Spannungsfelder und Probleme im Fach ERG
Thesen für ein zureichendes Fachverständnis als Teaching of Existence
Nach einigen Jahren ERG-Praxis in den Volksschulen und in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung lassen sich anhand von eigenen Erfahrungen mit Lernarrangements, von Rückmeldungen der Studierenden und von neuen Lehr- und Lernmaterialien einige Rückschlüsse auf Tendenzen in der allgemeinen Fachgestaltung feststellen. Dadurch wird auch der Blick frei für spezifische Problemfelder im aktuellen Fachverständnis und ihre möglichen Ursachen. Die nächsten Jahre sollten daher genutzt werden, neben den weiteren Anstrengungen zum Fachaufbau auch die Prämissen und Konzepte zu diskutieren, durch welche die Charakteristik und die Wirkung des Fachs ERG geformt werden. Dieser Essay versteht sich als Beitrag zu dieser Diskussion.
Anhand eines Kurzfilms über Nachtodesvorstellungen möchte ich zunächst ein Beispiel geben für eine solche Analysearbeit und daran einige grundsätzliche Überlegungen anschliessen. Es geht mir dabei nicht darum, dieses kurze, verdienstvolle Video, mit dem sich trotz seiner Mängel auch sehr sinnvoll arbeiten lässt, mit einer Kritik zu überziehen, die weit über dessen Anspruch hinauszielt. Wir zeigen ja als Lehrpersonen sowieso mit den besten Absichten oft sehr unperfekte Dinge, ohne dass es schlimm ausgeht. Gleichwohl gilt natürlich immer: Exemplarität ist wirksam, das Schulbeispiel macht Schule. Es ist weder nichtssagend noch zufällig, was wir als Beispiel wählen, um die Vielfalt abzubilden, denn die Beispiele strukturieren das, was wir als Vielfalt anzuerkennen bereit sind.
Nichtsdestotrotz soll im Folgenden der analytische Blick mit dem Brennglas auf dieses Video als didaktisches Artefakt der Ausgangspunkt sein, um das Nachdenken über die Komplexität und die Tücken der Details im Fachbereich ERG in Gang zu setzen. An diesen Details zeigt sich bereits, was unten noch genauer entfaltet werden soll: dass erstens nichts so neutral ist, wie es scheint und zweitens gerade im Fach ERG die Fiktion von Neutralität sich besonders negativ auf das Fachverständnis auswirkt.
1. Exemplarische Spannungsfelder im Fach ERG
Auf der Website «entdecke.lu.ch» des Kantons Luzern gibt es einen kurzen Film, der sechs persönliche Statements über Nachtodesvorstellungen versammelt und sich an Schülerinnen und Schüler der 3./4. Klasse wendet: entdecke.lu.ch/
Die Zeugnisse zeigen gut die Vielfalt der möglichen Ansichten. Der Film soll dazu anregen, über die eigenen Nachtodesvorstellungen ins Gespräch zu kommen. Die Anregung dürfte zweifellos gelingen. Zu fragen ist aber auch, was ausser der explizit-impliziten Grundthese des Videos, dass angesichts des Unverfügbaren alle denken und äussern dürfen, was sie wollen, hier noch an weiteren unbewussten Wertsetzungen mitläuft. Um zu zeigen, was ich damit meine, möchte ich drei Spannungsfelder skizzieren, die an diesem Filmbeispiel zu beobachten sind und die auf grundsätzliche Fragen des ERG-Unterrichts verweisen. Die Begriffe, die ich dabei verwende, sind selbstverständlich sehr voraussetzungsreich und beruhen auf Vorentscheidungen, die selber wiederum Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung sein müssten.
Erstes Spannungsfeld: erfahrungsbasiertes Sprechen
Die ersten drei Personen, das Mädchen Jana, Doktor Brenner und Heiko der Pfleger gehen von persönlichen Erfahrungen mit dem Tod aus, die anderen drei, Roberta, Sarita und Ahmed formulieren grundsätzliche Ansichten, ohne eine persönliche Erfahrung zu nennen. Diese Zweiteilung, obwohl verständlicherweise in diesem kleinen Video nicht explizit gemacht, ist gerade für den ERG-Unterricht und namentlich das Philosophieren über die Sequenz sehr zentral. In ihr zeigen sich zwei unterschiedlichen Auffassungen des Sprechens nicht nur über Nachtodesvorstellungen, sondern auch über alle anderen Bereiche des Unverfügbaren. Wenn nun wie die einleitende Off-Stimme sagt, alle ihre eigene Sicht auf diese Thematik haben und selbstverständlich haben dürfen, so ist mit dem Primat des Eigenen implizit die Wertung mitgesetzt, dass es auch hier besser ist, von den eigenen Erfahrungen auszugehen, als einfach etwas nachzuerzählen, was man gehört hat. Setzt man aber diese zwei Sprecharten in Beziehung zu den einzelnen Aussagen, merkt man schnell, dass angesichts des Transzendenten zwangsläufig auch die sogenannt erfahrungsbezogenen Aussagen sich affirmativ oder kritisch auf Metaphern bzw. Konzepte ausserhalb der eigenen Erfahrung beziehen; zumal beim Tod, dem ja, wie schon Epikur festgestellt hat, keine Erfahrungsqualität eignet: Jana spricht vom Meerschweinchen-Himmel, Heiko stellt sich einen Engel vor, der die Seele an die Hand nimmt. Doktor Brenner hat noch nie eine Seele, die den Körper verlässt, gesehen. Das heisst, wenn man die implizite Kategorie «erfahrungsbezogenes» Sprechen explizit machte und problematisierte, würde der Blick auf die Prämissen der Sprechenden frei und sie könnten als wesentliche Bausteine individueller Nachtodesvorstellungen wahrgenommen werden. Dies möchte ich anhand des zweiten Spannungsfeldes etwas verdeutlichen.
