Philosophieren mit Bilderbüchern


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Philosophieren mit Bilderbüchern

Ein Leitfaden

Der Beitrag führt in das Philosophieren mit Bilderbüchern ein. Lehrpersonen erhalten einen Leitfaden und eine Kriterienliste an die Hand, die sie beim Philosophieren mit Bilderbüchern unterstützen. Am Beispiel des Bilderbuchs «Die grosse Wörterfabrik» wird konkret gezeigt, wie das Philosophieren angegangen werden kann.

Von Eva Ebel und Inge Rychener

Darf ich mit meiner Freundin streiten? Warum haben nicht alle Kinder genug zu essen? Ist es gerecht, dass mein Bruder länger aufbleiben darf als ich? Sind Steine tot oder lebendig? Muss ich immer die Wahrheit sagen? Was ist, wenn man tot ist? Warum sind einige Menschen arm und andere reich?

Solche Fragen stellen sich viele Erwachsene und auch Kinder. Es sind Fragen, auf die es zahlreiche Antworten gibt. Aufgabe der Lehrperson ist es, diese kindliche Freude am Fragenstellen aufzugreifen und das Nachdenken über philosophische und ethische Fragen anzuregen (NMG 11.2). Dabei machen die Schülerinnen und Schüler die Erfahrung, dass es beim Philosophieren nicht um die eine richtige Antwort geht, sondern um die gegenseitige Bereicherung durch vielfältige Antworten. Für das Gelingen eines philosophischen Gesprächs ist es entscheidend, dass sich die Lehrperson ebenso wie die Kinder auf das gemeinsame Nachdenken einlässt. Ihre Aufgabe ist die Moderation des Gesprächs.

Um Fragen der Kinder, das Nachdenken und den Dialog anzuregen, bietet sich in den Zyklen 1 und 2 die Arbeit mit (literarischen) Bilderbüchern an. Literarische Bilderbücher schaffen durch die Geschichte eine Distanz zur geschilderten Thematik und ermöglichen damit gleichzeitig die Teilhabe an der Geschichte. Die Schülerinnen und Schüler können bei ihren Reaktionen und in ihrem Nachdenken auf der Ebene der Geschichte bleiben oder auch persönliche Erfahrungen und Empfindungen ins Gespräch einbringen. Zugleich sind die Akteurinnen und Akteure der Geschichte mögliche Identifikationsfiguren, um probehalber die Perspektive zu wechseln und in eine andere Rolle zu schlüpfen. Die Bilder werfen im besten Fall zusätzliche Fragen auf, die der Text nur andeutet oder gar nicht enthält.

Ein philosophisches Gespräch, das von einem Bilderbuch angeregt wird, fördert zugleich Kompetenzen der Fachbereiche Deutsch (vor allem aus den Kompetenzbereichen Schreiben und Sprechen [monologisches und dialogisches Sprechen] sowie aus dem Kompetenzbereich Literatur im Fokus) und Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) bzw. Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG):

Die Schülerinnen und Schüler

  • können ihre Gefühle und Gedanken sowie Erlebnisse und Erfahrungen verbal oder nonverbal mit Unterstützung zum Ausdruck bringen (D.3.B.1a).
  • können eine Geschichte verständlich nacherzählen (D.3.B.1d).
  • können die/den Gesprächspartner/in als Gegenüber wahrnehmen und mit ihr/ihm in Kontakt treten (D.3.C.1a).
  • können sich an einfachen, kurzen Gesprächen beteiligen (D.3C1b).
  • können ihren Gesprächsbeitrag in einem Gespräch passend einbringen (z. B. auf andere eingehend, nicht verletzend) (D.3.C.1c).
  • können in vorgelesene und erzählte Geschichten mit Unterstützung von Bilderbüchern eintauchen (D.6.A.1a).
  • können die Sichtweise einzelner Figuren erkennen und sich in sie hineinversetzen (z. B. indem sie die Figuren darstellend spielen) (D.6.A.1d).
  • können unter Anleitung einzelne Figuren aus Geschichten beschreiben und darüber sprechen, was ihnen an der Figur/Geschichte gefällt (D.6.A.2b).
  • können in Geschichten und Berichten menschliche Grunderfahrungen entdecken (z. B. Gelingen, Scheitern, Angst, Geborgenheit), haben die Gelegenheit über vergleichbare Erfahrungen zu berichten und dazu Fragen zu stellen (NMG.11.1a).
  • lernen in Bezug auf Erlebtes und Erzähltes Neugier, Staunen, Befremden und Verwunderung auszudrücken, äussern sich dazu und stellen Fragen (NMG.11.2a).
  • stellen Fragen, die man nicht abschliessend beantworten kann und denken über sie nach und tauschen sich aus (z. B. Was ist Glück? Warum sind wir unterschiedlich?) (NMG.11.2b).
  • können in Geschichten und Alltagssituationen gerechte und ungerechte Momente wahrnehmen und benennen; können anhand dieser Geschichten und Alltagssituationen über Schritte zu mehr Gerechtigkeit sprechen (NMG.11.4a).

