Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen


image_pdfpdf-Dokument erstellen

Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen

Ein erläuternder Kommentar

Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen, Lehrmittel für die 1.–9. Klasse, mit digitalem Kommentar und Klassenmaterial, Zürich 2020.
Von Matthias Pfeiffer

0. Einleitung

«Moralisches Denken besteht im Wesentlichen darin, Situationen und Lebenslagen in ihrer moralischen Signifikanz zu verstehen, denn hieran bemisst sich die Richtigkeit von Handlungen. Wenn jemand wirklich verstanden hat, was grosse Armut für einen Menschen bedeutet: Hat er damit nicht zugleich verstanden, dass Menschen einer solchen Lebenslage nicht ausgesetzt sein sollten und dass es somit einen moralischen Grund gibt, sie nach Möglichkeit zu bewahren?»[1]

Sich in einer zunehmend unübersichtlichen Welt und im eigenen Leben orientieren zu können, ist zu einer grossen Herausforderung geworden, auch für Kinder und Jugendliche.

Das Wissen vermehrt sich rasant und ist selbst für Experten nicht zu überblicken. Zugleich ist Wissen heute zugänglich und verfügbar wie nie zuvor, nur einen Mausklick entfernt. Doch welches Wissen ist wesentlich? Was sollen Kinder und Jugendliche heute lernen, um sich in der Welt zurechtzufinden?

In unserer Gesellschaft begegnen Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Weltanschauungen, Werthaltungen und Lebensorientierungen, auch solchen, die ihnen unvertraut und fremd sind. Wer bestimmt, was richtig oder falsch, was gut und böse ist? Was sollen sie lernen, um sich in unserer Gesellschaft orientieren und mit Kindern mit anderen religiösen und kulturellen Hintergründen zusammenleben zu können?

Der wissenschaftlich-technische Fortschritt konfrontiert uns mit neuen Fragestellungen und elementaren Lebensfragen. Dürfen wir alles, was wir können? Wer hat das Recht, der wissenschaftlichen Forschung Grenzen zu setzen?

Es ist die Aufgabe der Ethik, über moralische Fragen nachzudenken, mit denen wir im Leben, Denken und Handeln konfrontiert sind. Viele Menschen erwarten von ihr, dass sie uns Orientierung gibt in den Fragen des guten Lebens und richtigen Handelns in den unterschiedlichen Lebensbereichen wie Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung, Politik und Gesellschaft.

Das auf das Schuljahr 20/21 neu erscheinende Lehrmittel «Schauplatz Ethik» zeigt den Lehrerinnen und Lehrern Möglichkeiten auf, wie sie mit den Schülerinnen und Schülern über philosophische und ethische Fragen nachdenken können. «Schauplatz Ethik» hat sich für ein interessantes und wegweisendes Konzept entschieden. Es hat seinen Ausgangspunkt in sogenannten «Schauplätzen», das heisst an Orten, die den Schülerinnen und Schülern vertraut (oder zumindest irgendwie bekannt) sind und an denen sie sich – auch moralisch – orientieren müssen.

Das didaktische Konzept von «Schauplatz Ethik» widerspiegelt sich in den drei Schritten, die im Titel formuliert werden: «Wahrnehmen – fragen – begründen». In der moralischen Orientierung geht es darum, Situationen, wie sie auf den Schauplatzbildern begegnen, wahrzunehmen und zu verstehen, wesentliche Fragen zu stellen, und die eigenen Einsichten, Haltungen, Überzeugungen und ethischen Urteile im Diskurs vernünftig und für andere nachvollziehbar zu begründen.

Das Konzept wird im Folgenden im Blick auf einzelne Schauplätze erläutert und auf seine didaktischen Perspektiven und Möglichkeiten befragt.

1. Ausgangspunkt: «Schauplätze»

Zunächst fällt auf, dass «Schauplatz Ethik», wie es der Titel bereits andeutet, nicht systematisch die grossen philosophischen Fragen (zum Beispiel die grossen Fragen Kants) stellt oder nicht einfach Themen bzw. Fragestellungen angewandter Ethik (zum Beispiel Fragen, mit denen uns der wissenschaftlich-technische Fortschritt konfrontiert) auswählt, sondern in der alltäglichen Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler ihren Ausgang nimmt.

