«In der Welt handeln» – oder warum Rollenspiele so wertvoll sind


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«In der Welt handeln» – oder warum Rollenspiele so wertvoll sind

Pädagogische Rollenspiele ermöglichen es, individuelles sowie partizipatives Handeln zu erproben und bieten somit eine besondere Gelegenheit, dem Auftrag «In der Welt handeln» des Lehrplan 21 nachzukommen.
Von Arnd Brandl

«Also gut, jetzt kann es endlich losgehen. Ich habe den Eindruck, dass Ihr durch unsere Vorbereitungen eine gute Vorstellung von der Alltagssituation habt, die wir gleich spielerisch bearbeiten wollen und die vielfältigen Überlegungen zu Euren jeweiligen Rollen werden Euch sicher helfen, schnell auf Eure Weise in das Spiel zu finden. – Mir ist klar, dass es trotz unserer kleinen Übungen in den vergangenen Lektionen nicht für alle gleichermassen angenehm ist, sich vor anderen zu exponieren. Daher starten wir mit jenen, die sich schon sicherer fühlen. Aber vergesst nie … das ist mir ganz wichtig: Sobald Ihr unsere Bühne betretet, gilt – für alle und für die gesamte Dauer des Rollenspiels – die strikte Trennung von Rolle und Person! … Ihr werdet merken, dass das gar nicht so leicht ist, aber versucht es bitte. … Sobald Ihr also diese Linie hier im Klassenzimmer ein erstes Mal überschreitet, steht Ihr nicht mehr für Euch selbst, für Eure ganz persönlichen Gedanken, Gefühle, Handlungen. Vielmehr nehmt Ihr Eure Rolle ein und verlasst diese erst wieder, wenn Ihr die Linie ein zweites Mal kreuzt. Wenn Ihr ‹Ich› sagt, spricht Eure Figur, wenn wir Aussenstehenden mit Euch interagieren wollen, sprechen wir Euch in Eurer Rolle mit Euren Rollennamen an. Ich werde sofort intervenieren und das Spiel unterbrechen, wenn diese Regel nicht eingehalten wird! Alle Spielenden sollen die Freiheit haben und auch empfinden dürfen, auf Situationen einmal ganz anders blicken bzw. in ihnen einmal ganz anders handeln zu können, als es sie es vielleicht sonst tun würden …»

So oder ähnlich könnte eine Lehrperson die Spielphase eines pädagogischen Rollenspiels einleiten. Offensichtlich hat in den Lektionen zuvor bereits eine intensive Vorbereitung stattgefunden: Eine zu bewältigende, alltagsnahe Situation wurde skizziert, darin handelnde Personen identifiziert und als Rollenfiguren ausgestaltet. Das freie Sprechen vor anderen wurde geübt und dabei das Vertrauen in die Klassengemeinschaft als safe enough space gestärkt. Zudem wurden klare Spielregeln vorgegeben und erläutert.

Diese Vorbereitungsphase ist weder zu unterschätzen noch zu vernachlässigen. Gemeinsam mit der Reflexionsphase im Anschluss an das Spiel entscheidet sie über das Gelingen des pädagogischen Rollenspiels. Dieses Gelingen bemisst sich nicht an einer abschliessenden und optimalen Lösung eines Handlungsproblems, sondern vielmehr an der Reichhaltigkeit an Lernerfahrungen in Bezug auf die Frage, was es überhaupt bedeuten mag, in der Welt zu handeln. «Unter ‹pädagogisches Rollenspiel› wird […] die bewusste Inszenierung und Reflexion lebensnaher Situationen verstanden, in denen Schülern ermöglicht werden soll, vor allem im affektiven Bereich nachhaltige Erfahrungen zu machen. Zielsetzungen sind die Förderung von Selbstkompetenz und Sozialkompetenz sowie von Verantwortungsbereitschaft.» (ISB 2006, S. 6) – Doch warum sollten wir Lehrpersonen uns mit dieser Aufgabe beschäftigen?

«In der Welt handeln»

«Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit der Welt in ihren natürlichen, technischen, historischen, kulturellen, sozialen, ökonomischen, ethischen und religiösen Dimensionen mit ihren je eigenen Phänomenen und Prozessen auseinander. Sie erweitern ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, sich in der Welt zu orientieren, diese immer besser zu verstehen, sie aktiv mitzugestalten und in ihr verantwortungsvoll zu handeln.» (D-EDK 2016, S. 67f.; Herv. AB)

So phrasenhaft dieser Passus aus dem Grundlagenkapitel des Lehrplan 21 auf den ersten Blick daherkommen mag, so schwer wiegt bei genauer Betrachtung sein normatives Gewicht. Denn in Zeiten globaler Herausforderungen, die durch Komplexität, Unsicherheit und Widersprüchen gekennzeichnet sind – Kriege, Klimawandel, soziale Ungleichheiten, innergesellschaftliche Spannungen usw. –, könnte ein Auftrag an schulische Bildung und Erziehung kaum anspruchsvoller formuliert sein: Wie soll ein junger Mensch diese Welt verstehen können? Wie soll ein junger Mensch darin Selbstwirksamkeit erfahren können? Und nicht zuletzt: Was kann, darf oder muss die Schule einem jungen Menschen mitgeben, um in dieser Welt verantwortungsvoll handeln zu können und zu wollen?

