Die Welt retten


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Die Welt retten

Über das Lesen von schwierigen und alten Texten in ERG/Religionslehre

Die Arbeit an Textklassikern in ERG/Religionslehre ist schwierig, aber in verschiedener Hinsicht ebenso notwendig wie verheissungsvoll: Schülerinnen und Schüler lesen und deuten alte, Geltung beanspruchende Antworten auf Fragen, die sie selber allzu gut oder auch gar nicht kennen. Die Lernenden erweitern so ihr Verständnis von Welt und Mensch und werden zu kritischen Zeitgenossen.
Von Rolf Bossart

Wenn ich im Folgenden dafür plädiere, im Unterricht wieder vermehrt Texte zu lesen und damit zu arbeiten, meine ich damit zuerst ganz allgemein jegliche Art von Schriftlichkeit. Im Speziellen sind aber aus Sicht des Fachs ERG vor allem alte, klassische, durch wiederholte Lektüre und Interpretation bedeutsam gewordene Texte gemeint, insbesondere Überlieferungsgut ohne bestimmte Autorschaft bzw. durch Autoren oder Autorinnen neuformuliertes altes Erzählgut oder Textmaterial. Ich möchte meinen Überlegungen drei Hypothesen voranstellen.

1. Hypothesen

Hypothese eins

Religionen, insbesondere monotheistische, im Unterricht in einer Weise zur Sprache zu bringen, die weder Exotisierung noch Irrationalisierung ihres Gegenstandes betreibt, muss der Schriftlichkeit besondere Bedeutung beimessen, was auf jeder Zielstufe die Arbeit mit den Texten mittels Erzählen, Lesen, Interpretieren usw. erfordert.

Hypothese zwei

Es ist schwieriger geworden, mit Schülerinnen und Schülern schwierige Texte zu lesen.

Hypothese drei

Lehrpersonen sehen im Lesen schwieriger Texte zunehmend weniger Sinn. Die Vorbehalte nehmen in der Regel mit dem Alter der Texte zu.

Zu eins

Wer Religionen vor allem über Riten und Praktiken kennen lernen oder lehren möchte, wie es in vielen Lehrmitteln favorisiert ist, läuft Gefahr, Religion nur als eine kulturelle Äusserung unter anderen zu verstehen, etwa auf der Ebene eines speziellen, ausgefallenen Sports, der irgendwo weit weg praktiziert wird. Die existentielle und damit universelle Dimension von Religionen ist dagegen am besten mittels einer intensiven Auseinandersetzung mit deren zentralen Texten einsichtig.

Zu zwei

Mit dem Verhältniswort «schwieriger» ist zweierlei gemeint: Erstens, einen Text zu lesen ist immer schwierig und war immer schwierig, die Frage ist einfach, wann wird wie intensiv an dieser Hürde in der Schule gearbeitet. Wird, wie die Erfahrung im Schulalltag sowie ein Blick in die Lehrmittel zeigt, die Arbeit an bestehenden Texten mehrheitlich auf die Oberstufe verschoben, fällt es dort den Schülerinnen und Schülern umso schwerer und wird umso weniger stattfinden. Das Verhältnis der Hausaufgaben meiner drei Kinder, bei denen es ums Lesen und Bearbeiten eines Textes ging und solchen, die sich um das Lernen von Vokabeln, grammatischen Regeln oder um Mathe drehten, lag während der Primarschulzeit etwa bei 1:25. Die neuen Lehrmittel haben in der Regel sehr viel weniger längere Texte und in den Aufgabensets kommt das Erzählen, Fragen, Darstellen, Diskutieren oft um einiges vor dem Lesen, Schreiben, Interpretieren. Zweitens: Die Gewöhnung an filmbasierte kurze Aufmerksamkeitssequenzen und die Verschiebung der Wahrnehmungsmodi von der Schrift zum Bild sind mittlerweile gut erforschter Common Sense und tragen vorsichtig formuliert zumindest nicht zur Stärkung der Textarbeit bei.