Wenn wir uns das «Schauplatzbuch» für den Zyklus 1 ansehen, deutet zunächst nichts darauf hin, dass wir es mit einem Buch zu tun haben, das die Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung mit philosophischen bzw. ethischen Fragen führen will. Charakteristisch für alle Zyklen sind die grossen Schauplatzbilder, die jeweils in ein Kapitel, in einen Schauplatz, einführen. An diesen Schauplätzen ereignet sich vieles und gibt es vieles zu entdecken.

Abb 1: Schauplatz Schulzimmer, © Lehrmittelverlag Zürich 2020

Schauplatz Schulzimmer

Im Schauplatzbuch für den 1. Zyklus treten die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel imaginativ in ein Schulzimmer einer 1./2. Klasse ein: Vor dem Eingang schauen zwei Kinder gemeinsam ein Buch an, Kleider und Schuhe liegen um die Garderobe verstreut herum, ein Junge rennt einem Mädchen hinterher … Im Zimmer herrscht eine lebhafte und angeregte Atmosphäre. Einzelne Kinder arbeiten alleine für sich – mit Tablets (!), andere arbeiten zu zweit, eine Gruppe spielt am runden Tisch «Eile mit Weile», ein Schüler hat seine Hausaufgaben auf den Stapel des Lehrerpults gelegt, eine Schülerin und ein Schüler beobachten im Terrarium aufmerksam eine kriechende Schnecke. Ein Schüler scheint nichts zu tun zu haben (auch das gibt es in der Schule!) und bläst einen Kaugummi auf. An der Tür begrüsst die Lehrerin eben zwei Kinder, und zwei andere stehen vor einer Wand und lesen die Klassenregeln.

Vertraute Alltagsbilder

Der Schauplatz «Schulzimmer» ist für Schülerinnen und Schüler der 1. bzw. 2. Klasse ein Teil ihrer alltäglichen Welt. Wenn sie die verschiedenen Szenen sehen, werden vertraute eigene Erfahrungen anklingen: positive und negative Erfahrungen mit dem Lernen, aber auch Erfahrungen mit der Lehrerin oder dem Lehrer, mit Klassenkolleginnen und -kollegen usw. Die Kinder erinnern sich möglicherweise an eigene Schulgeschichten, die Gefühle evozieren, positive und negative: Mit Freude und Stolz erinnert sich Julia an die Tierzeichnungen, die sie nach dem Zoobesuch gestaltet und den Eltern an einer Vernissage gezeigt hat. Begeistert denkt Janus an das Fussballturnier zurück, das sie gewonnen haben. Nils wiederum verspürt wieder die Angst vor schwierigen Rechnungsaufgaben, während Sara sich wütend an den Tag erinnert, als ihre beste Freundin nach der Schule nicht auf sie gewartet hat.

Wahrnehmen und Fragen entdecken

Die Schülerinnen und Schüler sollen – das ist die Intention des Konzepts – in einem ersten Schritt in einen ihnen vertrauten Schauplatz eintauchen, die vielen Situationen und Szenen wahrnehmen und sich überlegen, welche interessanten philosophischen bzw. ethischen Fragen sich stellen. Im alltäglichen Leben sind diese Fragen eben nicht einfach auf den ersten Blick sichtbar, es gilt diese allererst zu entdecken.[2] Das ist auf dem Schauplatzbild nicht anders. Welt- und Lebensorientierung beginnt, indem wir Situationen genau wahrnehmen und sie in ihrer Bedeutung für uns und für andere zu verstehen versuchen.