Zweites Spannungsfeld: Emotionalität und Unwissenheit
Es fällt auf, dass Doktor Brenner und Roberta, die beide aus atheistisch-wissenschaftlicher bzw. materialistisch-biologischer Sicht eine konkrete Nachtodesvorstellung ablehnen, ihre Position mit energischer Stimme und leicht polemischer Tonalität und Interpunktion untermalen. Offensichtlich befinden sich beide in einer für sie realen – für die Zuschauenden aber imaginären – Auseinandersetzung mit religiösen Nachtodesvorstellungen. Doktor Brenners Aussage, «Wenn das Hirn nicht mehr funktioniert, dann ist ein Mensch tot. Ich habe viele Menschen beim Sterben begleitet … eine Seele, die den toten Körper verlässt, habe ich nie gesehen.», nimmt offenbar Bezug auf entsprechende Gegenbehauptungen. Wer seine inneren Gesprächspartner sind, ist nicht feststellbar, feststellbar wäre aber, dass keine Religion je ernsthaft behauptet hat, dass man eine Seele sehen könne. Das bedeutet, dass die Polemik von Doktor Brenner zwar einerseits erfahrungsbezogen und wissenschaftlich unterlegt ist, andererseits sich aber gegen vermeintliche Positionen richtet, die man eher als subjektive Vorurteile werten muss, und Brenners Aussage sich also vielmehr als Beispiel des rationalistischen Missverständnisses zwischen Religion und Naturwissenschaft lesen lässt, wonach sich jene mit den Methoden von dieser bewerten lassen will und muss.
Die dreifache Betonung, die Roberta in ihr Statement legt: «Ich bin mir sicher, dass nach dem Tod nichts mehr kommt … das Leben ist mit dem Tod fertig … Punkt.», lässt auf einen Impuls der Verteidigung schliessen oder auf eine Art Selbstvergewisserungsbedürfnis, das vielleicht der eigenen Behauptung die performative Wirkung eines öffentlichen Bekenntnisses zuschreiben möchte. Zu vermuten ist auch hier eine innere Auseinandersetzung mit beispielsweise theistischen Positionen, die sie ablehnt. Da es in der Schweiz kaum öffentliche Diffamierungen von atheistischen und agnostischen Positionen im Bereich Nachtodesvorstellungen gibt, gibt Robertas Insistieren eher ein subjektives Erleben wieder und verweist beispielsweise auf einen inneren oder familiären Konflikt oder auch bloss auf die Tatsache, dass das moderne Bedürfnis nach Gewissheit in existentiellen Fragen, gerade weil sie unmöglich ist, nicht selten gegen eine imaginäre Mehrheit anders Denkender, das heisst also apologetisch erkämpft bzw. befriedigt werden will.
Mit den Problemen des emotionalen Involviertseins, der Undifferenziertheit gegenüber realen Glaubensaussagen und der Verwechslung von Glauben und Wissen wie sie bei Doktor Brenner und Roberta anklingen, stehen zentrale Themen religionsbezogener Bildung im Raum, deren Nichtbeachtung mehr Verwirrung als Klarheit schaffen. Kommt hinzu die Irritation, dass uns hier Emotionalität und Ignoranz von der Seite der Rationalität entgegentreten, während wir sie gewöhnlich eher auf der religiösen Seite vermuten.
Drittes Spannungsfeld: Exotisierung und Hypostasierung des Eigenen
Vergleicht man die sechs Statements untereinander und in ihrer Abfolge, ist festzustellen, dass die letzten zwei die einzigen sind, die man explizit einer Religion zuordnen kann. Gleichzeitig stammen beide von People of Colour (Sarita und Ahmed). Auch wenn hier wahrscheinlich ein Zufall vorliegt, so entspricht diese Koinzidenz doch gerade der in Medien und Schulen immer wieder zu begegnenden Tendenz, Migrantinnen und Migranten mehr religiösen Glauben und eine traditionellere Religiosität zu unterstellen als sich selber. Letztlich steht in diesem Spannungsfeld also nichts Geringeres zur Diskussion als die Exotisierung und Alterisierung von traditioneller Religiosität über Migration und von Migrantinnen und Migranten über Religiosität. Dass von allen sechs Personen gegen die statistische Wahrscheinlichkeit keine eine christliche Aussage macht, unterstreicht diese Tatsache. Gleichzeitig wirft die Aufteilung der vier ersten Positionen in zweimal überzeugt atheistisch und zweimal naiv-transzendent ein Licht auf die zukünftigen, postreligiösen Verhältnisse, mit denen wir es heute und in naher Zukunft zu tun haben. Die implizite Gleichsetzung von subjektiven Überzeugungen, die keinen Geltungsanspruch über den Moment oder den angesprochenen Erfahrungsbereich beanspruchen, wie sie bei Jana und Heiko zu beobachten sind, mit traditionellen Positionen einer Religionskultur ist nicht nur religionswissenschaftlich fragwürdig, sondern auch didaktisch problematisch. Angesichts der im Kontext der Filmsequenz grundsätzlich positiven Bewertung jeder «eigenen» Sichtweise, sieht sich die traditionelle, religionsbezogene, das heisst diachrone und intersubjektive Position, nicht nur auf dieselbe Ebene wie die synchron-subjektive gestellt, sondern implizit auch abgewertet, da sie ja nach der Terminologie von James E. Marcia eine bloss «übernommene» und nicht selbst «erarbeitete» Position darstellt.