Leitfaden für das Philosophieren mit einem Bilderbuch

Buchauswahl

  • Werden möglichst viele der im folgenden Abschnitt aufgelisteten Kriterien für ein gutes Bilderbuch erfüllt?
  • Welche Bezüge gibt es zur aktuellen Situation in der Klasse?
  • Ist das Thema für die Kinder relevant?
  • Welche Kompetenzen des Lehrplans 21 fördert das Buch (NMG bzw. ERG, Deutsch, ggf. weitere Fachbereiche)?

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Buch

  • Welches sind die wichtigen Figuren, was erleben sie, welche Entwicklung machen sie durch?
  • Lohnt es sich, die Bilder genau anzuschauen und regen sie zum Nachdenken an?
  • Zeigen die Bilder nur das, was auch im Text gesagt wird, oder haben Bild und Text einen eigenen Wert für die Geschichte?
  • Welche philosophischen Themen und Unterthemen finden sich im Buch – sowohl im Text wie auch in den Bildern?

Didaktische Überlegungen

  • Wie soll das Buch oder das Thema eingeführt werden? Welche inhaltliche Einstimmung und welche sprachlichen Vorentlastungen sind notwendig? Wie soll die Geschichte dargeboten werden (vorlesen / freies Erzählen, Mundart / Hochdeutsch, an einem Stück / in Abschnitten)? Wie wird gewährleistet, dass Bild und Text parallel präsentiert werden (z. B. eingescannte Bilder über den Beamer zeigen / das Buch über den Visualizer zeigen / ausgedruckte Bilder an Wäscheleine hängen / an der Tafel befestigen / nach und nach auf den Boden legen / mit dem Kamishibai erzählen)?
  • Welche Impulsfragen zum Inhalt der Geschichte sind notwendig oder hilfreich? Wie können Perspektivenwechsel und das Hineinversetzen in einzelne Figuren angeregt werden? Wie kann ein Weitererzählen oder das Fantasieren alternativer Verläufe initiiert werden? Wie können die Kinder angeregt werden, bereits Bekanntes aus der Geschichte in ihre Überlegungen miteinzubeziehen?
  • Worüber wird philosophiert? Bestimmt die Lehrperson oder bestimmen die Schülerinnen und Schüler das philosophische Vertiefungsthema? Welche Impulse der Lehrperson sind gegebenenfalls hilfreich, um die Themen zu entdecken oder um die philosophischen Fragen weiter zu differenzieren? Allenfalls können Bücher und andere Medien für einen Thementisch bereitgestellt werden.
  • Zu welchem Zeitpunkt wird philosophiert (zur Einstimmung auf das Buch / nach einzelnen Abschnitten / nach Beendigung der Geschichte)?
  • Wie wird philosophiert (im Gespräch / mit Zeichnungen / im Rollenspiel / in einer Dilemmadiskussion / mit Instrumenten o. a.)?

Kriterien für ein gutes Bilderbuch zum Philosophieren

Gute Bilderbücher regen zum Nachdenken über grundlegende Fragen zum Leben an. Sie irritieren und animieren zum genauen Hinschauen. Damit stellen sie bisherige Erfahrungen und Meinungen in Frage.