Zu drei

Mein Vorgänger legte beim Übergabegespräch sehr viel Gewicht in den einen Tipp: «Lies mit den Schülerinnen und Schülern nur bloss keine Originaltexte, die sind viel zu schwierig und demotivierend.» Eine Dozentin rühmte sich letzthin bei einem Steh-Lunch: «Ich verbiete meinen Studierenden, Literatur zu zitieren, die älter als 15 Jahre ist.» Bei Unterrichtsbesuchen begegnete mir vor theoretischen Einführungen bzw. der Lektüre abstrakter Texte wiederholt die Einleitungsphrase, dass das halt auch dazugehöre und man das selber auch nicht so gerne mache und nachher ja bald wieder was anderes komme.

Ich habe weder die Erfolgsstory vorzuweisen, wie ich aus der Textarbeit maximalen Lernertrag bei maximalem Spass herausgeholt habe, noch kann ich eine neue hermeneutische Methode bzw. Lesetechnik vorschlagen. Ich weiss, wie mühsam Textarbeit sein kann. Ich möchte hier einfach Bericht geben von meiner ganz gewöhnlichen und regelmässigen Lesepraxis im Unterricht und dieser einige Gründe voranstellen, warum ich glaube, dass das kontinuierliche Lesen alter und schwieriger Texte in der Schule die Welt retten kann. (Wobei die Diskrepanz zwischen der Banalität der Praxis («gewöhnlich») und dem Pathos ihrer Begründung («zur Rettung der Welt») eine bewusste methodische Vorentscheidung darstellt, die so oder ähnlich wohl bei jeder Lehrperson, die sich dem Lesen und Aktualisieren alter Texte im Unterricht widmet, am Werk ist.)

2. Apologie

a) Argumente und Leidenschaft

Jede Lehrkraft, die kontinuierliche Textarbeit im religionskundlichen Unterricht machen will oder soll, weiss um den apologetischen Charakter ihrer Bemühungen, in einer bildbasierten und säkularen Umwelt den Sinn dieser Tätigkeit zu vermitteln. Mag es auch, gemessen an der schwierigen Auslegungsgeschichte Heiliger Texte, dafür eine evidente Berechtigung geben, so sei angemerkt, dass das Joch der Rechtfertigung von Textarbeit auch zunehmend andere zu tragen haben. Zum Beispiel die Literatur- oder die Geschichtslehrpersonen, um nur zwei Fächer zu nennen, die den Bedeutungsverlust von Schriftlichkeit als Offenbarungs- bzw. als Erkenntnisträger in säkularen, kapitalistischen Gesellschaften ebenfalls stark zu spüren bekommen. Daraus folgt die Notwendigkeit, die Textarbeit, wo man sie in Angriff nimmt, jeweils mit guten Argumenten und mehr noch mit Leidenschaft immer wieder neu zu positionieren.

b) Spezifische Form der erweiterten Aneignung von Welt

In einem Gespräch über Lesen und Schriftlichkeit mit Roland Reichenbach, Professor für allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich, findet sich folgende Passage:

«Wer die Erfahrung des Mühsam-Erlesenen und Studierten macht, weiss, welche Freude damit verbunden sein kann, und er oder sie wird empfindsam für den Reichtum nicht nur der Sprache, sondern der Welt. Durch schriftliche Sprachlichkeit, weil sie die Erinnerungsfähigkeit durch blosses Wiederholen zu schulen hilft, erweitert sich unser Wortschatz, zunächst passiv, dann immer mehr auch aktiv. Es erweitert sich das Wissen um Redewendungen, Geschichten und die nahezu unendlichen Möglichkeiten der Kombinatorik und Neubildung – und damit schieben wir die Grenzen des Sagbaren und Ausdrückbaren zunehmend in den Bereich hinaus, der uns vorher in Stummheit verschlossen war. Diese Erweiterung, an der wir mit der Zeit auch auf bewusste Weise arbeiten können, ist zugleich eine Erweiterung unseres Selbst- und Welterlebens. Wir empfinden reicher, breiter und tiefer und überwinden den Gegenwartszentrismus, weil wir damit auch die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft auf dichtere und reflektierte Weise verknüpfen. Lesen, aber natürlich auch Schreiben, was die Voraussetzung des Lesens darstellt, leistet m. E. den grössten Beitrag in der Bearbeitung des Stoffes, der uns zu Identität verhilft, oder wenigstens Orientierung für die Selbstverortung gibt. Wer zu lesen beginnt, kann auf Erweiterung hoffen, wer mit lesen aufhört, dessen Welt- und Selbstsicht wird früher oder später zunächst stagnieren und dann zusammenschrumpfen.» (Reichenbach 2020)

