. Nach Callon gibt es Akteur:innen (Menschen, aber auch Tiere, Flüsse oder Korallen)[2], die behindert werden, um die Fähigkeit gebracht werden (dis-abled), sich adäquat in einen politischen Prozess einzubringen.

Das Gemeinsame dieser zwei Perspektiven auf Behinderung ist erstens, dass sie ein naturalisiertes, biologistisches Verständnis von Behinderung ablehnen. Dies bedeutet, dass sie Behinderung nicht als angeborene Eigenschaft, ahistorische Identität und Wesen einer Person verstehen, sondern – selbstverständlich sehr unterschiedlich – als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses deuten. Zweitens geht es beiden darum, Solidarität und Verständnis unter Menschen und Nicht-menschlichem zu fördern und damit eine egalitärere, demokratischere und nachhaltigere Gesellschaft anzuvisieren.

Zurück zum Bilderbuch: Mit den Steckbriefen wird der Behinderungsbegriff so ausgelegt: Alles, was einen speziell macht, ist eine Behinderung. Man ist Autist, Rüpel, Spastiker, Tussi, Mitläufer oder man hat eine Querschnittlähmung oder eine Lernbehinderung[3]. Es geht um die Vielfalt der Menschheit: Es ist schön, verschieden zu sein. Mit Blick auf die Ausführungen über den Behinderungsbegriff bei Pineda und Callon werden damit erstens die unterschiedlichen Fähigkeiten IN einer Person verortet: Man IST jemand. Der gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgeblendet. Zweitens geht es dem Bilderbuch um Solidarität, jedoch werden Ungleichheiten in der sozialen Anerkennung und der gesellschaftlichen Teilhabe nicht thematisiert und damit wird Diskriminierung der Reflexion nicht zugänglich.

Die Behindertenbewegung hat sich gegen einen naturalisierten, also im Körper einer Person liegenden Behinderungsbegriff positioniert, um die Diskriminierungen, Stigmatisierungen und Marginalisierungen, die eine Behinderungserfahrung ausmachen, aufs Tapet zu bringen. Die wichtigste Frage in der Auseinandersetzung mit Besonderheiten scheint vor diesem Hintergrund zu sein, welche Differenzen aktuell gesellschaftlich als Abweichung in dem Sinne verstanden werden, dass daraus Nachteile entstehen. Deshalb wird in der Internationalen Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen Beeinträchtigung und Behinderung unterschieden: Beeinträchtigung bezeichnet die Funktionseinschränkung wie beispielsweise die Unmöglichkeit, die eigenen Beine zu bewegen. Zur Behinderung wird diese Beeinträchtigung nur, wenn die Teilhabe dadurch eingeschränkt wird – wenn also der Zugang mit einem Rollstuhl nicht möglich ist. Für das Ziel der Solidarität und Anerkennung ist es zentral, Behinderung in einem sozialen oder relationalen, und eben nicht in einem naturalisierten Sinne zu beobachten und zu diskutieren. Damit hat «speziell sein» grundsätzlich nichts mit Behinderung zu tun. Um Behinderung der Reflexion zugänglich zu machen, muss sie in ihren historisch-politischen Relationen der Ungleichheiten analysiert werden (Weisser 2005).

Fragen um Behinderung als diskriminierungsreflexiven Begriff

Damit ist Behinderung ein Begriff, der Teilhabebarrieren, Machtdifferenzen und Stigmatisierungen in den Blick rückt. Diskriminierung und Teilhabemöglichkeiten können mit dem Bilderbuch sehr gut thematisiert werden: Sind «Trisomie 21» und «Angeber» als Behinderung vergleichbar? Wie steht es um die Teilhabemöglichkeiten dieser zwei fiktiven Personen? Warum werden Menschen mit Trisomie 21 vorgeburtlich getötet, während Angeber gute Chancen haben, politische, und damit mächtige und prestigeträchtige Ämter zu besetzen?

Im Anschluss an die Bearbeitung solcher Fragen kann auch die Frage nach einer eigenen Behinderung, also eigentlich der eigenen Individualität, genauer bearbeitet werden: Benachteiligt mich das, was mich speziell macht? So wird sich vielleicht ergeben, dass jemand seine dunkle Hautfarbe als Behinderung erfährt. Entspricht eine dunkle Hautfarbe einer Behinderung?

Das Bilderbuch trägt Witz in sich – beispielsweise ist die 4. Auflage als «4. Aufgabe» bezeichnet und der Klett Kinderbuchverlag ist plötzlich zum Kniderbuch avanciert. Beim Buch war damit Beeinträchtigung (insbesondere wohl die Lese-Rechtschreib-Schwäche) Programm und hatte kein Ausschluss zur Folge. Aber die Diskussion um Behinderung kann nicht nur eine witzige sein, Behinderung ist nicht einfach eine «bunte Welt», wie Beate Schräder meint[4]. Behinderung ist – wie Geschlecht, Rasse und Klasse – eine Kategorie, die mehr mit Machtverhältnissen durchzogen ist, als uns lieb ist. Diese Verhältnisse dürfen bei Reflexionen um Behinderung nicht vernachlässigt werden.

Literatur

Callon, M. (2005): Disabled persons of all countries, unite, in B. Latour & P. Weibel (Hrsg.), Making Things Public. Cambridge, MA: MIT Press, S. 308-313.
Latour, B. (2018): Das terrestrische Manifest. Berlin: Suhrkamp.
Pineda, P. (2014): Herausforderung Lernen: Ein Plädoyer für die Vielfalt. Zirndorf: G&S.
Weisser, J. (2005): Behinderung, Ungleichheit, Bildung. Bielefeld: transcript.

Anmerkungen

[1] Klein und Osberghaus 2021, o. S.
[2] Es kann hier nicht auf die Auflösung der Grenze zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen eingegangen werden, wie sie die Akteur-Netzwerk Theorie eingeführt hat. Mit den Beispielen von Akteur:innen in der Klammer wird sichtbar gemacht, dass die Frage nach Behinderungen in Zusammenhang mit Klimafragen, Migrationsfragen und der Bevölkerung des Alls steht. Dazu sehr anschaulich Latour 2018.
[3] Die Genera der Bezeichnungen sind dem Bilderbuch entnommen. Inwieweit ist den Behinderungen der sie unter anderem prägende gesellschaftliche Aspekt des Geschlechts eingeschrieben? Was ist eine männliche oder eine non-binäre Tussi?
Artikelnachweis
Labhart, David (2022). Sind wir alle behindert? in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), https://www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/sind-wir-alle-behindert

Über David Labhart

Dr. David Labhart ist Dozent am Institut Unterstrass an der PH Zürich und Studiengangsleiter des Masterstudienganges «Inklusive Pädagogik und Kommunikation».