«Begreifen kann man es erst, wenn man mitgelebt und durchgehalten hat.»
Eine Graphic Novel zum inklusiven Zusammenleben
Ross, Mikael: Der Umfall, Berlin 2018 (avant-verlag) |
Diversität und Inklusion sind Zauberworte der heutigen Schule. Postulate und organisatorische Massnahmen sind nicht hinreichend, eine entsprechende Haltung kann erst auf der Basis von Erfahrung wachsen. Einrichtungen für Behinderte sind wie Sonderschulen wertvolle Orte solcher Erfahrungen.
Mikael Ross, ein prominenter Illustrator, hat eine Zeitlang im «inklusiven» Dorf Neuerkerode (in Norddeutschland) gelebt, «in dem Menschen mit und ohne Behinderung, unterschiedlichster Herkunft sowie Prägung das Leben, ihre Arbeit und ihre Freizeit miteinander teilen.»
Seine über hundertseitige Graphic Novel zeigt denn auch das Leben an diesem Ort in all seinen Facetten. Selbst Erinnerungen an die unheimliche «Vernichtung unwerten Lebens» im Nationalsozialismus und damit auch an die Abgründe diakonischer Einrichtungen werden thematisiert.
Vor allem konfrontiert der Band ungeschönt mit belastenden Lebenssituationen, mit echten Bedürfnissen behinderter Jugendlicher, ihren Ängsten und Träumen. Diese Graphic Novel nimmt einen hinein, sie lässt einen nicht unberührt. Man bekommt Respekt vor Nöten und Leistungen, auch denjenigen ihrer Betreuer. Man bekommt sogar Mut und Lust, Anteil zu haben an diesen Herausforderungen, die zum Leben gehören mit seiner nichtidealen Echtheit. Das Buch zeigt Humor und unfreiwillige Ironie. Es geht um Mitleiden und Empathie, aber auch um die Freude und Befriedigung, mit Behinderten zu leben und zu arbeiten, auch ein Aspekt im Rahmen beruflicher Orientierung!
Und nicht zuletzt ermutigen die dargestellten Szenen Heranwachsende, mit ihren eigenen Belastungen, Dramen und Sehnsüchten umzugehen.
Diese Graphic Novel ist kein leitendes Lehrmittel für die ganze Klasse, so erfrischend sie ist. Sie bietet sich immerhin (auch in Teilen) an für Buchbesprechungen (für die man weniger Text lesen muss), auch für Gruppenarbeiten, wenn man Kapitel unterteilt. Man kann auch Einzelbilder als Impulse auswählen. Man kann Sequenzen mit Konfliktsituationen weiterzeichnen lassen. Zumal zu eigenem Zeichnen regt das Buch mit seinem keck und doch liebevoll karikierenden Illustrationsstil an, der Jugendlichen Hemmungen vor eigenen Versuchen nimmt.
Hier wird das Thema Behinderung nicht verniedlicht oder verklärt und auch nicht moralisiert. Da werden dramatische Notsituationen, Spannungen wie Verständnisgrenzen sichtbar. Gerade darum atmet im Buch eine beharrliche Haltung, die allein zählt: «Die Zauberformel gelingenden Lebens in Neuerkerode heisst: ‹Wer bist denn du? Ich habe Lust dich kennen zu lernen. ›»