Die wichtige Frage, die sich an die Beobachtungen in diesem dritten Spannungsfeld anschliesst, ist daher einerseits jene nach Ort und Bedeutung der überkommenen Religion im ERG-Unterricht und andererseits jene nach einer differenzierten und kategorialen Bestimmung (sowie didaktischen Konzeptionalisierung) diffuser Religiosität sowie auch dezidiertem Agnostizismus/Atheismus im Kontext des Fachverständnisses von ERG. Hier öffnet sich übrigens ein grosser Graben, insofern einerseits institutionalisierte oder traditionelle Religion durch den starken Rückbezug auf Erfahrung und Selbstverständnis der SuS didaktisch ziemlich bedeutungslos ist und andererseits auf Basis religionsvergleichender Ansätze bzw. des Lehrplans der zentrale, um nicht zu sagen, gern gesehene Lernstoff darstellt. Der Bedarf an entsprechenden Vermittlungen und Klärungen ist gross, wird aber meines Erachtens aktuell weder theoretisch noch praktisch eingelöst.
2. Variationen und Präzisierungen
Bevor ich im dritten Teil die skizzierten Problemfelder zu Thesen zuspitze und einige Folgerungen für das Fachverständnis ERG ziehe, seien einige der anhand des Films herausgearbeiteten Problemkreise verdeutlicht.
Das Problem der Exotisierung religiöser Praxis
Das Problem der Exotisierung religiöser Praxis ist überall da virulent, wo Praxis nur gezeigt, besprochen oder verglichen wird. Ausgeklügelte Lernarrangements in Ehren, aber wo ein Lernen durch Begegnung nicht möglich bzw. nicht erwünscht ist, sind die Schülerinnen und Schüler auf das isolierte Phänomen verwiesen bzw. auf die Erklärungen der Lehrmittel oder Lehrperson. Oft genug erschöpfen sich letztere in rationalisierten und vereinfachten Funktionen. Speisegebote werden gerne bloss hygienisch oder mit historischer Kontingenz, Feiern rein historisch, naturalistisch und gemeinschaftlich, Rituale funktional oder nominalistisch erklärt. Wenn in Speisegeboten nicht die Auseinandersetzung und Balancierung der existentiellen Problematik des Essens der an natürliche Kreisläufe gebundenen Menschen, wenn in religiösen Feiern und Ritualen weder die unter Widerholungszwang stattfindende und sowohl befreiende wie knechtende Inszenierung existentieller Abhängigkeit sowie die Schuld- und Ohnmachtsgefühle, noch die Zivilisierung ekstatischer Entäusserungstriebe, noch die symbolische Vorwegnahme erlösten Daseins, kurz, wenn nur die evolutive, nicht die existentielle Dimension religiöser Praxis evident wird, erscheint sie allzu schnell als überholt, ersetzbar und – insofern sie fortbesteht – als exotisch.
Philosophieren mit Kindern?
Gemessen an der fachwissenschaftlichen Energie, die in dieses Thema gesteckt wird, erscheint das Philosophieren mit Kindern als eine Art Königsweg in ERG. So verdienstvoll die Methode des Philosophierens ist, eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Voraussetzungen und eine Überprüfung der Wirkungen steht aber noch weitgehend aus. Die Methode des Philosophierens geht nach Helbling (2018, 67ff.) aus von der Fragwürdigkeit der Welt und wird innerhalb des Kreises von Staunen/
Aber oft wären, wo Philosophieren gesagt wird, Verben wie diskutieren, besprechen, prüfen usw. passender. Die theoretischen Reflexionen in den einschlägigen Einführungen scheinen etwas schmalspurig und die Prämissen fallen zum Teil hinter die Erkenntnisse beispielsweise der Religionspsychologie oder auch der traditionellen Religionspädagogik[1] zurück. Nehmen wir nur den Begriff des Fragens, der in den Philosophieren-mit-Kindern-Konzepten eine starke Überhöhung erfährt. Wenn Kinder fragen, wollen sie in der Regel etwas wissen und suchen eine einfache Antwort. Selbst wo die kindliche Frage eine philosophische zu sein scheint, etwa nach der Wahrheit einer Begebenheit, liegt nicht selten ein innerer Konflikt zu Grunde – etwa von Gut gegen Böse oder Ordnung gegen Chaos –, der gelöst sein will mit einer klaren Antwort. Öfter geht die Frage aber von der Lehrperson aus, die dann die Fraglichkeit einer Sache den Kindern erst verständlich machen muss. Wie man den Beispielen gelungener Schülerinnen- und Schüler-Fragen in den einschlägigen Berichten vom Philosophieren mit Kindern entnehmen kann, scheint dies vor allem sogenannt aufgeweckten Kindern leicht zu fallen. Ob diesen aber ein Verständnis der Fraglichkeit einer Sache oder bloss eine schnelle Adaption dessen, was gerade gefordert ist, zu Grunde liegt, ist kaum untersucht. Aber auch wenn meine Einwände sich als unbegründet erweisen, bleibt mit einer Metapher von Paul Tillich festzuhalten, dass wo nur gefragt wird oder die Antworten bloss (spielerische) Möglichkeiten sind, eher gelernt wird, die Messer zu wetzen ohne dass einmal damit geschnitten würde.