Wenn im Lehrplan 21 von verantwortungsvollem Handeln die Rede ist, dann ist damit ein reflektiertes und gestaltendes Handeln in Mitverantwortung für sich und andere Menschen gemeint (vgl. D-EDK 2016, S. 271). Dieses Handeln ist wertgeleitet und insofern als ein soziales Handeln zu bestimmen, als «dass der Handelnde im Bewusstsein dessen handelt, dass das eigene Handeln einen Einfluss auf andere Menschen haben wird bzw. haben könnte»1. In Bezug auf die Fachperspektive ERG werden als wertgeleitete, soziale Handlungen das Ausüben von Toleranz, das Beitragen zu einem respektvollen Zusammenleben sowie das Begegnen und Umgehen mit kultureller und weltanschaulicher Vielfalt besonders hervorgehoben (vgl. D-EDK 2016, S. 272). Zudem spielen die grundlegenden Wertkonzepte Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität und Menschenwürde eine herausgehobene Rolle (vgl. D-EDK 2016, S. 281). Letztlich geht es um die Förderung von Mündigkeit, auch wenn der Lehrplan 21 diesen Begriff im Zusammenhang mit ERG nicht explizit verwendet.

Welche Kenntnisse und Fähigkeiten sind aber nun für die Ermöglichung wertgeleiteten, sozialen Handelns erforderlich? Welche Möglichkeiten bieten sich dem schulischen Unterricht und damit auch dem Fach ERG? Und wo liegen die Grenzen: Lässt sich wertgeleitetes, soziales Handeln fördern, ohne bestimmte Handlungen vorzuschreiben bzw. direktiv zu vermitteln?

Handlungstheorien sind ausgesprochen komplex, daher können an dieser Stelle nur einzelne Aspekte auf- und herausgegriffen werden. Basierend auf Erkenntnissen aus Philosophie und Motivationspsychologie möchte ich der Frage nachgehen, was es heisst, «Handeln zu ermöglichen» und zwar unabhängig von dessen ethischen oder sozialen Qualität. Zunächst ist also zu klären, was Handeln bedeutet? Inwiefern hat es mit Verständigung zu tun? Was unterscheidet Handeln von einem Verhalten, dass sich ereignet? Welche impliziten und expliziten Einflüsse prägen unser Handeln?

Mit dem erarbeiteten Verständnis von Handeln richte ich anschliessend den Blick auf seine Ermöglichung. Dabei fokussiere ich auf das pädagogische Rollenspiel, das meines Erachtens mit seinen drei Phasen – Vorbereitung, Spiel, Reflexion – besonders geeignet ist, Handeln tatsächlich zu erproben.

Drei Thesen gliedern die folgenden Abschnitte:

  1. Um eine Handlung als solche bestimmen, analysieren und beurteilen zu können, müssen Lernende Gründe, Motive und Ursachen einer Tätigkeit bzw. eines Verhaltens unterscheiden und sich darüber verständigen können. – Die Vorbereitungsphase dient dem Erlernen und Einüben dieser Voraussetzung.

  2. Die Verständigung über Gründe, Motive und Ursachen muss an tatsächlich realisierten Handlungen erfolgen, damit die Lernenden ihr Vermögen zu wertgeleitetem, sozialem Handeln ausserhalb des Unterrichts erhöhen können. – Diese Handlungserprobungen sind der Spielphase vorbehalten.

  3. Die Verständigung über umgesetzte Handlungen orientiert sich vor allem an expliziten Motiven. Handlungen selbst sind aber häufig von impliziten, unbewussten Handlungsmotiven geprägt, die sich Lernende nur im Zusammenspiel von Erfahren und Reflektieren zugänglich machen können. – Daher ist die abschliessende Reflexionsphase unverzichtbar.

1. Handlung als «Verständigungskonstrukt»

«In der Psychologie wird allgemein unter Verhalten jede körperliche Aktivität eines Organismus, die grundsätzlich von anderen Beobachtern feststellbar ist, verstanden. Handlungen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass ihnen eine Entscheidung vorangegangen ist. Sie sind intentional, d. h. zielgerichtet und absichtsvoll» (Roew 2021; Herv.i.O.).

Folgen wir dieser klassischen Verhältnisbestimmung von Verhalten und Handlung, so sind es die Beabsichtigung sowie die Zielgerichtetheit, die eine Tätigkeit (hier auch: Unterlassung) in der Menge möglicher Verhaltensweisen als Handlung kenntlich machen. Doch soll dies nun heissen, dass keinerlei nicht-absichtliches Handeln existiert bzw. dass stets Klarheit über die Intention(en) einer Handlung bestehen muss, um sie als solche identifizieren zu können?

Für Johannes Fischer (2012) ist es der «Frage-Antwort-Charakter unseres Verstehens […, der] eine Struktur über unser Verhalten [legt], die dieses nicht von sich aus hat, sondern die es aus der Verständigung über es bezieht» (ebd., S. 36). Das bedeutet, dass wir dann von einer Handlung sprechen können, wenn es möglich ist, sich über die Gründe, Motive oder Ursachen eines Tuns (oder Unterlassens) zu verständigen. Mit anderen Worten: Wenn die Frage nach dem Warum eines Tuns (oder Unterlassens) sinnvoll beantwortet werden kann, ist ein Verhalten als Handlung zu bestimmen.

Verhalten als Ereignis oder Handlung

Als «Verständigungskonstrukte» (ebd., S. 33) lassen sich Handlungen von Verhaltensweisen unterscheiden, die sich ereignen: Wenn wir uns des Nachts im Schlaf unwillkürlich herumdrehen, ist das ein Ereignis (wenn auch kein besonders spektakuläres). Zwar liessen sich auch dafür Ursachen angeben, z. B. ein Bewegungsbedürfnis des Körpers oder ein Geräusch in der Umgebung, das einen Körperreflex auslöste, jedoch können wir über die Ursache letztlich nur spekulieren, da wir uns nicht als Urheber des Geschehens ansehen. Ganz sicher wird es der schlafenden Person nach dem Erwachen kaum möglich sein, Gründe oder Motive für das Drehen anzugeben.