Diese Behauptung impliziert, dass man beispielsweise in der blossen Begegnung oder im Gespräch gewisse Dinge nicht lernen oder erfahren kann. Ich glaube, dass diese Behauptung richtig ist, und zwar sowohl in Hinsicht auf das Lesen alter Texte, weil man da immer wieder auf Gedankengänge und Wendungen stösst, wovon die Gegenwart nichts mehr weiss, und auch, was das Lesen längerer Texte und Bücher betrifft, die so etwas wie Zustimmung oder Kritik auf einer anderen, vielleicht differenzierteren Ebene ermöglichen als der gewöhnliche Meinungsaustausch. Denn erst der lange Text verrät oder bestätigt seinen Anspruch unweigerlich in derselben Weise, wie der sogenannte wahre Charakter erscheint: Erst in grosser Intimität oder in aussergewöhnlichen Bewährungssituationen. Die Lesenden haben die Möglichkeit, Vergessenem neue Aktualität zu verleihen, aber auch allzu Aufgeladenes zu relativieren. Indem ich selber lese, was geschrieben wurde und was geschrieben steht, hole ich auch nach, was ich vor meiner Geburt «versäumt» habe.

c) Kollektiver Bildungsprozess

Nehmen wir etwa die endlosen, für den Fortbestand der Religion sehr bedeutenden Diskussionen im alten Judentum über den Sinn der Heiligen Schriften wie sie im Talmud überliefert sind. Da setzte sich jeweils der Belesenste, der mit dem geistreichsten Vorschlag durch. Doch die grossen Anstrengungen einer möglichst vielfältigen Auslegung der Texte hatten nur einen Sinn, weil ihnen die Ansicht zu Grunde lag, dass die Heilige Schrift immer neu zu ergründen sei und Gott immer mehr Bedeutungen in sie hingelegt habe als die Menschen je fassen könnten. Wir können allgemein für die Lektüre Heiliger Texte folgende sich gegenseitig unterstützende Bewegungen feststellen: Weil die Heilige Schrift Autorität hat, ist ihre ununterbrochene Lektüre und Diskussion so wichtig. Aber umgekehrt behält die Heilige Schrift ihre Autorität nur solange wie man sich permanent mit ihr beschäftigt. Können wir nicht ein ähnliches Prinzip für die Lektüre von Klassikern im Sprachunterricht feststellen? Wie die Bibel, so wird auch Goethe immer wieder von einzelnen für sich entdeckt werden, aber eine gesellschaftliche Relevanz behält er nur, wenn er weiterhin Referenzpunkt für viele ist, das heisst konkret, wenn er in den Schulen Pflichtlektüre bleibt. Das bedeutet, dass die Volksschule wenigstens einen gewissen Einfluss hat auf die Bedeutsamkeit von Texten, auch wenn sie sich natürlich in der Kanonisierung ihrer Lektüren gründlich irren kann, wie die 200-jährige Pflichtlektüre von Schillers Glocke zeigt, die Generation um Generation in deutschen Schulen mit ihrem antidemokratischen Grundton geprägt hat. Der geringe gesellschaftliche Nutzen der Schrift hat also m. E. einerseits starke ausserschulische, vor allem ökonomische Gründe der fehlenden Rentabilität des Lesens, aber auch innerschulische der Missachtung der Regeln des Aufbaus von kollektiver Bedeutsamkeit in Bildungsprozessen.