Man sollte ebenfalls nicht vergessen, dass «Fraglichkeit» primär eine Folge des Wissens ist und dass wo dieses fehlt, die Fraglichkeit rein abstrakt oder hypothetisch bleibt oder eben wiederum zuerst auf eine klare Antwort drängt. Zugespitzt könnte man formulieren: Die bereits vorhandene Antwort ist der Ursprung der Frage. Ähnlich verhält es sich mit dem Staunen. Das kindliche Staunen ist in den meisten Fällen eine Reaktion auf eine Attraktion bzw. auf ein sinnliches Überwältigt-Sein (und als solches ist es nur das positiv besetzte Gegenstück der Unsicherheit bzw. Angst und verlangt nach Sicherheit). Das Staunen im philosophischen Sinn steht, wenn es nicht wie etwa bei Platon eine Art esoterisches Einverständnis ist, am Schluss eines Lern- und Erkenntniswegs und nicht am Anfang. Es müsste dann Ziel nicht Ausgangspunkt des Philosophierens sein.
Zu vermuten ist jedenfalls, dass das Pathos, womit Begriffe wie Staunen und Fragen belegt werden, weniger von ihrer Funktionalität herrühren, sondern vielmehr aus einer grundsätzlichen, oft pädagogisch begründeten Abneigung gegenüber dem Antworten kommt, die man als dogmatisch, fremdbestimmt, zu wenig offen usw. qualifiziert. Fragen nach dem Tolerierbaren oder nach dem, was Geltung beanspruchen muss oder wo die Grenzen subjektiver Welterschliessungen im Modus des Meinens und Erörterns liegen, sind damit aber nicht erledigt. Sie verweisen mit Nachdruck auf das zentrale Problem der Normativität im ERG- Unterricht, das durch das Philosophieren mit Kindern nur verpackt, aber nicht gelöst ist. Vielleicht könnte gerade das weitgehend verdrängte Theologisieren mit Kindern hier eine Brücke schlagen.
Denn nicht von ungefähr manifestieren sich ja die gesellschaftlichen Vorbehalte immer gegenüber dem Fokus R und nicht gegenüber E oder G, deren Neutralitätsruf unantastbar scheint (vgl. Teil 3). Religionen hingegen sind gefährlich, denn sie können und wollen nicht kaschieren, dass sie zuallererst Antwortsysteme sind und erst von ihren mühsam und in langen Kämpfen formulierten primären Antworten her das Fragen weitertreiben. Einerseits geben sie Antwort auf transzendente Berufungs- und Beauftragungserfahrungen, andererseits auf die Tragik von Mangel, Leid und Tod. Das Leiden ist es, das Antworten und eine Richtung braucht und nicht in der Neutralität oder der blossen Frage verweilen kann. Das heisst, eine zeitgemässe Didaktik der Religionen hätte zuallererst die Notwendigkeit der Antworten auf die existentielle Unsicherheit der Menschen und das Leiden aufzuweisen; zweitens müsste sie zeigen und plausibilisieren, wie die Gläubigen versuchen, diesen geistigen Antworten durch Praxis eine Wirklichkeit zu verschaffen; und drittens müsste eine solche Didaktik auf die Pluralität, Kontroversität und Folgen dieser Antworten und Akte hinweisen und sie kritisch mit den eigenen Anfragen konfrontieren.
Selber-machen-ist-besser!?
Nach einem von zwei freischaffenden Ritualbegleiterinnen ausgeführten Taufritual, fragten wir zum Schluss die zwei Frauen, ob sie sich an bestimmten, unter dem Klischee «indianisch» firmierenden Ritualbausteinen orientiert hätten. Sie verneinten und sagten, dass dies ihre eigene Kreation sei. Erst später wurde mir klar, dass ihre Antwort nicht als ein peinliches Eingeständnis der eigenen Unwissenheit zu verstehen war, sondern dass sie dies mit Stolz gesagt hatten, dass also die vermeintliche Inkompetenz in ihren Augen gerade eine spezifische Kompetenz war, nämlich, dass man nicht einfach etwas Fremdes übernommen hatte, sondern für diesen speziellen Anlass etwas Eigenes kreiert hatte. Dieselbe Haltung des Selber-machen-ist-besser findet sich – wie es scheint ohne kritische Reflexion auf die Kontextualität von Fest- und Ritualhandlungen – auch in einem Lernarrangement des Kantons Bern mit dem Titel «Menschen feiern das Licht» (Fachkommission NMG 2018). Dort wird als Anwendungs- oder Transferaufgabe folgende Lernsituation skizziert: «Die Schülerinnen und Schüler planen ein oder mehrere Lichterfeste und führen dieses/diese in der Klasse durch.» Auch wenn hier, anders als beim Indianer-Tauf-Beispiel das «Eigene» der Schülerinnen und Schüler immerhin in Kenntnis verschiedener traditioneller Ritualformen gebaut werden soll, so zeigen sich bei dieser Aufgabe doch eine ganze Reihe von Problematiken. Was ist der Status dieses eigenen Lichterfestes? Ist es ein religiöses Ritual? Wohl kaum. Der Gefahr, dass es entgegen der eigenen Doktrin dann doch ein Ritual sein könnte, wird in den vorformulierten Auswertungsfragen, die formale Aspekte in den Vordergrund rücken, aber doch vorsichtshalber proaktiv begegnet: «Was ist uns geglückt? Was haben wir zu ungenau geplant?». Wenn es aber keine religiöse Handlung ist, was ist es dann, bezieht es doch seine Relevanz aus Bausteinen religiöser Handlungen. Ist es blosses Theater, so müsste es als solches deklariert werden, und es stellte sich dann die Frage nach dem Ziel und nach einer respektvollen Transformierung religiöser Praxis. Im Kontext einer zunehmenden Problematisierung von weihnächtlichen Feierelementen wie Lieder singen, Adventskranz, Krippenspiele, erscheint diese Lernaufgabe noch seltsamer. Daher liegt die Vermutung nahe, dass man hier einerseits nicht auf die ästhetisch-affektive Dimension religiöser Praxis verzichten wollte und sich andererseits gerade vor dieser scheute. Das erinnert an jene Kita, die aus vermeintlich interreligiösen Rücksichten den Räbeliechtli-Umzug und den Samichlaus mit einer gemeinsamen Halloween-Feier ersetzte. Wenn ein Fussballer nicht weiss, ob er den Ball nach vorne oder zurückspielen will, dann landet sein zaghafter Querpass direkt in den Füssen des gegnerischen Stürmers.
