Leben lässt sich nicht teilen, aber mitteilen


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Leben lässt sich nicht teilen, aber mitteilen

Anisa Alrefaei Roomieh / Maeva Rubli: bei mir, bei dir. Zürich (Edition Moderne) 2021
«Bei mir, bei dir»: Mit diesem einfachen, unmittelbaren Titel wird eine Graphic Novel eröffnet, die besondere Beachtung verdient.
Von Johannes Rudolf Kilchsperger

Das Büchlein ist das komplementäre Werk zweier Frauen: Die Eine enthüllt Momente und Aspekte ihres Lebens mit seiner Geschichte, die Andere verleiht diesem Leben eine ergreifende bildnerische Umsetzung. Die Eine ist aus Syrien geflüchtet und lebt nun mit Familie in Delémont, die Andere ist eine junge Illustratorin aus diesem Ort und hat es gewagt, mit dieser Arbeit ihr Studium an der Hochschule Luzern abzuschliessen. Der Text ergreift in seiner elementaren Knappheit, die Bilder tun es mit ihrer farbigen Opulenz und Frische. Diese Kunst greift die Unmittelbarkeit des Lebens auf, sie macht es mit einer frischen Leichtigkeit zugänglich und erträglich, sie nimmt einen in diskreter Weise ins Leben und Erleben hinein. Hier sind zwei Frauen im Gespräch und es kommt zur Begegnung: Da wird jemand ermutigt sich mitzuteilen und an ihrer Lebensgeschichte und ihrem Umgang mit ihrem Schicksal Anteil zu geben, da hört jemand so intensiv anteilnehmend zu und traut sich, dieser lakonisch andeutenden Erzählung zu Bildern zu verhelfen, die gleichzeitig so unmittelbar direkt wie diskret verhüllend sind. Vielleicht deshalb ist das Büchlein trotz der Weite der Bilder auch so kleinformatig wie ein Taschenbuch. In diesen Bildern wird miterlebt und mitgefühlt, gefragt und nachempfunden. Hier findet ein intimer Austausch statt, eine Würdigung eines individuellen und darin exemplarischen Lebens. Hier wird nicht mit orientalischen Klischees exotisiert, vielmehr menschliche Verbundenheit und Fremdheit in solidarischer Nähe wie respektvoller Distanz sichtbar. Besonders kostbar ist auch der einleitende Text: eine (formal mit Schreibmaschinen-Typen angedeutete) persönliche Niederschrift, eine Anrufung in der Form eines Gebets, einer Konfession, eines Gedenkens, einer Beschwörung, einer Hymne auch.

Dieses Büchlein nimmt einen in ein Miterleben hinein und leitet zur herausfordernden und aufmerksamen, berührenden, bereichernden Begegnung an: das Beste, was eine Graphic Novel eben leisten kann.

Gewöhnlich sind Graphic Novels für Erwachsene gedacht, sprechen jedoch auch Jugendliche an und würdigen oft schwierige Lebensgeschichten. Schülerinnen mögen mit diesem Buch zum Umgang mit Menschen und deren Lebensumständen und -geschichten in ihrem eigenen Umfeld ermutigt werden, dazu ihre Gedanken formulieren oder sogar selber zu Bildern angeregt werden, die Ereignisse, Erfahrungen, Lebenslagen in ihrer Umgebung aufgreifen.

Artikelnachweis
Kilchsperger, Johannes Rudolf (2022). «Leben lässt sich nicht teilen, aber mitteilen», in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), https://www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/leben-laesst-sich-nicht-teilen-aber-mitteilen