d) Bedeutsamkeit

Das wiederholte Hören, Lesen und Beschäftigen mit längeren, schwierigeren Texten ist nicht für jeden Einzelnen eine Notwendigkeit für ein glückliches bzw. beruflich erfolgreiches Leben. Es kann aber unter Umständen für die Einzelnen bedeutsam werden. Es ist wie mit anderen Fertigkeiten und Leidenschaften auch. Es reicht meistens, wenn einige in der Gesellschaft etwas Bestimmtes tun und lieben. Aber damit es auch von den anderen wertgeschätzt und verstanden wird, muss die öffentliche Bedeutung für das Lesen und Bearbeiten von religiöser, philosophischer oder belletristischer Literatur, da es nicht durch die Evidenz ökonomischer Verwertbarkeit geadelt ist, vor allem in der Schule aufgebaut werden. Selbstverständlich glaube ich zudem, dass die Liebe zu wichtigen Texten der Menschheitsgeschichte und die Bereitschaft möglichst vieler, sich immer wieder aufs Neue auf diese Texte einzulassen, uns als menschliche Gattung davor bewahrt, alle Fehler immer wieder von Neuem zu begehen und gerade im Internetzeitalter auf jede neue und alte Unwahrheit hereinzufallen. Aber es bleibt wohl, selbst angesichts neuerer Studien, die in diese Richtung weisen, ein Glaube, letztlich nicht beweisbar. Und doch ist er für mich die Hauptmotivation, im Unterricht die Arbeit mit alten, klassischen Texten weiterzuführen. Ohne dieses zugegeben etwas starke Pathos schafft man es auf Dauer wohl nicht, abseits der grossen Wertströme Bedeutungen zu erhalten, zu relativieren, zu modifizieren und aufzubauen.

3. Texte lesen und bearbeiten in ERG und am Gymnasium

Abschliessend einige Prinzipien für die Textarbeit und Lesepraxis im ERG-Unterricht. Formuliert aus der Perspektive meines eigenen Unterrichts am Gymnasium. Es versteht sich von selbst, dass ich diese Prinzipien immer gerade dann sehr wahr und wichtig finde, wenn eine Stunde gelungen ist und immer dann nutzlos und veraltet, wenn es daneben ging.