Die folgende Kriterienliste kann helfen, ein geeignetes Bilderbuch zu erkennen.[1]

  1. Inhalt
  • Das Leitthema des Bilderbuches ist ein Thema, das für die Kinder in ihrer Lebenswelt aktuell und relevant ist. Oft ist es ein abstrakter Begriff wie beispielsweise «Glück», «Streit», «Macht» usw. Dieser Begriff wird in der Geschichte durch die Handlung konkretisiert. Diese Konkretisierung kann sprachlich, inhaltlich oder bildlich erfolgen, allenfalls auch typographisch. Das Leitthema ist kein Sachthema wie zum Beispiel «Igel», «Ritter» oder «Wetter».
  • Die Hauptpersonen machen eine nachvollziehbare Entwicklung im Verlauf der Handlung durch (Handlungslogik).
  • Es gibt einen Spannungsbogen (mindestens einen Erwartungsbruch).
  • Die Erzählung regt zum Mit- und Weiterdenken an. Sie ist also nicht eindimensional oder moralisierend.
  1. Bild
  • Die Bilder regen zum vertieften Nachdenken an, sie irritieren, sie lösen Fragen aus usw.
  • Die Bilder sind keine blossen Illustrationen des Textes, sondern bilden zusammen mit dem Text eine Gesamtkomposition. Sowohl Bild als auch Text sind notwendig, damit die Geschichte funktioniert.
  1. Sprache
  • Die Sprache ist kindgerecht, ohne verniedlichend zu sein. Sie ermöglicht eine sprachliche Entwicklung, indem auch anspruchsvolle Begriffe und Fremdwörter wie auch komplexere Sätze verwendet werden.
  • Die Sprache fördert das explizite und das implizite Verstehen. Explizites Erzählen bedeutet, dass der Text und die Bilder direkt ausdrücken, was sie sagen möchten. Sie können also 1:1 verstanden werden. Implizites Verstehen hingegen setzt das Lesen zwischen den Zeilen voraus. Die Lesenden sind aufgefordert, Mitgemeintes zu erkennen.
  1. Wirkung
  • Das Buch fordert die Kinder heraus, ihre eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Ideen zu äussern.
  • Das Buch löst Gefühle (Empathie, Antipathie u. a.) aus.
  1. Handlungsmöglichkeiten
  • Das Buch kann vorgelesen oder erzählt werden und ermöglicht diskursive, produktive und handlungsorientierte Vertiefungen.

Bilderbücher, die diese Kriterien nicht erfüllen, können sich trotzdem zum Philosophieren eignen, wenn man die Metaperspektive einnimmt. So kann z. B. ein moralisierendes Bilderbuch gewählt werden, um die dargestellte Moral mit den Schülerinnen und Schülern zu diskutieren. In diesem Fall geht es nicht um ein «Eintauchen» in die Geschichte, sondern um deren kritische Rezension. So können die Schülerinnen und Schüler für eine hinterfragende Lektüre und das Erkennen von Klischees sensibilisiert werden. Beispielsweise kann das Buch «Teilen macht Spass» von Brigitte Weninger und Eva Tharlet [2] genutzt werden, um allzu einfache Lösungen von Problemen zu diskutieren. In diesem Buch ist das Teilen die einzige Lösung für das vorliegende Problem. Weder im Text noch in den Bildern sind Anregungen zu finden, um über Alternativen nachzudenken. Das Buch kann trotzdem für das Philosophieren genutzt werden, indem die Schülerinnen und Schüler angeregt werden, über die Vor- und Nachteile und die Grenzen des Teilens nachzudenken. Ebenfalls können sie lernen, die mit dem Teilen verbundenen Gefühle zu benennen und zu gewichten.

Konkretes Beispiel: Die grosse Wörterfabrik

Im folgenden Beispiel zum Bilderbuch «Die grosse Wörterfabrik» von Agnès de Lestrade / Valeria Docampo[3] wird aufgezeigt, was die einzelnen Punkte des Leitfadens konkret bedeuten.

Inhalt

Im Land der grossen Wörterfabrik müssen die Menschen alle Wörter, die sie sagen möchten, kaufen. Nur, wer reich ist, hat viel zu sagen. Der arme Paul möchte Marie seine Liebe gestehen, aber es fehlt ihm an Geld, um die Worte zu kaufen. Oskar hingegen ist reich und eröffnet Marie, dass er sie eines Tages heiraten wird. Paul hat alles mitgehört und ist traurig. Trotzdem schenkt er ihr die drei Wörter, die er für sie aufgespart hat. Sie kommen aus tiefstem Herzen. Marie versteht, was Paul mit diesen drei Wörtern sagen möchte und gibt ihm einen Kuss.