Die gleiche Körperbewegung kann aber auch eine Handlung darstellen, z. B. wenn wir versuchen, durch das Eindrehen in die Bettdecke dem Morgen ein paar weitere Minuten des Schlummerns abzutrotzen. Sind wir uns in diesem Moment des Bewegens auch nicht seiner Gründe, Motive oder Ursachen bewusst, so könnten wir uns als Urheber der Handlung nachträglich darüber verständigen, sollten wir danach gefragt werden («Es ist einfach so kuschelig!»). – Hier wird deutlich, dass die Möglichkeit einer Verständigung ausreicht, um von einer Handlung zu sprechen. Denn wann oder ob diese Verständigung erfolgt – vor, während oder nach dem Vollzug der Tätigkeit oder de facto gar nicht –, ist für die Bestimmung eines Verhaltens als Handlung nicht entscheidend.

Gründe, Ursachen und Motive

Wollen wir die Verständigung über eine Handlung vertiefen, müssen wir nach den genauen Gründen, Motiven oder Handlungsursachen fragen. Zur Unterscheidung soll folgendes Beispiel dienen:

Tun: Paul hat Peter umgerannt.
Grund: «Ich habe Peter bewusst und willentlich umgerannt, da er sich mir unvermittelt in den Weg gestellt hat und ich nicht mehr ausweichen konnte, ohne selbst zu stürzen und mich schwer zu verletzen.»
Ursache: Paul handelte in Panik, da ein Schwarm Bienen hinter ihm her war.
Motiv: Paul handelte in Eifersucht, da er in Peter den Liebhaber seine Frau vermutet.

Gründe wollen den Sinn einer Handlung verständlich machen und können daher nur von der handelnden Person als Urheberin selbst angegeben werden. In der Verständigung mit der handelnden Person, d. h. hier: in der Selbstdarstellung ihrer Handlungsgründe, wird die Handlung plausibel (vgl. Fischer 2012, S. 38). Nach eigenen Angaben hat Paul gegenüber Peter intentional und zielgerichtet gehandelt. Mag das Umrennen im Moment des Vollzugs als ein spontanes Verhalten erscheinen, so wird es im Nachhinein in der Verständigung mit Paul bzw. durch Pauls Begründung zu einer absichtlichen Handlung.

Bei der Kausalerklärung einer Handlung ist die Ursache ausserhalb der handelnden Person zu suchen bzw. in Zuständen, die es der Person verunmöglicht, sich in der entsprechenden Situation anders verhalten zu können. Im Fall seiner Panikreaktion wird es Paul kaum gelingen, seinem Handeln Sinn und Grund zu verleihen; es erfolgte ohne Absicht und Zielgerichtetheit. Auf der anderen Seite ist das Umrennen nicht als Ereignis, sondern als – in diesem Fall nicht-absichtliche – Handlung anzusehen, da Paul nachträglich mit der Handlungsursache «Panik» eine Antwort auf die Warum-Frage seines Tuns bieten kann.

Die Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen wird dann unscharf, wenn die handelnde Person den Sinn einer Handlung mit den Umständen und deren Unausweichlichkeit verständlich macht. Dass sich Peter dem heraneilenden Paul unvermittelt in den Weg gestellt hat, lässt sich durchaus als Ursache des Umrennens durch Paul verstehen. Dass dieser daraufhin aus Selbstschutz die gezielte Kollision wählt, ist als Handlungsgrund von der Ursache kaum zu trennen.

Schliesslich ist festzuhalten, dass dort, wo eine Handlungsursache angegeben werden kann, immer auch «eine zugleich hinreichende und notwendige Bedingung für das Eintreten der Handlung» gegeben ist (ebd., S. 42; Herv.i.O.). So führt Panik unausweichlich zur Handlung – selbst wenn sich diese bei Paul als Erstarren geäussert hätte.

Unter anderem der letzte Punkt unterscheidet die Handlungsursache vom Handlungsmotiv. Ein Motiv kann den Vollzug einer Handlung zwar erklären, nicht aber begründen, warum sie tatsächlich geschehen und letztlich nicht doch ausgeblieben ist. Affekte (wie z. B. Pauls Eifersucht), aber auch Interessen, Wünsche, Absichten, Verpflichtungen etc. können zu Motiven des Handelns werden. Wichtig ist, dass sie «[…] als solche, unabhängig von der kommunikativen Selbstpräsentation des Handelnden, erklärungskräftig sein [müssen]. Die Zuschreibung von Motiven ist nicht an die Bedingung gebunden, dass der Handelnde selbst sich diese zuschreibt und sein Handeln damit erklärt. Er mag sich […] über seine wahren Motive täuschen und ein anderer mag dies besser und schärfer diagnostizieren als er selbst» (Fischer 2012, S. 38). Vielleicht wäre Paul doch in der Lage gewesen, Peter auszuweichen, aber ein Eifersuchts-Rache-Motiv – sei es bewusst oder unbewusst – verhinderte diese Handlungsalternative.

Fragen wir nach Motiven, verständigen wir uns nicht nur mit der handelnden Person, sondern auch und vor allem über die handelnde Person (vgl. ebd., S. 38). Im Vergleich von Selbstauskunft und Fremdbeobachtung können wir erkennen, dass sich eine handelnde Person unwissentlich Motive zuschreibt, die nicht deckungsgleich sind mit jenen Motiven, die der Handlung mit höherer Wahrscheinlichkeit oder Plausibilität zugrunde liegen.