Mit welchen philosophischen und ethischen Fragen sehen sich die Schülerinnen und Schüler im Schulzimmer konfrontiert? Das ist grundsätzlich eine offene Frage, und obwohl die Autorinnen und Autoren anschliessend Fragen vorschlagen, mit denen sich die Schülerinnen und Schüler im Kontext des jeweiligen Schauplatzes beschäftigen könnten, sollen sich die Lehrerinnen und Lehrer die Freiheit herausnehmen, jene Fragen aufzugreifen, welche sie mit ihrer Klasse selber gefunden haben und die für sie besonders interessant sind.

Am Beispiel «Schulzimmer»

Für den Schauplatz «Schulzimmer» haben die Autorinnen und Autoren zwei mögliche Fragen ausgewählt und didaktisch ausgearbeitet: Zum einen sollen sich die Schülerinnen und Schüler, ausgehend von der Selbstwahrnehmung und den Begegnungen im Schulzimmer, mit der Frage nach sich selbst als Person, mit der eigenen Persönlichkeit beschäftigen: Welches sind meine Fähigkeiten, meine Stärken und Schwächen, meine Vorlieben und Abneigungen? Was habe ich gemeinsam mit meinen Klassenkameradinnen und -kameraden? Worin unterschiede ich mich von anderen? Zum anderen geht es, ausgehend von den Klassenregeln, um elementare Fragen des Zusammenlebens. Was ist erlaubt? Was ist nicht erlaubt? Wie gehen wir mit Regelverstössen um? Warum braucht es Regeln des Zusammenlebens – nicht nur in der Schule, auch in der Familie, im Strassenverkehr?

2. Drei Schritte moralischer Orientierung: wahrnehmen – fragen – begründen

2.1 Wahrnehmen und verstehen

Der erste Schritt in der moralischen Orientierung und ethischen Urteilsbildung ist vielleicht der entscheidende. Denn von der Frage, was wir sehen und wie wir eine Situation in ihrer moralischen Bedeutung verstehen, hängt unmittelbar ab, wie wir darauf eingestellt sind und handeln. Werfen wir deshalb einen Blick darauf, wie wir uns im alltäglichen Leben moralisch orientieren.[3]

Wie orientieren wir uns moralisch?

Stellen wir uns eine Frau vor, die im Fernsehen Bilder von notleidenden syrischen Flüchtlingen sieht. Diese erzählen, was sie auf ihrer Flucht aus der Heimat erlebt haben: wie sie aus Angst vor dem Bürgerkrieg geflohen sind und Freunde und Verwandte zurücklassen mussten; wie sie auf gefährlichen Wegen ohne Hab und Gut nach Europa gelangt sind. Zwei Flüchtlingsfamilien werden in einem Haus der Gemeinde untergebracht, in dem die Frau wohnt. Spontan beschliesst sie, sich in ihrer Freizeit an der Hilfe für die Flüchtlinge zu beteiligen. Sie unterstützt die Familien in alltäglichen Fragen, hilft beim Einkaufen und im Haushalt, hütet die Kinder, erteilt Sprachunterricht usw. Auf die Frage eines Nachbarn, warum sie sich für die Flüchtlingsfamilien engagiere, antwortet sie, wohl ein wenig erstaunt über die Frage: «Hast du die Not dieser Flüchtlinge nicht gesehen? Diese Menschen sind auf unsere Hilfe angewiesen. Da können wir doch nicht die Hände in den Schoss legen. Da müssen wir doch etwas tun!»

Diese Episode lässt wichtige Aspekte erkennen, wie wir uns moralisch in alltäglichen lebensweltlichen Kontexten orientieren: Wir reagieren in moralisch herausfordernden Situationen spontan und intuitiv, in gewisser Weise ohne nachzudenken. Die erstaunte Reaktion der Frau auf die Frage, warum sie den Flüchtlingen helfe, rührt daher, dass aus ihrer Sicht die Hilfe selbstverständlich ist und eigentlich keiner Begründung bedarf.

