Stichwort Lebenswelt
ERG-Unterricht an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen orientieren
Anforderungssituationen der Lebenswelt
Die Orientierung an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler wird in der Schule als unabdingbar für einen gelingenden Unterricht betrachtet. Der Lebensweltbezug wird deshalb nicht nur häufig gefordert, sondern auch als Merkmal eines guten Unterrichts positiv bewertet.[1] In Zusammenhang mit der Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 rückt er besonders ins Zentrum. Die Schülerinnen und Schüler sollen die erarbeiteten Kompetenzen in Anforderungssituationen ihrer Lebenswelt anwenden und entsprechende Probleme und Aufgaben sinnvoll lösen können. Mit dieser sogenannten Output-Orientierung impliziert die Kompetenzorientierung den Bezug zum lebensweltlichen Kontext der Kinder und Jugendlichen.[2]
Lebenswelt als Bedeutungsuniversum der Lernenden
Oft wird der Begriff «Lebenswelt» einfach nur synonym zum Alltag verwendet. Fachlich wird jedoch unter Lebenswelt eine subjektiv erlebte und gedeutete Bezugswelt verstanden, die reale, geistige und fantasievolle Dimensionen umfasst. Die Lebenswelt umfasst vorwissenschaftliche Selbstverständlichkeiten, die einen Deutungsrahmen und Sinnhorizont bilden, auf denen der einzelne Mensch seine Erlebnisse und Vorstellungen bezieht. Solche gedeuteten und bewusstgemachten Erlebnisse und Gedanken, die sich im Austausch mit anderen bewähren, prägen die eigenen Alltagstheorien und Handlungsstrategien und werden als Erfahrung gefestigt. Mit einer lebensweltlichen Orientierung im Unterricht ist damit zuerst einmal gesagt, dass sich das schulische Lernen auf diese gedeuteten Erfahrungen der einzelnen Kinder beziehen soll. «Sinnvolles Lernen ist nämlich keine einseitige Aufnahme von Informationen, sondern stellt eine Beziehung zwischen den Dingen der Welt und dem Bedeutungsuniversum des Lernenden her.»[3] Die Erfahrungen gehören zur persönlichen, kollektiven oder kulturellen Erinnerung der Schülerinnen und Schüler. Sie sind deshalb sowohl gemeinschaftlich geprägt als auch individuell verschieden und genau so vielfältig, wie die unterschiedlichen soziokulturelle Prägungen in einer Klasse. Lebensweltorientierung bedingt deshalb, in der Gestaltung des Unterrichts intersubjektiv geteilte Vorstellungen und Selbstverständlichkeiten ebenso wie die Vielfalt an unterschiedlichen Erfahrungen und Erinnerungen zum Ausgangspunkt des Lernanlasses zu nehmen.
Intuitives Hintergrundwissen klären
Richter[4] empfiehlt für den schulischen Sachunterricht, sich am Lebensweltbegriff von Habermas zu orientieren. Dieser beruht auf dem sprachlich-organisierten Vorrat an Hintergrundwissen, also «auf der Faktizität von geglaubten, aber grundsätzlich problematisierbaren Geltungsansprüchen».[5] Dieses Hintergrundwissen besteht
- aus gemeinsam geteilten Überzeugungen in einer Kultur, die von den einzelnen meist nicht hinterfragt oder überprüft werden (Kultur);
- aus intuitivem Wissen über sozial eingelebte Praktiken, auf die man sich in einer Situation verlassen kann (Gesellschaft);
- aus intuitivem Wissen über eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit denen man in einer Situation bestehen kann (Persönlichkeit).[6]
Bildung hat den Anspruch, solches, intuitiv erworbenes, lebensweltliches Wissen besser zu verstehen, zu überprüfen, zu ergänzen und zu differenzieren. Dazu muss herausgefunden werden, welche Bedeutungen und Geltungsansprüche die Themen und Unterrichtsgegenstände in der Lebenswelt der Kinder haben. Durch den Unterricht sollen nicht nur kindliche Weltsichten reproduziert oder bestätigt werden, sondern den Schülerinnen und Schülern werden durch sachorientiertes, philosophierendes und ästhetisches Lernen neue Perspektiven auf die «Welt» eröffnet.
Originale Begegnung
Nicht immer lässt sich der Unterricht von der Lebenswelt her gestalten. Oft stellt sich die Frage auch umgekehrt: Wie können Themen und Lerngegenstände für Kinder und Jugendliche altersgemäss zugänglich und erschliessbar gemacht werden? Roth fragt mit seinem methodischen Prinzip der «Originalen Begegnung», wie er den Unterrichtsgegenstand in den Fragehorizont des Kindes bringen könne.[7] Nur wenn es gelingt, dass ein Unterrichtsthema auf Fragen und Interessen der Kinder oder der Jugendlichen trifft, gelingt ein Lernprozess. Ausgesuchte Situationen, Gegenstände, Modelle, Medien und Geschichten sollen einen «originären geistigen Bezug» der Schülerinnen und Schüler zum Thema herstellen können. Die Selbstverständlichkeiten ihrer Lebenswelt werden dadurch wieder fraglich, erfordern erweiterte Wahrnehmung und Nachdenken und machen die Lebenswelt dadurch der Reflexion und Bearbeitung zugänglich.
Lebenswelt modellieren – Modi der Weltbegegnung
Unterricht bedeutet in diesem Sinne, Begegnungen und Auseinandersetzungen mit der Lebenswelt, mit ihren kulturellen, sozialen und persönlichen Bezügen zu modellieren. Es kommt dem Lernmodell nahe, das Baumert als Modi der Weltbegegnung beschrieben hat. Er unterscheidet eine kognitiv-instrumentelle, eine ästhetisch-expressive, eine evaluativ-normative und eine existenziell-ultimative Weltbegegnung.[8] In den Schulfächern sollen alle Weltbegegnungen zum Zuge kommen, bei einzelnen aber Schwerpunkte gesetzt werden. Dadurch erhält ein Fachbereich ERG oder der Religionsunterricht die besondere Verantwortung, dass die Modellierung von existentiell-ultimativen Weltbegegnungen in der Schule nicht verloren gehen. Die lebensweltlichen Sinndeutungen und religiösen Vorstellungen werden im Unterricht aufgegriffen und in den Kontext der kollektiven Erzählungen, Traditionen, Fragen und Praktiken der gesellschaftlichen Kulturen, der Religionen und Weltanschauungen gestellt. Es werden auch Bezüge zum Christentum und zur abendländischen Philosophie erarbeitet, die beide die europäische Kultur stark geprägt haben. Den Schülerinnen und Schülern werden dadurch Wege aufgezeigt, wie sie ihre eigene Positionierung und Sinndeutung finden, klären und formulieren können. In diesem Lernprozess wird ERG zu einem Ort des «Philosophierens» und «Theologisierens», in dem unabhängig von Bekenntnissen und Überzeugungen der einzelnen um eine Vergewisserung der eigenen Lebensgrundlage gerungen wird.