Explizite und implizite Motive

In diesem Zusammenhang verweist die Motivationspsychologie auf die wichtige Unterscheidung von impliziten und expliziten Motiven:

«Implizite Motive beruhen auf früh gelernten, emotional getönten Präferenzen, sich immer wieder mit bestimmten Formen von Anreizen auseinander zu setzen […]. Da diese Präferenzen früh entwickelt bzw. gelernt werden, sind sie nicht-sprachlich repräsentiert und können daher auch nicht mit Methoden des Selbstberichts erfasst werden. Weder die Anregung eines impliziten Motivs noch seine Umsetzung in instrumentelles Handeln erfordert Akte der Selbstreflexion und bewussten Kontrolle des Verhaltens. Explizite Motive spiegeln hingegen die Selbstbilder, Werte und Ziele wider, die sich eine Person selbst zuschreibt und mit denen sie sich identifiziert. Sie dokumentieren, welche Vorstellung eine Person von ihren eigenen handlungsleitenden Motiven hat» (Heckhausen 2018, S. 271).

Wird eine Handlung von impliziten Motiven dominiert, muss diese als nicht-absichtlich angesehen werden; hingegen entspricht eine absichtliche Handlung weitestgehend den expliziten Motiven.

Zum Beitrag des pädagogischen Rollenspiels

Sich in der Welt nicht bloss intentionslos zu verhalten, sondern in ihr zu handeln, heisst zunächst einmal, Lernenden bewusst zu machen, dass sich nur wenige ihrer Tätigkeiten einfach ereignen, sondern dass ihnen zumeist Ziele und Absichten zugrunde liegen. Um sich darüber verständigen zu können, benötigen sie nicht nur das Wissen um die grundsätzliche Differenzierbarkeit von Gründen, Motiven und Ursachen einer Handlung (s. u. Merksätze), sondern auch die Fähigkeit, in Verständigungsprozessen das eine vom anderen unterscheiden zu können (z. B. mit Hilfe der Peter-Paul-Beispiele). Um die Lernenden in dieser Form sprachfähig zu machen, sollten diese Kompetenzen in der Vorbereitungsphase des pädagogischen Rollenspiels explizit erarbeitet und immer wieder geübt werden.

Mir ist bewusst, dass es so manchen Schülerinnen und Schülern schwerfällt, überhaupt irgendwelche Aussagen zu den Hintergründen ihres Verhaltens zu machen. Sie sind es nicht gewohnt, ihnen fehlen entweder Bewusstheit oder Artikulationsvermögen. Umso wichtiger ist die Lernerfahrung, dass auch für sie eine Verständigung über Verhaltensweisen (Merksätze a und b) grundsätzlich möglich ist und dass der Unterschied zwischen Handeln und Sich-Ereignen ihnen viel über sich selbst und ihre Wirksamkeit verraten kann. Ob es für diese Lernenden dann leistbar oder sinnvoll ist, die Verständigung weiter in Gründe, Ursache und Motive zu differenzieren (Merksätze c-f), liegt im Ermessensentscheid der Lehrperson. Sollte eine radikale Vereinfachung angezeigt sein, liesse sich für die Zwecke des Rollenspiels auch mit dem zusammenfassenden Begriff der Motivation operieren.

2. Verständigungserprobung durch Probehandeln

Werfen wir einen Blick in die weiteren Ausführungen zum Handlungsaspekt «In der Welt handeln» im Lehrplan 21:

«Schülerinnen und Schüler treffen Entscheidungen und handeln reflektiert. Sie setzen Erkenntnisse kreativ und konstruktiv um, wirken an der Gestaltung ihrer Umwelt mit und übernehmen Mitverantwortung für sich selbst, für die Gemeinschaft und für die Gesellschaft. Dabei werden auch Eigenständigkeit, Dialogfähigkeit und Zusammenarbeit mit Blick auf ein kompetentes und zukunftsorientiertes Handeln in der Welt gefördert.» (D-EDK 2016, S. 271)

In diesem Zitat werden das Treffen von Entscheidungen, die Umsetzung von Erkenntnissen, Mitwirkung und Mitverantwortungsübernahme als soziale Handlungen dargestellt. Was diese Handlungen konkret beinhalten, welche Entscheidung als richtig oder gut anzusehen ist, welcher Art die Umweltgestaltung ist oder wie sich Mitverantwortung ausdrücken soll, spielt für unseren Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dass sich diese Handlungen nicht einfach ereignen werden, weshalb reflektierte Verständigungen über entsprechende Gründe, Motive und Ursachen möglich sind. Auf zentrale Verständigungskompetenzen wie Dialogfähigkeit und Zusammenarbeit verweist dann auch der Abschnitt des Lehrplans; im Sinne individueller Reflexionsfähigkeit liesse sich auch Eigenständigkeit dazuzählen.

Handeln real werden lassen

Dieses Lehrplan-Zitat enthält aber noch einen weiteren Ermöglichungsauftrag. Es geht um die enge Verknüpfung von Kompetenz und Output-Orientierung: Der Unterricht soll darauf hinarbeiten, die Lernenden zu verantwortungs- und wertbewusstem Handeln in der Welt zu befähigen; und zwar zu einem Handeln, das tatsächlich erfolgt und nicht in seiner Beabsichtigung verharrt. Verben wie «umsetzen», «mitwirken» oder «übernehmen» verweisen auf eine zu realisierende Praxis und gehen somit explizit über ein theoretisches Wissen, Können und Wollen hinaus.

Dass mit «In der Welt handeln» nicht blosse Gedankenspiele gemeint sind, verdeutlicht dann auch jene Zielsetzung für das Fach ERG, die explizit das Probehandeln ins Zentrum stellt:

«Die Schülerinnen und Schüler erproben Möglichkeiten, das Zusammenleben zu gestalten und soziale Herausforderungen zu bewältigen, und werden zu eigenständiger Lebensgestaltung und verantwortlicher Teilhabe an der Gemeinschaft ermutigt» (D-EDK 2016, S. 272; Herv. AB).

