Nacktschnecken und Herzchen
Mit einer 3./4. Klasse Geschlecht und Rolle reflektieren
«Frauen kreischen, wenn sie eine Nacktschnecke sehen – Männer können keine Unterhosen mit Herzchen tragen» (Rothenbühler/
Soppelsa/ Stankiewitz 2018, S. 20)
Didaktische Rekonstruktion
Die inhaltliche Ausrichtung und Schwerpunktsetzung sowie die zu fördernden Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen ergeben sich aus der Wechselwirkung der inhaltlichen Klärung (Sachanalyse) und dem Vorverständnis (Präkonzepte) der Schülerinnen und Schüler. In einem iterativen Verfahren wurden das Unterrichtskonzept sowie die Planung schrittweise entwickelt. Dabei wurde auf zentrale Sachkonzepte wie Geschlecht, Rolle, Stereotypen, Gleichberechtigung und die konkreten Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern zurückgegriffen. Die einzelnen Planungsschritte (vgl. Kalcsics/Wilhelm 2017, S. 72ff) werden im Folgenden kurz beleuchtet.
Sache klären
Ausgangspunkt der Planung bildete die Wahl der folgenden Kompetenzen:
- Die Schülerinnen und Schüler können Geschlecht und Rollen reflektieren (NMG 1.6)
- Die Schülerinnen und Schüler können unterschiedliche Lebensweisen beschreiben und erkennen, was Menschen ihre Herkunft und Zugehörigkeiten bedeuten (NMG 7.1)
- Die Schülerinnen und Schüler können eigene Anliegen einbringen sowie politische Prozesse erkennen (NMG 10.5)
Erste Überlegungen zur Bedeutung, Ergiebigkeit und Zugänglichkeit des Themas wurden zusammengetragen. Aufgrund der eigenen Vorkenntnisse und Erfahrungen wurde betont, dass Fragen rund um die Auswirkungen der Geschlechterrollen auf die verschiedenen Lebensbereiche, auf politische und gesellschaftliche Prozesse sowie auf die eigene Identitätsentwicklung eine hohe Relevanz beigemessen werden sollte. Studien zeigen, dass Kinder mit neun bis zehn Jahren verstehen können, dass Geschlechterrollen nicht eine biologische, sondern eine soziale Kategorie sind. Durch das zunehmende Verständnis für Geschlechterrollen können Lernende bereits nachvollziehen, dass manche Kinder nicht das tun oder anziehen wollen, was geschlechtstypisch wäre. Zudem können sie Geschlechterdiskriminierung erkennen und Ungerechtigkeiten wahrnehmen. Dies zeigt, dass Kinder in diesem Alter Voraussetzungen und Ressourcen mitbringen, um dieses Thema zu behandeln (vgl. Siegler et al. 2008, S. 589f).
Hinsichtlich eines geschlechtergerechten Unterrichts wurde auch die Genderkompetenz der Lehrperson in den Blick genommen. In der Fachliteratur wird der Begriff Genderkompetenz nicht einheitlich definiert. Meistens beinhaltet der Begriff eine Einheit von Wissensbeständen über das Geschlecht und Fähigkeiten bezüglich der geschlechtergerechten Gestaltung von Lernprozessen. Zudem umfasst er die Fähigkeit, eigene und andere geschlechtsbezogene Erwartungen und Bewertungen sowie Zuschreibungen kritisch zu hinterfragen (vgl. Stadler-Altmann 2013; Budde/Venth 2010; Grünewald-Huber/von Gunten 2009, zit. n. Burren/Schlegel/Rüefli 2015).