Bezug zum Leitfaden

Kriterien des Leitfadens Bezug zum ausgewählten Buch
1. Inhalt  
Das Leitthema (kein Sachthema) wird sowohl in der Handlung wie auch in den Bildern abgebildet. Es ist für die Kinder relevant. Im Buch sind verschiedene Leitthemen zu finden:

–          Armut/Reichtum

–          Liebe/Freundschaft

–          Macht

–          Sprache/Kommunikation.

Das Thema «Armut/Reichtum» ist in den Bildern konkret an der Kleidung und den Accessoires der Figuren zu erkennen. Für Kinder ist das Thema relevant, da die meisten von ihnen materielle Unterschiede im Alltag kennen und Bilder von Armut bereits gesehen haben dürften. Immaterielle Armut, resp. Reichtum (z. B. Gefühle) kann den Kindern bewusst gemacht werden. Das Bilderbuch ermöglicht es betroffenen Kindern, eigene Erfahrungen indirekt zur Sprache zur bringen oder die Seite zu wechseln. Insbesondere kann dies gelingen, weil das Buch das Thema «Armut/Reichtum» in einem Kontext zeigt, den es in Wirklichkeit so nicht gibt. Dies ermöglicht eine Distanz und dadurch gleichzeitig eine Annäherung.

Das Thema «Liebe/Freundschaft» ist für die Kinder sehr relevant, es beschäftigt sie täglich in der einen oder anderen Form. In den Bildern ist es sowohl in der Mimik, in den Farben, in geschwungenen Linien wie auch in weichen Stoffen abgebildet.

Das Thema «Macht» ist ebenfalls ein sehr relevantes Thema für die Kinder, z. B. bei Fragen wie «Wer bestimmt, was gespielt wird?» oder «Wer entscheidet, was zu Mittag gegessen wird?». Macht zeigt sich im Buch in düsteren Farben, Ecken, geraden Linien und Metall.

Es werden vielfältige Kompetenzen des Lehrplans 21 gefördert. Folgende Kompetenzen aus dem Bereich Philosophieren/Ethik werden hier speziell gefördert:

Die Schülerinnen und Schüler

·         können in Geschichten und Berichten menschliche Grunderfahrungen entdecken (z. B. Gelingen, Scheitern, Angst, Geborgenheit), haben die Gelegenheit über vergleichbare Erfahrungen zu berichten und dazu Fragen zu stellen (NMG.11.1a).

·         lernen in Bezug auf Erlebtes und Erzähltes Neugier, Staunen, Befremden und Verwunderung auszudrücken, äussern sich dazu und stellen Fragen (NMG.11.2a).

·         stellen Fragen, die man nicht abschliessend beantworten kann und denken über sie nach und tauschen sich aus (z. B. Was ist Glück? Warum sind wir unterschiedlich?) (NMG.11.2b).

·         können dabei materielle und immaterielle Werte unterscheiden (z. B. Besitz, Freundschaft) (NMG.11.3a).

·         können in Geschichten und Alltagssituationen gerechte und ungerechte Momente wahrnehmen und benennen; können anhand dieser Geschichten und Alltagssituationen über Schritte zu mehr Gerechtigkeit sprechen (NMG.11.4a).

Neben den Kompetenzen des Fachbereichs Deutsch, die grundsätzlich mit dem Philosophieren gefördert werden, tragen die Themen «Sprachenvielfalt», «Entstehung von Wörtern» und «Gruppierung von Wörtern» zur Förderung weiterer Kompetenzen bei:

Die Schülerinnen und Schüler

·         können sprachliches Material nach vorgegebenen Kriterien auswählen und ordnen (z. B. Wörter nach Anlaut sortieren, Reime ordnen, Wörter zu Begriffsfeld sammeln, Grussformen sammeln) (D.5.A.1a).

·         können erste Erfahrungen mit der Sprachenvielfalt in der Klasse sammeln (z.B. Begrüssungsrituale, Sprachmelodie, Lieblingswörter) (D.5.B.1a).

·         können sich über Erfahrungen mit verschiedenen Formen von Gesprächsverhalten austauschen (z. B. Grussformeln, Gesprächsregeln und Gebrauch Mundart/Standardsprache in verschiedenen Situationen) (D.5.B.1b).