Und bei den didaktischen Hinweisen zu ERG heisst es:

«Die Schülerinnen und Schüler werden herausgefordert, ihr Leben und Zusammenleben zu gestalten. Die Schule selber ist sowohl Erfahrungsraum als auch Übungsfeld dafür. Lebensfragen sind Herausforderungen für die Einzelnen und für das Leben in der Gemeinschaft. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Individualisierung und Pluralisierung wird auch lebenskundliche Orientierung wichtiger.» (D-EDK 2016, S. 282; Herv. AB)

Das Erproben, Erfahren und Üben von Handlungen, hier: von Verständigung über Verhaltensweisen, stösst andere Lernprozesse an, die das Nachdenken oder Spekulieren über allfällige Handlungsoptionen («Was könnte man tun?») ergänzen und erweitern. Das, was nicht erwartet wurde – Affekte, unbewusste Wünsche, Einstellungen oder Werte, kurz: implizite Motive – kann in Handlungssituationen zur Erfahrung und so der Verständigung zugängig werden. Daher braucht es im Unterricht Gelegenheiten, (soziales) Handeln real werden zu lassen. Ein «Handeln», das nur gedacht wird, ist nicht einmal ein unterlassenes Handeln, da ihm keine tatsächlichen Gründe, Motive oder Ursachen zugrunde liegen. Ich hatte bereits festgehalten, dass die prinzipielle Möglichkeit einer Verständigung über Gründe, Motive oder Ursachen reicht, um eine Tätigkeit bzw. ein Verhalten als Handlung zu bestimmen. Die Tätigkeit selbst ist aber unverzichtbar; sie muss der Verständigung vorausgehen. Ein Spekulieren über potentielle Gründe, Motive oder Ursachen allfälliger Tätigkeiten ist weder eine Verständigung noch führt es automatisch zu einem entsprechenden Verhalten. Es ist ausreichend belegt, dass das blosse Sammeln von allfälligen Gründen und Motiven beispielsweise für klimafreundliches oder nicht-rassistisches Handeln kaum zu gelebtem Klimaschutz oder geringerem Alltagsrassismus beiträgt.

Im Rahmen der begrenzten zeitlichen und räumlichen Ressourcen einer Unterrichtslektion soziales Handeln wiederholt zu erproben, garantiert natürlich nicht, dass es auch über das Unterrichtsgeschehen hinaus realisiert wird. Im Idealfall erhöht es aber das entsprechende Vermögen der Lernenden und damit die Wahrscheinlichkeit seiner Umsetzung.

Umgang mit Kontroversität: Handeln als Suchprozess

Da es im Lehrplan 21 nicht allein um soziales, sondern auch um wertgeleitetes Handeln geht, ist besondere Vorsicht und Sorgfalt geboten: Die Komplexität ethischer Herausforderungen bietet nur selten Klarheit darüber, welches Handeln in konkreten Situationen tatsächlich als verantwortungsvoll zu verstehen ist und welches nicht. Angesichts potentieller Kontroversität sind im Unterricht Handlungen im Rahmen von Such- und Aushandlungsprozessen anzuzielen, d. h. Handlungen, deren Absichten und Ziele die Lernenden selbst erst noch ergründen müssen. Verantwortungsvolles Handeln zu ermöglichen, darf von der Lehrperson nicht dahingehend instrumentalisiert werden, vorab als «richtig» oder «gut» deklarierte Handlungen durch direktive Unterrichtsmethoden zu erwirken. Handlungen dieser Art wären immer verursacht, eine Verständigung über Gründe und Motive sinnlos. Der Ermöglichung wohnt immer und unverzichtbar ein Freiheitsaspekt inne.

Zum Beitrag des pädagogischen Rollenspiels

«Die Wirksamkeit des Spiels liegt unter anderem darin begründet, dass Leib, Seele und Geist als drei menschliche Zugangsdimensionen zu Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsbewältigung gleichzeitig angesprochen werden. Kopf, Herz und Hand sind ganzheitlich in Aktion. Die neuronalen Netzwerke verknüpfen beim spielerischen Handeln Wirklichkeitsinterpretation, soziale Interaktionserfahrung und emotionale Bewertung von Handlung in kreativer Weise zu neuen neuronalen Funktionssystemen. Gerade der emotionalen Bewertung kommt ein hoher Stellenwert zu.» (ISB 2006, S. 6)

Wie in allen szenischen Darstellungen geht es auch im pädagogischen Rollenspiel darum, spielerisch bestimmte Rollen und Perspektiven einzunehmen. Anders als in den frei assoziierten und spontanen Varianten des Rollenspiels sind die Spielsituationen hier aber bewusst inszeniert, d. h. Rollen werden vorgegeben und von den Lernenden ausgestaltet, bevor sie durch Einrollen übernommen werden. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Alltagssituationen zunächst einmal gezielt in ihrer Komplexität reduziert werden, um bestimmte Handlungsaspekte fokussieren und dem Lernen, d. h. hier der Verständigung, zugänglich machen zu können. Allerdings darf das Spiel seinen Improvisationscharakter nicht vollends verlieren, sondern muss den Lernenden Raum für Assoziationen und Spontaneität lassen. Diese Freiheiten führen im Idealfall dazu, dass den Lernenden die Komplexitäten von Handlungen auch in vermeintlich unterkomplexen Situationen deutlich werden.