  • Wir lesen Texte, egal ob Geschichten oder theoretische Abhandlungen, im Unterricht immer zunächst als Antworten auf Probleme oder vorhergehende Texte. Der Ansatz lautet: Wenn dieser Text die Antwort ist, was war dann die Frage, die zum Schreiben veranlasst, zur Erzählung gedrängt, zur Neuformulierung genötigt hat? Es gibt durch die Krise des Sprechens über Wahrheit eine Tendenz zur Stilisierung der Frage zum absoluten Sinnträger. Dies ist mehr oder weniger explizit auch in den Begründungen für das Philosophieren mit Kindern, das im neuen Lehrplan zu Recht einen wichtigen Platz bekommen hat, sichtbar. Die möglichen Antworten sollen «spielerisch» sein, «experimentell», reine «Versuchsanordnungen». Es wird kaum thematisiert, dass die Antworten irgendeinen Geltungsanspruch haben könnten. Wie aber bleibt dann die Frage relevant, wenn es die Antworten nicht sind? Ich glaube nicht, dass die Frage alleine existieren kann ohne Antwort. Fragen ergeben sich vor allem aus Geltungsansprüchen von Antworten, die uns einerseits die blosse Wirklichkeit und andererseits das in Texten verschriftlichte Nachdenken darüber aufdrängt. Und wenn es ein Ziel von Bildung ist, durch vertiefte Fragen zu vertiefenden Antworten zu kommen, ist es notwendig, möglichst viele solcher Antworten aus der Tradition zu kennen, was erst die Möglichkeit ergibt, diese dann zu kritisieren. Denn schliesslich führt jede Antwort – zumindest über existentielle Fragen, die zwangsläufig unbefriedigend bleiben müssen – irgendwann auch zur In-Fragestellung dessen, was ist.
  • Die Lektüre und das Bearbeiten von komplexen Texten kann, wenn es erst auf der Oberstufe bzw. im Gymnasium geübt wird, nur noch mit grösster Mühe gelernt werden. Im Sinne eines stufenweisen Kompetenzaufbaus schlage ich daher folgende «Leseordnung» bzw. Textarbeit vor:
    Schwerpunkt im Zyklus 1: Texte zeigen und zum Klingen bringen: Erzählen, Vorlesen, Befragen, Darstellen, Nacherzählen.
    Schwerpunkt im Zyklus 2: Texte lesen und schreibend erarbeiten:Lesen, Nachdenken, Nachschreiben, Variieren, Philosophieren.
    Schwerpunkt im Zyklus 3 und Sekundarstufe II: Texte als bereits vielfach gelesene und interpretierte verstehen und sich selber als Teil einer Lese-Tradition verstehen bzw. sich davon abgrenzen: Kommentierendes Lesen, Kommentare lesen, Diskutieren, Interpretieren, Zitieren.
  • Es ist klar: Wir lesen im Unterricht Texte, die zwar andere zuvor wichtig gefunden haben, die die Schülerinnen und Schüler gerade jetzt vielleicht nicht wichtig finden. Aber sie nehmen automatisch die Dringlichkeit der Problemstellung zur Kenntnis, wenn sie sehen, wie lange schon wie viele Menschen sich damit beschäftigt haben. Dazu ist es notwendig, auch immer die Zeitdimension sichtbar zu machen: Dies beginnt im Zyklus eins etwa mit der Märchenformel «Es war einmal vor langer Zeit als das Wünschen noch geholfen hat …» und mündet in die mehr oder weniger intensiv zur Sprache gebrachte Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der Texte. Und manchmal, noch im Unterricht oder auch irgendwann viel später, kann man dann diese wundersame Verwandlung erkennen, in der der fremde Text aus einer alten Zeit sich in eine eigene Sache verwandelt: er wird nacherzählt, er wird zitierfähig. Denn wie Brecht sagte: «Wichtig ist nur, was wichtig wurde.» Und man kann damit Teil werden der gesamten Lesegemeinschaft, die sich je mit diesem Text beschäftigt hat. Man ist Teil einer bestimmten Tradition, Teil der Vergangenheit und weil man sich in ihr auskennt, kann man sich, wo nötig, auch kritisch davon distanzieren. Denn der Wiederholung der Vergangenheit entgeht nur, wer sie kennt. Und daher kommt den sogenannten Klassikern in der Bildung eine enorme Bedeutung zu. Es ist nicht Faulheit der Lehrpersonen, wenn sie immer wieder dieselben Texte lesen mit den Schülern, sondern der unverzichtbare Beitrag zur Einführung in die Probleme, Lösungen und Probleme der Lösungen der menschlichen Gattung.
  • Die ausgewählten Texte werden in der Regel nicht mit einem Metadiskurs eingeführt. Ich mache keine Einleitung, dass jetzt etwas Schwieriges kommt oder etwas Altes, sondern wir befragen ganz einfach zuerst den Text zu einem bestimmten Problem oder wir versuchen zu verstehen, was das Problem des Textes war und was das auch noch mit uns zu tun hat. Denn das Gewöhnliche zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht gerechtfertigt und nicht angekündigt wird, zumindest nicht dauernd. Etwas polemisch formuliert: Der Text dient zunächst nicht als Exempel, sondern als Autorität. Das heisst, er wird befragt mit dem Respekt, der dem gebührt, was viele Menschen vor uns wichtig fanden und finden. Die historisch-kritische Kontextualisierung machen wir nach bzw. während der Lektüre. Als Hilfe für Unverständliches und nicht als vorauseilende Relativierung des Geltungsanspruchs. Diese kritische Einordnung ist das Resultat am Schluss einer Bearbeitungssequenz.
  • Wir lesen die meisten Texte gemeinsam. Jemand liest laut und langsam. Die Schülerinnen und Schüler, die den Text, meist mit zur Verfügung gestelltem Zusatzmaterial vorbereitet haben bzw. ich als Lehrperson kommentieren, wo es uns nötig erscheint bzw. wo Fragen auftauchen. Wir überspringen allzu schwierige oder redundante Passagen und kultivieren so einen pragmatischen Umgang mit «Nichtverstehen» und «Langeweile». Die Kommentare werden von den Schülerinnen und Schülern an den Seiten notiert. Die Kommentare umfassen je nach dem: Erklärungen, mögliche Deutungsvarianten, historisch-kritische Anmerkungen, Rezeptionsgeschichte usw. Es werden keine weiteren Merkblätter verteilt.
  • Das laute Lesen der Texte knüpft an die traditionelle Lesepraxis der Heiligen Texte in den Weltreligionen an. Das schriftliche Wort muss zum Klang werden, soll gesungen werden. Ein guter Zugang zu dieser Praxis ist die Auseinandersetzung mit Spoken Word Poeten, sowohl mit Inhalt und Form der Texte als auch mit der Vortragetechnik.
  • Grundlage unserer Textlektüren ist schliesslich folgende Wegleitung, die ich jeweils am Anfang des Schuljahres und wenn nötig zwischendurch mit der Klasse bespreche. In ganz ähnlicher Art und Weise bespreche ich auch Filme. Anspruchsvolle Filme, vor allem wenn Sie älteren Datums sind, erfordern von den Schülerinnen und Schülern, so meine Erfahrung, ja bereits fast gleich viel Anstrengung wie komplexe, ältere Texte.