Das Thema «Armut/Reichtum» ermöglicht eine Verbindung zu weiteren Kompetenzen des Fachbereichs Natur, Mensch, Gesellschaft:

Die Schülerinnen und Schüler

·         erkunden Tauschbeziehungen (z. B. auf dem Wochenmarkt, im Supermarkt, im Hofladen) und können Regeln und deren Bedeutung erkennen (z. B. Angebot, Nachfrage, Ware gegen Geld, Interessenskonflikte, Kooperation der Tauschpartner) (NMG.6.4b).

·         können Eigenschaften von Tauschmitteln erklären (z. B. begehrt, knapp, portionierbar, haltbar, echt) und die Funktion von Geld in Tauschgeschäften erkennen (NMG.6.4c).

Die Hauptpersonen machen eine nachvollziehbare Entwicklung im Verlauf der Handlung durch (Handlungslogik). Paul erkennt, dass der Mut, die drei Wörter zu sagen, ihn zum Ziel führt.

Bei Oskar und Marie sind keine Entwicklungen zu erkennen.

Es gibt einen Spannungsbogen (mindestens einen Erwartungsbruch). 1. Spannungsbogen: Oskar, Paul und Marie im Treppenhaus: Wie reagiert Marie?

2. Spannungsbogen: Kommt Paul an sein Ziel?

3. Spannungsbogen: Welches Wort sagt Paul zum Schluss?

Die Erzählung regt zum Mit- und Weiterdenken an. Sie ist also nicht eindimensional oder moralisierend. Aufgrund der Themenvielfalt ist die Geschichte nicht eindimensional, sie regt auf verschiedenen Ebenen zum Weiterdenken an. Sie regt das das moralische Wahrnehmungsvermögen an, ohne moralisierend zu sein.
2. Bild (Farbwahl, Linien/Formen, Komposition der Figuren)
Die Bilder regen zum vertieften Nachdenken an, sie irritieren, sie lösen Fragen aus usw. Es sind zwei Hauptfarben erkennbar: Rot und Sepia in verschiedenen Schattierungen. Die Inhalte auf jeder Seite regen zum genauen Hinschauen und Reflektieren an.

Die Bilder verstärken die Kontraste der beiden Welten von Oskar und Paul: Oskar wird in geraden Linien und Formen und dunklen Farben dargestellt. Dadurch wirkt er bedrohlich, distanziert, kühl. Paul hingegen wirkt durch die geschwungenen Linien seiner Kleidung und seines Körpers weich und liebevoll.

Die Bilder sind keine blossen Illustrationen des Textes, sondern bilden zusammen mit dem Text eine Gesamtkomposition. Sowohl Bild als auch Text sind notwendig, damit die Geschichte funktioniert. Die Bilder unterstützen oder ermöglichen das Erkennen der Gefühle. Perspektiven und die Grösse/Position der Figuren machen wichtige Aussagen, die im Text allein nicht erkennbar sind. So wird Oskar z. B. durch seine Grösse und seinen Umfang als dominant und mächtig dargestellt. Die Spirale (Treppe) kann als Symbol des Weges zum Zentrum, resp. als Symbol des Wachstums verstanden werden. Das Spiel mit der Typographie (Grösse der Buchstaben) verstärkt die Aussagen zusätzlich.
3. Sprache (Satzbau, Stilmittel, Wortschatz)
Die Sprache ist kindgerecht, ohne verniedlichend zu sein. Sie ermöglicht eine sprachliche Entwicklung, indem auch anspruchsvolle Begriffe und Fremdwörter wie auch komplexere Sätze verwendet werden. Die Sprache passt zum Inhalt: viele klare Hauptsätze (Parataxe), wer reich ist, verwendet auch Haupt- und Nebensätze, kaum anspruchsvolle Begriffe.
Die Sprache fördert das explizite und das implizite Verstehen. Explizit wird die materielle Armut, resp. der materielle Reichtum angesprochen. Kompetenzen im impliziten Verstehen sind im Begriff «lächeln», das mehrmals erwähnt wird, gefordert. Implizit sind die Themen «Macht» und «Liebe/Freundschaft» in der Sprache verborgen.

Oskars Sprache wirkt roboterhaft und herrisch, was sich auch in der Typographie zeigt. Er verfügt zwar über viele Wörter und kann zusammenhängende Sätze bilden, was ihn als reichen Jungen auszeichnet. Die Sprache wirkt aber kalt und leer. Obwohl Pauls Sprache nur aus einigen (bedeutungslosen) Wörtern besteht, werden sie voller Wärme und Zuneigung gesprochen.