Die eigentliche Durchführungsphase sollte nicht länger als zehn Minuten dauern, schliesslich geht es um Tiefe und Klarheit einer Handlungssituation, nicht um die Breite der Darstellung. Doch schon in dieser kurzen Zeitspanne können pädagogische Rollenspiele auf vielfältige Weise ihre Wirkung entfalten, wie die folgende Grafik veranschaulicht (vgl. Abb. 1):

Abbildung 1: Wirkungszusammenhänge im pädagogischen Rollenspiel (aus: Roew/Kriesel 2017, S. 230)

Da Rollenspiele trotz – und aufgrund – der angestrebten Trennung von Rolle und Person mehr Emotionen als so manch andere Unterrichtsform auslösen bzw. freisetzen können (und sollen), muss sich die Lehrperson ihrer Klasse, d. h. der einzelnen Charaktere sowie der sozialen Gefüge, sehr bewusst sein. Die emotionale Komponente ist für die Verständigung über Verhaltensweisen allerdings essentiell und im Idealfall ermöglichen die Rolle sowie der geschützte Raum des Klassenzimmers Handlungserfahrungen, in denen der Einfluss von Emotionen sichtbar bzw. spürbar wird.

Anders als tatsächliche Alltagssituationen ist die Spielsequenz beliebig oft wiederholbar und von Seiten der Lehrperson oder den Lernenden modifizierbar, indem die Situation angepasst oder die Rollen neu interpretiert werden. Aber auch Interventionen während des Spiels sind möglich: Beispielsweise lässt sich die Szene «einfrieren», um eine Figur zu einem Selbstgespräch über ihre momentanen Gedanken und Gefühle aufzufordern, um Rollen zu tauschen, zu doppeln oder von Aussenstehenden spiegeln zu lassen. Es lassen sich aber auch Spieltempi variieren (Zeitlupe oder Zeitraffer) und einzelne Verhaltensweisen durch bewusste Übertreibung «vergrössern» oder bewusstes Vernachlässigen «verkleinern».2

Wird die Durchführungsphase ernst genommen und die Basissequenz durch Modifikationen und Interventionen bereichert, erproben und erleben die Lernenden bereits im Spiel, was absichtliches und nicht-absichtliches Handeln bedeutet. In der abschliessenden Reflexionsphase geht es dann darum, die im Spiel gemachten Handlungserfahrungen (der Spielenden) oder Beobachtungen (der Zuschauenden) bewusst zu thematisieren und zu artikulieren.

3. Implizite Handlungsmotive als Verständigungsherausforderung

Der Reflexionsphase des pädagogischen Rollenspiels geht eine explizite Entrollung voraus, d. h. die Rolle wird bewusst abgelegt in dem Moment, in dem der Bühnenraum verlassen wird. Die bis anhin spielende Person spricht ab sofort nicht mehr in der Rolle («Ich, Paul Peters, erwarte …»), sondern ausschliesslich über die Rolle («Paul Peters erwartete in diesem Moment …») und ihre Erfahrungen mit der Rolle («Als Paul Peters erging es mir in diesem Moment …»). Die Lernenden, die das Spiel beobachteten, können ihre Bemerkungen, Kommentare oder Fragen nun nicht mehr direkt an die Rolle richten, sondern allenfalls an die Rollenperspektive der bis anhin spielenden Person («Hat Paul Peters Deiner Meinung nach deshalb so gehandelt …?»). Dabei muss die Lehrperson genau darauf achten, dass die Person bis zuletzt nicht mit ihrer Rolle identifiziert wird.

Werden diese Regeln eingehalten, kann die Reflexion über die erfahrenen oder beobachteten Handlungen in vielfältige Richtungen gehen. So kann z. B. in der Verständigung über ihre Gründe, Motive oder Ursachen darüber nachgedacht werden, ob eine Handlung das Resultat bewusster und rationaler Entscheidungen ist oder eher auf Emotionen oder unbewussten Gewohnheiten basiert. Interessant wäre auch die Frage, welche Wirkungen bestimmte Handlungsgründe, -motive oder -ursachen der einen Figur auf das Handeln einer anderen hat. In den meisten Fällen sind Handlungen von einer Vielzahl verschiedener Faktoren beeinflusst: äusseren Umständen, individuellen Fähigkeiten, persönlichen Werten, Einstellungen, Gefühlen, Erfahrungen usw. Alle diese Faktoren könnten in Verständigungsprozessen grundsätzlich in Betracht gezogen werden, um sich Klarheit über das Handeln zu verschaffen. Da dies kaum leistbar ist, bleibt die Verständigung stets lückenhaft. Das ist insofern kein Problem, als dass das Lernziel in dem Vermögen zu Verständigung besteht und nicht in dessen Vollständigkeit.

Die «Intentions-Verhaltens-Lücke» …

Zum Abschluss möchte ich nun noch eine besondere Herausforderung thematisieren, die bereits im ersten Teil angeklungen war, und dessen Reflexion besondere Aufmerksamkeit verdient: Sich über Handlungen zu verständigen, heisst nicht, dass die von der handelnden Person genannten Motive die wahren sind. Sie kann zur Erklärung einer Handlung nur auf explizite Motive, d. h. ihre bewussten Selbstbilder, Absichten, Bedürfnisse, Werte und Ziele hinweisen. Implizite Motive hingegen liegen ausserhalb ihres eigenen unmittelbaren Zugriffs, da diese aus psychischen Prozessen resultieren, die schnell und nahezu automatisiert auf das emotionale, durch Sozialisationsprozesse «gefütterte» Erfahrungsgedächtnis zurückgreifen und dabei eher unpräzise, mitunter auch irrational auf Gelerntes und Vertrautes setzen (vgl. Roew/Kriesel 2017, S. 67ff.).