Emotionen und engagierte Einstellung zur Welt

Die moralische Orientierung ist emotional bestimmt. Emotionen spielen in der moralischen Orientierung die entscheidende Rolle.[4] Emotionen sind nicht einfach gefühlsmässige Reaktionen auf die wahrgenommene Situation, sondern sie sind an der Wahrnehmung selbst beteiligt. Das Mitgefühl erschliesst der Frau die notleidenden Flüchtlinge als Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Das heisst: Die Emotionen lassen uns Situationen so wahrnehmen, dass diese uns praktische Gründe für moralisches Handeln geben.

Um sich in der Welt moralisch zu orientieren, bedarf es einer engagierten Einstellung zur Welt. Die emotionale Wahrnehmung verbindet uns unmittelbar mit den Menschen und der Welt und sensibilisiert für die moralischen Ansprüche, mit denen wir konfrontiert werden. Es ist das Mitgefühl, das der Frau die Augen für die Not der Flüchtlinge öffnet und sie dazu bewegt, sich für die Flüchtlingsfamilien zu engagieren. Ohne engagierte Einstellung bliebe die moralische Orientierung wirkungslos.

Normativer Anspruch der Situation

Interessant ist, wie die Frau ihr Handeln begründet. Anstatt sich rational argumentierend auf allgemeine moralische Grundsätze (zum Beispiel: «Es ist geboten, Menschen in Not zu helfen.») zu berufen, begründet sie ihr Handeln narrativ, das heisst: Sie schildert die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen diese Flüchtlinge ihre Heimat verlassen haben und in einem fremden Land angekommen sind, ihre Not, ihr Angewiesensein auf mitmenschliche Solidarität und Zuwendung. Das heisst: Die Gründe für ihren Entscheid, diesen Menschen zu helfen, liegen in der Situation selbst. Die Situation, in der sich diese Flüchtlinge befinden, stellt einen moralischen Anspruch, den es wahrzunehmen gilt. Dieser Anspruch aber ist nur einer unmittelbaren, engagierten Wahrnehmung zugänglich. Die Frau distanziert sich nicht von der Not der Flüchtlinge, sondern lässt sich auf deren Situation ein. Mit ihrer Schilderung der Not versetzt sie ihre Gesprächspartner imaginativ in die Situation und lässt sie an ihrer vom Mitgefühl bestimmten Wahrnehmung teilhaben in der Hoffnung, dass sie ihr Engagement für die Flüchtlingsfamilien verstehen.

Intuitive moralische Wahrnehmung und ethische Reflexion

Moralische Wahrnehmung unterscheidet sich damit fundamental vom (naturwissenschaftlichen) Erkenntnisideal, das die Welt aus einer distanzierten Perspektive objektiv zu erfassen und zu beschreiben sucht. Während die moralische Wahrnehmung emotional bestimmt ist und sich durch eine subjektive und engagierte Einstellung zur Welt auszeichnet, ist das wissenschaftliche Denken durch eine Haltung des Desengagements geprägt. Es nimmt der Situation durch die Distanzierung vom (realen oder imaginativen) Erleben ihre normative Kraft, mit der sie auf uns wirkt.[5] Die objektivierende Wahrnehmung spielt im Zusammenhang der ethischen Reflexion eine Rolle, wenn wir uns über unsere intuitiven moralischen Einstellungen und Urteile Rechenschaft ablegen, das heisst: wenn wir mit vernünftigen Gründen überprüfen, ob unsere intuitive Reaktion der Situation gerecht wird. Dafür müssen wir uns ein möglichst umfassendes Gesamtbild verschaffen: indem wir uns z. B. Hintergrundwissen zur Flüchtlingsfrage aneignen, politische Überlegungen und Stellungnahmen der verantwortlichen Regierungen, involvierten Hilfswerke usw. zur Kenntnis nehmen und in unsere Urteilsbildung miteinbeziehen.

Die Moral ist immer schon da.

Wir orientieren uns moralisch in lebensweltlichen Kontexten spontan und intuitiv. Dass wir das können, setzt voraus, dass wir moralische Vorstellungen davon haben, was ein gutes menschenwürdiges Leben ist, was Gerechtigkeit ist, was es heisst, sich für andere Menschen verantwortlich zu fühlen, der Natur Sorge zu tragen, eine Ahnung zu haben davon, was gut und böse, richtig und falsch ist. Mit anderen Worten: Die Moral ist immer schon da.