Ich will damit gerade nicht dafür plädieren, dass man den skizzierten Fragwürdigkeiten durch absoluten Verzicht entkommen soll, sondern konträr, dass man sich diesen Fragen als wesentliche, wenn auch spannungsreiche Bestandteile eines adäquaten ERG Fachkonzepts stellt und sie nicht mit einer eindimensionalen Neutralitätsdoktrin verdrängt, wo sie dann, wie oben gezeigt, plötzlich unreflektiert und verzerrt wieder im Raum stehen. Ein Anfang dazu wäre zum Zwecke der Selbstvergewisserung eine kritische Rezeption moderner Religionspädagogik und -psychologie sowie eine religionswissenschaftliche Begrifflichkeit, die theologische Stofflichkeit und religiöse Differenzierungen nicht unterschlägt. Letzteres würde zum Beispiel dazu führen, dass interreligiöses Lernen in vielen Fällen auf die Artikulation von Differenz zielt, anstatt auf eine didaktisch praktikable Gleichheit, die letztlich eher Gleichgültigkeit[2] gegenüber zentralen Unterscheidungen lehrt. So schön interreligiös harmonisch der Titel «Menschen feiern das Licht» klingt, zumindest aus monotheistischer Sicht ist es gerade ein entscheidendes Abgrenzungskriterium gegen die Sonnen-Kulte, dass man nicht das Licht feiert, sondern Gott als die Quelle allen Lichts, sowohl im natürlichen als auch geistigen Sinn. In dieser Unterscheidung läge m. E. auch ein möglicher didaktischer Zugang für Zyklus 2, indem man mit den Schülerinnen und Schülern, beispielsweise über die zahlreichen Lichtmetaphern in der Sprache die physikalischen bis religiösen «Eigenschaften» des Lichts als wärme- und lebensspendende wie auch zu Erkenntnis und Erlösung führende Kraft herausarbeitet und insofern sowohl der naturalistischen Verkürzung entkommt, als auch Gott als Garant und Name für diese dreifache Kraft sowie die Feste als Akte in diesem Namen verstehbar macht. Den schillernd-faszinierenden Begriff der Erleuchtung mit all seinen Konnotationen und den der Aufklärung als Enlightment gäbe es dann noch gratis dazu.[3]
3. Thesen und Arbeit am Fachkonzept
Mittels folgender Thesen sei versucht, die oben angezeigten Spannungsfelder und Problematiken im aktuellen ERG Fachverständnis zu fassen und einen nicht verdrängenden Umgang damit anzudeuten.
- These 1: Wenn ich interreligiöses Lernen nur als das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten verstehe, laufe ich nicht nur Gefahr, entscheidende Differenzen zu unterschlagen und falsche Harmonien herzustellen, sondern verfehle auch die Anerkennung von Differenz als Basis jeder Toleranzschulung.
- These 2: Wenn ich die Verpflichtung zur Neutralität nicht nur als Überwältigungs- und Ideologisierungsverbot, sondern überhaupt als Verbot, normative Vorentscheidungen (fremde und eigene) zu zeigen und zu thematisieren verstehe, betreibe ich nicht nur Verdrängung, sondern verfehle eine wesentliche Spezifität des Fachs ERG, die gerade darin besteht, den Umgang mit Normativitätsansprüchen zu üben.
- These 3: Wenn ich religiöse Praxis zeige bzw. religiöse Lehren und Symbole thematisiere, ohne selber zu wissen (und wenn möglich plausibel zu machen und zu zeigen), aus welchen existentiellen Grunderfahrungen der Menschen sie stammen und wie sie theologisch erklärt werden, besteht die Gefahr der Exotisierung religiöser Praxis und der Förderung von Unverständnis.
- These 4: Wenn ich religiöse Praxis zeige bzw. religiöse Lehren und Symbole thematisiere, ohne zusammen mit den Schülerinnen und Schülern zu klären, inwiefern hier existentielle Fragen verhandelt werden, die auch allgemeine bzw. unsere eigenen sind und inwiefern diese auch von uns selber, oder von unserer Gesellschaft auf die eine oder andere Art beantwortet werden müssen, besteht die Gefahr, dass ich mit meinem Unterricht hinter den Realitätsbezug, das Wissen und das Reflexionsniveau der Religionen zurückfalle.