Die Unterscheidung von impliziten und expliziten Motiven ist in besonderem Masse verständigungsrelevant, wenn wir auf die Beziehungen zwischen unseren Handlungsabsichten (Intentionen) und unseren tatsächlich erfolgten Handlungen schauen. Diese Verbindungen scheinen nämlich allzu oft seltsam zerrüttet zu sein: Immer wieder entsprechen unsere Handlungen nicht ihren ursprünglichen Intentionen, laufen ihnen gar zuwider. Das Erkennen impliziter Motive kann Lernenden helfen, diese so genannte «Intentions-Verhaltens-Lücke» (vgl. u. a. Roew 2021) zu verstehen. Um auch implizite Motive der Verständigung zugänglich zu machen, bedarf es des Probehandelns sowie des Blicks von aussen, z. B. der Rollenspielreflexion.

Folgende Beziehungen zwischen Intentionen und Handlungen lassen sich unterscheiden:

  • Eine bestimmte Intention (z. B. der Wunsch, das eigene Gerechtigkeitsempfinden zu befriedigen) kann verschiedenen Handlungen vorausgehen [Abb. 2a] und einmal als Motiv zur Unterstützung von Opfern wirksam werden und ein anderes Mal (oder zugleich) als Motiv zur Bestrafung von Tätern.

  • Eine bestimmte Handlung kann von unterschiedlichen Intentionen ausgehen [Abb. 2b]: So möchte eine Person anderen Menschen entweder aus Mitgefühl oder aber aus Berechnung helfen. Vielleicht kombiniert sie die verschiedenen Absichten auch bewusst, indem sie z. B. jemandem hilft, sowohl um ihrem Mitgefühl sichtbaren Ausdruck zu verleihen als auch ihren Wunsch nach sozialer Anerkennung zu befriedigen. – Nicht zuletzt ist es nicht ausgeschlossen, dass sie selbst zwar davon überzeugt ist, allein aus Mitgefühl zu helfen (explizites Motiv), es für Aussenstehende aber offensichtlich ist, dass sie eigentlich durch das Streben nach sozialer Anerkennung getrieben ist (implizites Motiv). Letzteres würde die Person aber wohl als Intention abstreiten.

  • Schliesslich können sich mehrere Intentionen (z. B. Gerechtigkeitsempfinden und Anerkennungsstreben) zugleich auf mehrere Handlungen richten (z. B. Opferhilfe und Täterbestrafung) [Abb. 2c].

Abbildung 2: Beziehungen zwischen Intentionen und Handlungen

Üblicherweise verständigen wir uns über eine Handlung, indem wir entweder auf unausweichliche und unbeeinflussbare Zustände (Ursachen) verweisen oder unsere vorausgegangenen Intentionen, unsere Ziele, Bedürfnisse, Werte usw. als Gründe oder explizite Motive der Handlung, benennen.

Im Fall der Intentions-Verhaltens-Lücke will uns Letzteres nicht recht gelingen, da Handlungsabsicht und Handlung nicht zueinander passen. Diese Diskrepanz zwischen unserem Wollen und unserem Tun führt zu kognitiven Dissonanzen, d. h. Spannungen in unserem Denken, die wir schnell und zielstrebig auflösen wollen. Dazu greifen wir auf verschiedene Strategien zurück: Entweder wir «erfinden» eine Ursache, die die tatsächlich erfolgte Handlung unausweichlich machte. Wir können dann nicht verantwortlich dafür gemacht werden, dass diese nicht unserer Intention entsprach. Oder aber wir modifizieren, relativieren, ergänzen nachträglich die ursprüngliche Intention, bis sie zur erfolgten Handlung passt. Dazu reihen wir Motiv an Motiv («Ich habe das ja so und auch noch so gemeint …»), bis die Inkonsistenzen mehr und mehr verschwimmen und die Lücke zwischen Intention und Handlung wieder geschlossen erscheint.

… und der Einfluss impliziter Motive

Jetzt soll das Ziel eines pädagogischen Rollenspiels nicht sein, Strategien dieser Art zu verfeinern. Nicht die Auflösung der Intentions-Verhaltens-Lücke ist von primärem Interesse, sondern dessen Verstehen. Was passiert auf dem Weg von der ursprünglichen Intention (z. B. «Ich werde Müll recyclen, …») zur entsprechenden Handlung? An Werten oder Überzeugungen, die wir als explizite Motive nennen wollten, mangelt es selten (z. B. «… weil ich Ressourcen schonen möchte.»). An dieser Stelle kommen die impliziten Motive ins Spiel, jene unbewussten, durch Sozialisierung und wiederholte Erfahrung verinnerlichten Einstellungen oder Werte (z. B. «Ich vermeide gerne Anstrengungen.») (vgl. Roew 2021). Sie übersteuern mitunter mit Leichtigkeit eine Intention, bevor sie als Handlung realisiert wird. Stattdessen wird eine andere, mitunter sogar diametral entgegengesetzte Handlung umgesetzt – oder es bleibt bei der Unterlassung der ursprünglich angezielten Handlung. Auf dem Weg von der Handlungsabsicht zur tatsächlichen Handlung haben explizite Motive unseren impliziten häufig kaum etwas entgegenzusetzen. Umso wichtiger ist es, sich der Kraft impliziter Motive gewahr zu werden.

Zum Beitrag des pädagogischen Rollenspiels

Es liegt eine besondere Herausforderung darin, uns unserer impliziten Motive, Werte, Einstellungen bewusst zu werden. Wir können uns ihnen nähern, indem wir von anderen darauf aufmerksam gemacht werden und mehr noch, indem wir sie im Spiel «am eigenen Leib» erfahren. Natürlich sind die Möglichkeiten des pädagogischen Rollenspiels an dieser Stelle begrenzt: Das Erfahren impliziter Motive lässt sich nicht planen oder über Rollenbeschreibungen herbeiführen, seien diese noch so präzise. Je häufiger aber Rollenspiele Teil des Unterrichts sind und je mutiger sich die Lernenden auf Handlungserprobungen einlassen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, mit impliziten Motiven «in Kontakt» zu kommen.