Präkonzepte
Basierend auf den grundlegenden Sachkonzepten sowie den zu entwickelnden Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen wurde mithilfe unterschiedlicher methodischer Zugänge das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler erhoben. Nach der Auswertung wurde zusammenfassend festgehalten, dass Geschlechterstereotypen und Rollenbilder erwartungsgemäss bei allen befragten Kindern in gewissem Grade vorhanden sind. Beispiele aus den Präkonzepten sind: «Mädchen sind brav und Jungs frech. Frauen putzen und kochen. Männer können keine Unterhosen mit Herzchen tragen. Mädchen kreischen, wenn sie Schnecken sehen.» (Rothenbühler/Soppelsa/Stankiewitz 2018, S. 20)
Die Rollenbilder wurden von der Mehrheit der Kinder kaum hinterfragt. Durch die Interviewerhebung wurde weiter sichtbar, dass die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht für Kinder dieser Altersstufe wichtig ist. Zudem kamen Aspekte wie Zugehörigkeit, Vorbilder aus dem nahen Umfeld (Familie, Freunde) sowie mediale Bezüge zur Sprache. Den Befragten war der Einfluss der Medien auf Geschlechterrollen nicht bewusst. Stellte man ihnen konkrete Fragen dazu, zum Beispiel welches Geschlecht für welche Produkte Werbung macht, fiel zwar einigen Kindern eine unterschiedliche Darstellung der Geschlechter auf. Allerdings wurde diese nicht kritisch betrachtet. Den Begriff «Gleichberechtigung» kannten die meisten Kinder noch nicht. Sobald man diesen erklärte, wussten sie aber, was damit gemeint ist und konnten Beispiele nennen. Dass Mädchen in anderen Ländern teils weniger Rechte haben als Jungen war einigen bekannt. Vertieftes Wissen und Beispiele dazu waren aber bei der Mehrheit nicht vorhanden.
Im Anschluss an die Auswertung der Präkonzepte wurde die Zielsetzung der Unterrichtseinheit zusammenfassend als Sensibilisierung und als Wahrnehmungsschulung der Vielfalt möglicher Geschlechterrollen und tatsächlich gelebter Geschlechteridentität umschrieben. Schülerinnen und Schüler sollen andere Sichtweisen auf das Geschlecht sowie verschiedene Familienmodelle kennenlernen, sich über Rollenbilder, Klischees und Wirkzusammenhänge austauschen und diese kritisch hinterfragen können. Zudem soll den Schülerinnen und Schülern bewusst werden, dass ihnen unabhängig vom Geschlecht bezüglich Beruf, Hobbies, Familie etc. viele Möglichkeiten offen stehen, dies aber keine Selbstverständlichkeit ist.
Grobplanung
Auf dieser Grundlage wurde eine didaktische Strukturierung vorgenommen sowie eine Grobplanung erstellt, die sich gem. folgender Übersicht gliedert:
Thema |
Kompetenzerwartungen:
|
Zeit |
Präkonzepte | ihre Vorerfahrungen und ihr Vorwissen aktivieren
Geschlechterstereotypen bezüglich Eigenschaften, Interessen und Hobbys wahrnehmen und reflektieren |
4L |
Vorurteile und Stereotypen | erklären, was Stereotypen und Vorurteile sind und welche Auswirkungen sie haben | 4L |
Männerarbeit / Frauenarbeit? –Gleichberechtigung | verschiedene Möglichkeiten der Rollenaufteilung in Haushalt und Beruf erkennen und reflektieren | 3L |
Beruf und Geschlecht, geschlechtergerechte Sprache | Geschlechterstereotypen in der Berufswelt erkennen, reflektieren und eigene Vorstellungen entwickeln
geschlechtergerechte Sprache im Bereich der Berufsbezeichnungen anwenden |
3L |
Chancengleichheit – ein Menschenrecht | unterschiedliche Lebensweisen beschreiben und erkennen, was Herkunft und Zugehörigkeit bedeuten
Rechte und Pflichten von Individuen in unserer Gesellschaft benennen (Frauenrechte, Kinderrechte) |
3L |
Postkonzepte | ihre Erkenntnisse darstellen und Anschlussfragen formulieren | 1L |
Die detaillierte Grobplanung (MB1) sowie ein 24-Stunden-Kuchendiagramm (MB2) finden sich im Zusatzmaterial zu diesem Beitrag.
Reflexion
Studentin M. formulierte im Anschluss an die didaktische Rekonstruktion folgende Frage: «Wie können wir das Thema ‹Geschlechterrollen› mit Kindern explizit als Sachunterrichtsthema bearbeiten, ohne diese Rollenerwartungen und Stereotypen zu verstärken?» Diese wichtige Frage weist auf eine gute Sensibilität und einen wichtigen Aspekt hin: Um Geschlechterstereotypen und Geschlechterpolaritäten im Unterricht thematisieren zu können, ist es wesentlich, dass Lehrpersonen sich mit soziologischen Grundlagen zu Gender und Doing Gender auseinandersetzen. Dies sowie die Reflexion der eigenen Geschlechterkonstruktionsprozesse ermöglichen die notwendige fachliche Sicherheit.