Teaching of Existence[4]
Folgt aus den Thesen eins und zwei die Schulung von Ambiguitätstoleranz als ein Kernanliegen des ERG-Unterrichts, so aus den Thesen drei und vier die kritische Verknüpfung von religiöser Praxis, überlieferter Symbolik und tradierter Lehre mit den offenen Fragen der eigenen Existenz. Der ERG-Unterricht hätte in diesem Sinn die Aufgabe, die existentielle Dimension religiöser Praxis, Symbolik und Lehre zu kennen und als mögliche Antwort auf die eigenen Fragen bzw. als Entdeckungshilfe für diese fruchtbar zu machen. Das bedeutet, dass der ERG-Unterricht durch die Auseinandersetzung mit Religionen und Weltanschauungen (als Antwortsysteme auf existentielle Probleme) erstens die Artikulation existentieller Grundfragen der Menschheit, zweitens das Bewusstsein eigener Antwortbedürftigkeit auf diese Fragen und drittens letztlich die kritische Reflexion von eigenen und fremden Antworten fördern muss.[5] Ich möchte diese Art der Rückbindung des religionsbezogenen Unterrichts auf die Grundspannungen der menschlichen Existenz vorläufig mit dem Ausdruck Teaching/Learning of Existence bezeichnen. Als existentielle Grundspannungen, die fundamental fraglich sind und nach stetiger Bearbeitung als Vergewisserung und Reflexion verlangen, sind zu nennen: die Tatsache der nicht-gewählten Geburt und des Daseins, des Todes und der Frage nach Zeit und Ort danach, der Begrenztheit der Welt und der Unendlichkeit von Zeit, Raum und Kosmos, der Spannung von Körperlichkeit und Geistigkeit, des Essen-Müssens und dessen Fehlen, der Abhängigkeit und des Strebens nach Autonomie, der Liebesbedürftigkeit und der Angst oder Aggression, der Differenz in Generationen, Geschlechtern, Begabungen, Bewusstseinsformen und dem Wunsch nach Einheit und Gleichheit aller Existenzen. Da diese Fragen sich allen Menschen innerhalb der mehrere Tausend Jahre umfassenden menschlichen Kulturgeschichte in derselben Weise stellten und stellen, ist die Auseinandersetzung mit den Antworten in Mythologie, Religion und Philosophie über alle Zeiten und Differenzen hinweg sinnvoll und wichtig. Für diese Fragen ist existenz- und entwicklungsbedingt im Schulalter zwar nicht immer der beste Moment, aber doch meist eine gewisse Sensibilität vorhanden. Die Artikulationsfähigkeit und die Kultivierung dieser Art des Fragens vollzieht sich aber ganz wesentlich über Kenntnis und Auseinandersetzung mit dem (reichen und gleichzeitig problematischen) Schatz der vorhandenen Antworten der Religions- und Kulturgeschichte. Anders als es, wie oben angedeutet, in ERG-Didaktiken mit einem stark affirmativen Bezug auf das Eigene oft nahegelegt wird, sind die eigenen Antworten der Schülerinnen und Schüler daher nur bedingt Ausgangspunkt, sondern vielmehr – als Ermöglichung und Kultivierung von Artikulation existentieller Frage-Antwortkomplexe – ein Ziel von Bildung und also des Fachunterrichts ERG. Durch das Studium und die Diskussion traditioneller, fremder Antworten auf die eigenen Probleme machen wir uns zu Zeitgenossinnen und Zeitgenossen früherer Generationen und entwickeln ein Bewusstsein menschlich-existentieller Gattungsgeschichte, an der wir nicht nur teilhaben, sondern die wir über Affirmation und Kritik ihrer Zeugnisse ablehnen und aneignen und insofern zu unserer eigenen Sache formen. Dabei lernen wir nicht nur, den Antworten der anderen zu trauen oder zu misstrauen, sondern ebenso auch das Vertrauen und Misstrauen gegenüber den eigenen Antworten und – insofern eine problematische Antwort auch auf eine problematische Frage verweisen kann – gegenüber den eigenen Fragen. Da die Antworten der Anderen auch immer Antworten auf meine Fragen sind und umgekehrt, gibt es in existentiellen Dingen keinen Graben zwischen Eigenem und Fremdem, sondern ein stetiges Spannungsverhältnis zwischen Unkenntnis, Aneignung oder Distanzierung bzw. psychoanalytisch formuliert: zwischen Phylogenese und Ontogenese. Es ist die Aufgabe von ERG, dieses Spannungsverhältnis zwischen Individualgeschichte und Menschheitsgeschichte bewusst und fruchtbar zu machen durch vielfältige Kontakte der Schülerinnen und Schüler mit den Überlieferungen[6].
Die Schulung von Artikulationskompetenz existentieller Fragen und Antworten umfasst die Ebene der Sprache sowie die der Symbole und Symbolhandlungen. Als didaktisches Prinzip des Teaching of Existence kann der alte Kreis-Dreischritt theologischer Erkenntnislehre verwendet werden: Grund, Form, Akt. Erstens die Frage nach dem existentiellen Grund, zweitens der Blick auf die Antworten als zeichenhafte Verkörperungen in Geschichten, Begriffen, Symbolen und ritualisierter Praxis (Form) und schliesslich die Reflexion (Akt) auf das persönliche Verhältnis (auch das der Lehrperson), auf Emotionalität, auf Gleichgültigkeit, auf potentielle Aneignungs- Ablehnungs-, Entfremdungs- oder Involvierungsakte, die wieder zur Frage nach dem Grund zurückführen können.
Welches Fachverständnis?