Über die Auseinandersetzung mit der «Intentions-Verhaltens-Lücke» möchte ich aber nicht vergessen zu betonen, dass die Reflexionsphase des Rollenspiels auch hinsichtlich expliziter Motive, Gründe oder Handlungsursachen wertvoll und nicht zu vernachlässigen ist. Sie trägt in jedem Fall dazu bei, dass sich die Lernenden der Hintergründe ihrer Handlungen bewusster werden und diese klarer zu artikulieren lernen.

Fazit und Schluss

Der Lehrplan 21 enthält den Auftrag, den Lernenden soziales und wertgeleitetes Handeln zu ermöglichen. Müssen wir als Lehrpersonen dabei auch zurückhaltend sein in der normativen Festlegung und konkreten Ausgestaltung solchen Handelns, so können wir doch umso intensiver die Verständigung über Verhaltensweisen allgemein zum Gegenstand des Unterrichts machen.

Dazu werden Unterrichtssettings benötigt, …

  1. die Wissen und Können zur Unterscheidung und Benennung von Gründen, Motiven und Ursachen fördern.

  2. die Gelegenheiten bieten, soziales Handeln zu erproben, d. h. real werden zu lassen.

  3. die einen Eindruck von jenen Verständigungsherausforderungen vermitteln, die erst in der Reflexion über tatsächliches Handeln zugänglich werden können, vor allem implizite Motive.

Für diese dreifache Lehr-Lern-Aufgabe ist die Methode des pädagogischen Rollenspiels mit seinen drei Phasen – 1.) Vorbereitung mit Theorieanteilen, 2.) Durchführung spielerischer Handlungserprobungen, 3.) Reflexion von Gedanken und Erfahrungen – in besonderer Weise geeignet. Lernenden wird Handeln ermöglicht, indem es in einem geschützten Rahmen und als Gegenstand intensiver Verständigung real wird. Die Lernenden können unterschiedliches Handeln erproben, da es als Rollenhandeln von ihrer Person konsequent getrennt und ausserhalb des Klassenzimmers konsequenzlos bleibt.

Damit die Handlungsermöglichung im pädagogischen Rollenspiel gelingt, sind weder spezielle schauspielerische Qualitäten erforderlich noch bedarf es besonders subtil ausgefeilter Rollen oder Situationsbeschreibungen. Derlei Unterrichtsmaterial ist umfangreich verfügbar. Was es braucht, sind Zeit, Gelegenheit und Bereitschaft, sich in verschiedenen Verhaltensweisen erproben und sich anschliessend mit den Gründen, Ursachen und Motiven von Verhaltensweisen auseinandersetzen zu können und zu wollen.

Eine Reihe von Fragen schliessen sich an, müssen jedoch an dieser Stelle noch offenbleiben: Braucht es andere Unterrichtsgefässe als die 45-Minuten-Lektion für solche zeitaufwändigen und anspruchsvollen Methoden? Ist das Nachdenken über Gründe, Ursachen und Motive des Handelns rein überfachlicher Natur oder können auch fachliche Aspekte bedeutsam werden? Welche wären das z. B. für das Fach ERG im Hinblick auf soziales und wertgeleitetes Handeln? Welche Kompetenzen müssen angehende Lehrpersonen in ihrer Ausbildung erwerben, um komplexe Handlungsermöglichungen, z. B. in Form von pädagogischen Rollenspielen, anleiten zu können?

Wie auch diese Fragen beantwortet werden – und so schliesse ich den Kreis zum Beginn dieses Textes –, wir kommen als Lehrpersonen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Herausforderungen nicht umhin, unsere Lernenden und letztlich auch uns selbst mit den Gründen, Ursachen und Motiven unseres Verhaltens zu konfrontieren. Wir können die Welt nicht verstehen, sie nicht aktiv mitgestalten und in ihr nicht verantwortlich handeln, wenn wir uns über unser Verhalten nicht verständigen können. Pädagogische Rollenspiele bieten eine besondere Möglichkeit, diesen zentralen Auftrag des Lehrplan 21 ernsthaft anzunehmen.

Literatur

D-EDK (2016): Lehrplan 21. Gesamtausgabe, Luzern. [https://v-fe.lehrplan.ch/container/V_FE_DE_Gesamtausgabe.pdf; 3.11.2023]
Fischer, Johannes (2012): Freiheit des Handelns – Unfreiheit des Willens. Menschliches Verhalten in philosophischer und psychologischer Perspektive, in: Boothe, Brigitte / Cremonini, Andreas / Kohler, Georg (Hrsg.): Psychische Regulierung, kollektive Praxis und der Raum der Gründe. Ein Problemaufriss, Würzburg, S. 33-54.
Heckhausen, Jutta / Heckhausen, Heinz (Hrsg.) (2018): Motivation und Handeln, Berlin.
ISB (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung) (2006): Das pädagogische Rollenspiel im Ethikunterricht. Handreichung, München.
Roew, Rolf (2021): Die Intentions-Verhaltens-Lücke. Wie kann Einsicht handlungsleitend werden?, in: Birnbacher, Dieter / Goergen, Klaus / Tiedemann, Markus (Hrsg.): Normative Integration. Kulturkampf im Klassenzimmer und netzgeprägte Schülerschaft, Paderborn, S. 158-184.
Roew, Rolf / Kriesel, Peter (2017): Einführung in die Fachdidaktik des Ethikunterrichts, Bad Heilbrunn.

Anmerkungen

1 www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Handeln_Handlung

2 Zu diesen und weiteren Interventionstechniken siehe ISB 2006, S. 41-45.

Artikelnachweis
Brandl, Arnd (2023). «In der Welt handeln» – oder warum Rollenspiele so wertvoll sind, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/arnd-brandl-in-der-welt-handeln/