4. Wirkung
Das Buch fordert die Kinder heraus, ihre eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Ideen zu äussern. Die Kinder können zu allen vier Leitthemen eigene Erfahrungen und weitergehende Gedanken formulieren.
Das Buch löst Gefühle (Empathie, Antipathie u. a.) aus. Das Buch arbeitet mit dem Schwarz-weiss-Schema, das Kinder gut verstehen: Hier der liebe Paul und die liebe Marie, dort der böse Oskar. Dieses Schema könnte mit den Kindern aufgebrochen und reflektiert werden.
5. Handlungsmöglichkeiten
Das Buch kann vorgelesen oder erzählt werden und ermöglicht diskursive, produktive und handlungsorientierte Vertiefungen. Einstieg

·         Auf der Sprachebene bietet es sich an, mit dem Titel «Die Wörterfabrik» zu arbeiten: Worum könnte es in diesem Buch gehen? Was passiert in einer «Wörterfabrik»?

·         Auf der thematischen Ebene kann zwischen den Themen «Armut/Reichtum», «Macht», «Liebe/Freundschaft» gewählt werden: Dazu können passende Bilder aus dem Buch kopiert und deren Bildwirkung im Zusammenhang mit dem Thema besprochen werden.

·         Während der Erarbeitung den Fokus entweder auf eines der Themen oder die Sprachebene legen. Erst anschliessend den Fokus wechseln.

Darbietung

·         Das Buch sollte wörtlich vorgelesen werden, da die Sprache eine wichtige Rolle spielt, die beim freien Erzählen verloren geht.

·         Während der Darbietung der Geschichte muss sichergestellt werden, dass der Fokus auf den Fortgang der Geschichte nicht verlorengeht.

Mögliche Impulsfragen:

·         zum ganzen Buch: Wie geht es den Figuren? Woran erkennt ihr das? Was bedeuten die Farben? Wie wirken sie auf euch? Warum sind einige Wörter wertvoll andere wertlos? Wie kann man sich ohne Worte verständigen?

·         nach der Begegnung mit Oskar im Treppenhaus: Wie wirkt Oskar auf euch? Was kann Paul nun machen? Was geht Marie durch den Kopf? Wie hätte sie Paul unterstützen können?

·         nach dem Vorlesen der gesamten Geschichte: Ist Marie arm oder reich? Wie begründet ihr das? Wieso hat Paul am Ende doch noch Erfolg? Wie geht es Oskar nun? Was könnte er nun tun?

Mögliche Umsetzungen:

·         Rollenspiel

·         Gespräch

·         zwei- oder dreidimensionale Gestaltung

·         musikalische Stimmungsbilder

Vertiefungen zum Thema «Sprache/Kommunikation»:

·         Die LP gibt einen Satz vor oder die Kinder wählen selber einen aus. Sie versuchen, diesen Satz ohne Wörter auszudrücken oder darzustellen. Die anderen Kinder raten, was dargestellt wird.
Weiterführung: Gemeinsam überlegen: Was lässt sich einfach/schwierig darstellen? –> Hinführung zur Unterscheidung von konkreten und abstrakten Begriffen

·         Die Kinder sortieren selbst gewählte, im Wörterbuch nach Anleitung gesuchte oder vorgegebene Wörter nach vorgegebenen Kriterien (z. B. nach Kategorien aus dem Bilderbuch wie «böse Wörter», «Kosewörter») oder nach «wertvoll» – «wertlos». Sie reflektieren und begründen ihre Zuordnungen.

·         Fokus auf das Wort «nochmal»: Warum ist dieses Wort hier wichtig? Wie könnte es sonst noch eingesetzt werden?

·         Zum Buch gibt es eine App, in der die Geschichte als Film erzählt wird. Die Art des Sprechens, die im Buch durch die Typographie dargestellt wird, wird hier hörbar: Oskar spricht roboterhaft, Paul lieblich. Die Kinder können diese Arten des Sprechens imitieren und als Steigerung Sätze bewusst «verkehrt» sprechen, indem Inhalt und Sprachform nicht übereinstimmen. Vor diesem Hintergrund können sie die Frage beantworten, warum Paul trotz der wenigen und unzusammenhängenden Wörter erfolgreich war.

Vertiefungen zum Thema «Armut/Reichtum»:

·         philosophisches Gespräch zur Frage «Sind Reiche nur glücklich und Arme nur unglücklich wie im Buch oder ist es umgekehrt?» Weiterführung: philosophisches Gespräch oder Zeichnungen zur Frage «Was macht glücklich?»