Selbstverständlich öffnen sich mit der eben skizzierten Grundhaltung wieder alle oben angetippten Schwierigkeiten. Das aber ist nur dann ein grundsätzliches Problem, wenn man nicht gerade deren Bearbeitung als Kern des ERG-Unterrichts begreift, sondern glaubt, ihnen mit vermeintlich sauberen Trennungen[7] in Religiöses und Nicht-Religiöses, Objektives und Subjektives, in Fremdes und Eigenes, in Erfahrenes und nur Gehörtes, in Differentes und Gemeinsames, in Aktuelles und Traditionelles usw. zu entkommen. Nimmt man beispielsweise die Typologisierungen von Rahmungen für den ERG-Unterricht wie sie Frank/Bleisch (2015, 193ff) vorschlagen, handelt man sich Trennungen ein, die wesentliche Inhalte des Fachs «verbieten» und der Lehrperson kaum sinnvolle Verknüpfungen von E, R, G ermöglichen. Von den vier genannten Rahmungen «religiös-narrativ», «religiös-dogmatisch», «lebensweltlich» und «kulturkundlich» ist gemäss Frank/Bleisch für «religiöse» Unterrichtsgegenstände nur letztere «erlaubt». Nicht erlaubt ist beispielsweise das meiste, was ich eben als Gegenstand des Teaching of Existence skizziert habe und was bei Frank/Bleisch in der «lebensweltlichen Rahmung» abgelegt ist. Weil sie hinwiederum selber von der Wichtigkeit der lebensweltlichen Rahmung überzeugt sind, schreiben Frank/Bleisch ergänzend: «Für einen vom Staat verantworteten, für alle Schülerinnen und Schüler obligatorischen Unterricht verlangt das Recht einen konfessionell neutralen und objektiven Unterricht. Wichtig ist, nochmals festzuhalten, dass in Bezug auf die lebensweltliche Rahmung dies nur gilt, wenn der Gegenstand religiös ist. Ist der Gegenstand nicht religiös (z. B. Haustiere, Geburtstagsfeier, Feste generell), so ist eine lebensweltliche Rahmung durchaus angebracht.» (Frank/Bleisch, 2015, 197). Aber sowohl beim Haustier und mehr noch bei der Geburtstagsfeier sitzt das «Religiöse» bei der lebensweltlichen Rahmung mit im Boot. Und wie die saubere Trennung in religiös und nicht-religiös bei «Festen generell» gelingen soll, ist wissenschaftlich zumindest fraglich – und fachdidaktisch kaum einzuholen. Aber wie dem auch sei: «Das» Religiöse oder «die» Religion ist kein Virus und keine heisse Kartoffel, sondern meist lauwarm und selten klar abzugrenzen. Gerade der ERG-Unterricht soll ja dazu beitragen, dass Religion nicht als das «Ganz-Andere», sondern als etwas durchaus «Gewöhnliches» erscheint.[8]
Frank/Bleisch schreiben zudem: «Der Religionskundeunterricht schliesst die Behandlung von Fragen nach dem Lebenssinn, nach dem richtigen Handeln in der Welt, nach eigenen Werten und der Identität der Schülerinnen und Schüler aus und verweist diese an die Philosophie und in den Ethikunterricht oder an die Theologien und den jeweiligen religiösen Unterricht.» (Frank/Bleisch 2015, 199f.) Bei allem Verständnis für die notwendige Abgrenzung gegen den herkömmlichen Religionsunterricht zur Etablierung des neuen Fachs ERG stellt sich hier doch die Frage, ob man dem Fach nicht einen Bärendienst erweist, wenn «der Religionskundeunterricht die Behandlung von Fragen nach dem Lebenssinn, nach dem richtigen Handeln in der Welt, nach eigenen Werten und der Identität der Schülerinnen und Schüler» ausschliesst und diese an die «Philosophie und in den Ethikunterricht (…).» (Frank/Bleisch 2015, 199f ) verweist. Zumindest wirft diese starke und innerhalb des Fachs ERG auch ziemlich seltsame Ausschlussbestimmung eine Reihe von Fragen auf: Während andere Fächer trachten, ihren Zuständigkeitsbereich permanent auszuweiten, geschieht hier das Umgekehrte. Woher kommt diese an Verleugnung grenzende Amputierung der eigenen Zuständigkeit? Wie will man sinnvoll E, R, G aufeinander beziehen, wenn die Erkenntnisse aus R nichts mit E und G zu tun haben dürfen? Frank/Bleischs Vorschlag, R strikte von E und G zu trennen (Frank/Bleisch 2015, ebd.) ist aus ihrer Sicht der logische Schritt, aber aus den bisher gemachten Überlegungen keine praktikable Option. Zudem stellt sich die Frage, woher, zumal nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, eigentlich der gute Ruf der Philosophie (im Kontext von ERG der «Ethik») stammt, für die Artikulation des Allgemeinen besonders geeignet zu sein? Sind die Objektivität und Neutralität der Philosophie nicht auch das Resultat einer performativen Selbstbeschreibung rationalistischer, positivistischer, analytischer Philosophien? Kann nicht gerade eine Religionswissenschaft auf religionsphilosophischer Basis zeigen, wieviel Religiosität in den Philosophien und wieviel Rationalität, Selbstkritik und Aufklärung in den Religionen steckt? (vgl. z. B. Heinrich 2007 oder Joas 2017). Oder anders formuliert: Ist es tatsächlich förderlich, innerhalb von ERG den Religions- bzw. Ethik-/Philosophiebegriff jeweils so eng zu setzen, dass letztlich nur noch eine dualistische Entgegensetzung übrigbleibt und dass Religion nur noch historisierend, analytisch und eben letztlich exotisierend behandelt werden kann? Die kleine, auf erg.ch geführte Debatte um den Wallfahrtsartikel von Andreas Kessler (Kessler 2019) scheint mir hierfür symptomatisch zu sein. Der Vorschlag von Kessler, im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Votivtafeln in einer Wallfahrtskirche, bei den Schülerinnen und Schülern die Reflexion auf eigene Impulse der Dankbarkeit und der manchmal fehlenden oder versäumten Adressierbarkeit in Gang zu setzen und gegebenenfalls mit einem kleinen individuellen Dankesakt abzuschliessen, scheint mir ein gutes Beispiel von Teaching of Existence zu sein: Die Rückbindung und daher Verständlichmachung religiöser Praxis an Fragen der eigenen Existenz. Die Ermunterung zur Handlung ist selbstverständlich immer problematisch, aber kaum mehr als es die Handlungsaufforderungen im WAH-Unterricht fürs nachhaltige Einkaufen sind und m. E. weniger als die oben am Lichterfestbeispiel diskutierte kollektive Handlungsaufforderung, ein eigenes Lichterfest zu erfinden. Die heftige Kritik, die Kesslers Unterrichtsbeispiel bei Bleisch und Schellenberg (Bleisch/Schellenberg 2019) hervorgerufen hat, zeigt daher die unterschiedlichen Auffassungen, die einerseits wohl nur mit einer ernsthaften und permanenten Arbeit am Fachkonzept ERG und andererseits mit einer pragmatischen und inklusiven Haltung zum Fach und vor allem zur Unterrichtspraxis beizulegen sind.