4. Eine kleine Wegleitung zur Interpretation von Texten

Der Text

  • Wir verstehen Texte als Antworten auf Fragen oder Probleme.
  • Jeder Text hat einen Wahrheitsanspruch oder einen Neuheitsanspruch. Niemand schreibt einen Text, ohne überzeugt zu sein, etwas Wahres/Neues zur Thematik beizutragen. Das heisst, jeder Text ist eine Behauptung.
  • Jeder Text richtet sich gegen vorhergehende Texte oder nimmt für sie Partei.
  • Jeder Text grenzt ein und vergisst oder verdrängt wichtige Dinge.

Unsere Leitfragen

  • Wenn das, was im Text steht, die Antwort ist, was war dann die Frage oder das Problem?
  • Was wird im Text als Wahrheit/Neuheit behauptet? Inwiefern ist es wahr/neu? Oder anders gefragt: Hält die Antwort unserer eigenen Prüfung in der Gegenwart stand?
  • Wogegen richtet sich der Text? Wofür tritt er ein? Oder genauer: Gegen oder für welche älteren Texte oder Behauptungen nimmt er Stellung? Wo ist die Libido, das Pathos des Textes? (Was ist ihm wichtig, wo stecken die Gefühle, worauf insistiert er?)
  • Was fehlt?
  • Wo stehe ich? Wie stehe ich zum Text? Welche Antworten und Fragen bekomme ich?

Vorgehen

  1. Genaue Lektüre des Textes. (wenn möglich laut)
  2. Wir notieren alles, was uns unbekannt ist, auffällt, was uns zu fehlen scheint, was in uns Assoziationen weckt. (Fremdwörter, unbekannte Namen, unverständliche Satzfolgen)
    Auffälliges: Wiederholungen, Auffälligkeiten beim Textaufbau, «Fehler», Widersprüche, seltsame Wörter und Satzstellungen, ungewohnte Gedanken
    Fehlendes: Angesprochenes, das nicht ausgeführt wird, fehlendes Gegenteil bei Extrempositionen, fehlende Perspektiven (was nun?), fehlende Gefühle. Immer dort, wo wir uns fragen, warum steht dieses da und jenes nicht?
    Assoziationen: Überall dort, wo etwas angesprochen wird, bei dem uns selber bestimmte Gedanken oder Gefühle durch den Kopf gehen.
  3. Wir versuchen weitere Informationen zu erhalten über den Text und über den Autor bzw. die Autorin.
  4. Wir versuchen die obigen Leitfragen zu beantworten, indem wir aus unseren Beobachtungen und unserem Wissen Schlüsse ziehen, Fragen formulieren, Zusammenhänge herstellen.

Literatur

Reichenbach, Roland (2020): Bildungsferne. Essays und Gespräche, hg. v. Rolf Bossart, Zürich (in Vorbereitung).
Artikelnachweis
Bossart, Rolf (2019): Die Welt retten. Über das Lesen von schwierigen und alten Texten in ERG/Religionslehre, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/bossart-die-welt-retten/