·         Das Thema kann durch Kindersachbücher wie «Schüler fragen nach Armut»[4], «Wie ist das, wenn man arm ist? Alles über Armut und Hunger»[5], durch Kindererklärfilme wie «Gibt es Armut in der Schweiz?» [6] oder Internetseiten wie «Was ist Armut?»[7] vertieft werden.

Vertiefungen zum Thema «Macht»:

·         philosophisches Gespräch zur Frage «Wie viel Macht hat Oskar?»
Weiterführung: philosophisches Gespräch zu den Fragen «Wann ist jemand ‹mächtig›?», «Was bedeutet ‹Macht haben›?»

Vertiefungen zum Thema «Liebe/Freundschaft»:

·         Die Kinder versetzen sich in Marie hinein: Warum entscheidet sich Marie für Paul?

Vertiefung zur Gewichtung der Themen in diesem Buch:

·         Zu diesem Buch gibt es drei komplett unterschiedliche Umschlagbilder.

1. Auflage 2009
4. Auflage 2018
Jubiläumsausgabe 2020

·         Aufgrund der Veränderungen von Titelbild 1 bis Titelbild 3 drängt sich die Liebesgeschichte zunehmend auf und schiebt die sozialkritischen Aussagen der Geschichte beiseite. Auch werden dadurch weitere wichtige Fragen unwichtig wie z. B. «Wie sprechen die beiden miteinander?».

·         Es lohnt sich, auch mit den Kindern mit diesen drei Bildern zu arbeiten. Folgende Fragen sind möglich: Wie wirken die Bilder? Was bewirken sie? Was hat sich der Verlag dabei gedacht?

Fazit

Das Philosophieren mit Bilderbüchern zeigt die enge Verbindung der Fächer Deutsch und NMG bzw. ERG auf. Dabei gilt es, die Bilderbücher als literarische Werke und als unterrichtsleitende Medien ernst zu nehmen. Zusätzliche Möglichkeiten zu inhaltlichen Vertiefungen, zu einem fächerverbindenden Unterricht und zur Einübung eines kritischen Umgangs mit Literatur und Medien bieten sich, wenn zu den Bilderbüchern veränderte Auflagen, Verfilmungen oder Apps vorliegen.

Anmerkungen

[1] Für Detailinformationen vgl. https://bilderbuchblog.ch/bilderbuchauswahl.
[2] Weniger, Brigitte / Tharlet, Eva (2018): Teilen macht Spass, Bargteheide, classicminedition.
[3] Lestrade, Angès / Docampo, Valeria (32020): Die grosse Wörterfabrik, München, mixtvision.
[4] Bauer, Jutta / Haines, Katharina (2000): Schüler fragen nach Armut, Hamburg, Carlsen Verlag.
[5] Spilsbury, Louise / Kai, Hanna (2018): Wie ist das, wenn man arm ist? Alles über Armut und Hunger, Gabriel Verlag, Stuttgart.
[6] Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) (2017): Gibt es Armut in der Schweiz?  URL: www.srf.ch/play/tv/clip-und-klar/video/gibt-es-armut-in-der-schweiz?urn=urn:srf:video:49948d83-6758-4353-b655-5eff6f1936f6 (Zugriff 26.01.2022).
[7] Südwestrundfunkt (SWR) (2021): Was ist Armut? URL: www.kindernetz.de/wissen/was-ist-armut-102.html (Zugriff 26.01.2022).
Artikelnachweis
Ebel, Eva; Rychener, Inge (2022). Philosophieren mit Bilderbüchern, in: erg.ch – Materialien für das Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), https://www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/philosophieren-mit-bilderbuechern

Über Eva Ebel

Prof. Dr. Eva Ebel ist Direktorin von unterstrass.edu (Institut Unterstrass an der PH Zürich und Gymnasium Unterstrass) und Dozentin für die Didaktik des Faches «Religionen, Kulturen, Ethik» am Institut Unterstrass an der PH Zürich.

Über Inge Rychener

Dr. Inge Rychener ist Dozentin für die Didaktik des Faches «Deutsch und Deutsch als Zweitsprache» sowie Leiterin der Abteilung Weiterbildung & Dienstleistungen am Institut Unterstrass an der PH Zürich.