4. Konklusion
Die Absicht hinter dieser anhand von Lernbeispielen, Prämissen und Begriffen durchgeführten kritischen Diskussion einiger Aspekte des Fachs ERG ist nicht weniger und nicht mehr als der nachdrückliche Hinweis auf die fachspezifischen Schwierigkeiten und Aporien verbunden mit dem Appell, diese als Charakteristikum zu verstehen und zu bejahen. Die Basis einer zureichenden Fachdidaktik ERG wäre dann die Überzeugung, dass wir in diesem Fach an Problemen und Fragen arbeiten, die weder sauber kategorisiert oder beschrieben noch nur fragend in der Schwebe gelassen werden können, die aber eben auch nicht lösbar sind. Das heisst, die «Lösung» und eine wichtige Aufgabe von ERG besteht dann darin, dass wir zusammen mit den Schülerinnen und Schülern versuchen, mit unseren existentiellen Spannungsfeldern in Kontakt zu sein und ihre Artikulationskompetenz dafür zu stärken, indem wir versuchen, in Auseinandersetzung mit dem Stand des Wissens und des Irrtums aus Vergangenheit und Gegenwart an der grossen Aufgabe der stetigen, letztlich unendlichen Reflexion teilzunehmen.
Der ERG-Unterricht ist insofern in einer ähnlichen Lage wie der Sexualkundeunterricht. Dieser ist nie erledigt und immer neu einzufädeln. Er muss auf jeder Stufe wieder neu angegangen werden, und zwar so, dass er, was für die Kleinen galt, für die Grösseren differenziert und relativiert. Er wird erteilt auf der allgemeinen Basis eines wissenschaftlichen common sense und kann doch nicht Fuss fassen, wenn er nicht mit grosser Sensibilität mit der existentiellen Dimension der Einzelnen in Kontakt kommt. Er ist immer anstössig. Er kann gar nicht anders als einzelne Schülerinnen und Schüler vor den Kopf zu stossen, sie nicht dort zu treffen, wo sie stehen oder einzelnen Gruppen in der Gesellschaft zu missfallen oder die Werte der Vergangenheit zu verraten, aber ihnen auch angesichts der immer gleichen Schwierigkeiten menschlicher Sexualität ihr Recht widerfahren zu lassen. Er heisst daher zurecht Aufklärungsunterricht. Auch der ERG-Unterricht sollte den Anspruch erheben, Aufklärungsunterricht im umfassenden Sinn zu sein, um anzuschliessen an die Jahrtausende alte Tradition der Aufklärung in den Religionen, Mythologien und Philosophien und immer im Bewusstsein, dass Aufklärungsprozesse nie vor sich gehen, ohne eigene Idealbildungen, die wiederum zu Ideologien werden können und daher von neuem der Aufklärung bedürfen.
Weil aber die Voraussetzungen schwierig und die zu behandelnden Probleme unlösbar sind, besteht die reale Gefahr, dass, zumal auf der Primarstufe, viele Lehrpersonen den Fokus R lieber bleiben lassen oder sich handlichen, jeglicher Komplexität enthobenen, Formaten zuwenden. Das bedeutet im Kontext der Pädagogischen Hochschulen sicher viel Arbeit sowie Kampf um Ressourcen und Formate in der Aus- und Weiterbildung. Doch wie in Mathe das Kopfrechnen immer gut ist, in Deutsch das Lesen, in Biologie das Beobachten der Tiere, in Geographie das Betrachten der Karten usw., wie es also in jedem Fach ganz unabhängig von Zeit und Kontext etwas gibt, das immer ins Schwarze trifft, gibt es zum Glück dies auch in ERG. Wenig überraschend ist es das Erzählen und Befragen der Geschichten aus dem Erzählschatz der Menschheit – aus den heiligen Schriften, den Mythen, den Märchen. Richtig ausgewählt geben sie Kunde aus alter Zeit und weisen in die Zukunft, sind zugleich klassisches Bildungsgut, brisante Schmuggelware reaktionären und/oder subversiven Denkens, verschweigen und verdrängen daher weder Gegensätze, Widersprüche noch Probleme und zeigen doch Wege, mit ihnen zu leben und berühren oder bearbeiten insofern en passant die existentiellen Grundfragen der Schülerinnen und Schüler.
Literatur
Anmerkungen