Wir erkennen in den verschiedenen Situationen bestimmte moralisch bedeutsame «Muster» wieder, wie Grosszügigkeit, Fürsorglichkeit, Grausamkeit, Angewiesensein auf Hilfe. Kinder lernen und verinnerlichen diese Muster im alltäglichen Leben, wenn sie sehen und erleben, wie ihre Bezugspersonen mit anderen Menschen und der Welt umgehen und in bestimmten Situationen reagieren: fürsorglich, rücksichtsvoll, respektvoll oder gleichgültig, abwertend, verständnislos usw. Neben dem Lernen im alltäglichen Leben ist auch die Begegnung mit Bildern, Kunst und Geschichten wichtig, die eine Kultur und Gesellschaft prägen.[6] Als Beispiel sei nur an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erinnert, das in der christlichen Überlieferung und darüber hinaus bis heute moralisch orientierend ist, wie wir individuell und gesellschaftlich mit Menschen in Not, zum Beispiel mit Flüchtlingen, umgehen sollen.

Welche Vorstellungen und Muster wir intuitiv in der jeweiligen Situation wiedererkennen und mit welchen Emotionen diese verbunden sind, ist kulturell variabel. Wir sehen nicht alle dasselbe, wenn wir in derselben Situation sind. Offensichtlich gibt es ein «kulturell geprägtes ‚Sehvermögen‘, das uns als Angehörigen derselben Kultur gemeinsam ist»[7] und sich von anderen Kulturen unterscheiden kann. Die kulturelle Variabilität der moralischen Wahrnehmung ist eine der grossen Herausforderungen der Ethik. Was sehen wir? Welche moralischen Wahrnehmungsmuster werden aktualisiert? Welche Wahrnehmung ist der Situation angemessen? Was ich zum Beispiel als grausamen Umgang mit Tieren wahrnehme und als moralisch höchst problematisch beurteile, ist für Andere möglicherweise ein normaler Umgang mit Haus- und Nutztieren, bei dem sich gar keine ethischen Fragen stellen.

Den intuitiven und emotionalen Reaktionen Raum geben

Was heisst das nun für den Unterricht mit «Schauplatz Ethik»? Zunächst müssen wir uns bewusst sein: Schülerinnen und Schüler bringen immer schon ihre eigenen moralischen Haltungen und Überzeugungen, ihr subjektives moralisches Wahrnehmen, Denken und Fühlen in den Unterricht mit. Wenn wir uns mit ethisch herausfordernden Situationen auseinandersetzen, werden Schülerinnen und Schüler emotional engagiert ihre Überzeugungen zum Ausdruck bringen: Sie regen sich über ungerechte Handlungen auf, haben Mitleid mit Menschen, die in Not sind, empören sich, wenn die Würde von Menschen verletzt wird, empfinden Abscheu, wenn Tiere grausam behandelt werden usw. Diesen spontanen emotionalen Reaktionen sollten Lehrerinnen und Lehrer in der Erschliessung des Schauplatzbildes Zeit und Raum geben. Sie widerspiegeln die intuitiven moralischen Einstellungen der Schülerinnen und Schüler. Gezieltes Nachfragen («Warum regst du dich über das Verhalten des Polizisten auf?») hilft, diese zu verstehen. Die spontanen Äusserungen der Kinder bilden die Grundlage für die Auseinandersetzung mit philosophischen und ethischen Fragen, mit denen wir am jeweiligen Schauplatz konfrontiert werden.

2.2 Fragen

Im 2. Zyklus (5./6. Klasse) setzen sich die Schülerinnen und Schülern mit Fragen auseinander, die sich im Zusammenhang mit dem Schauplatz «Polizeieinsatz» stellen.

Abb 2: Schauplatz Polizeieinsatz, © Lehrmittelverlag Zürich 2020

Schauplatz Polizeieinsatz

Auf dem Schauplatzbild «Polizeieinsatz» sind unterschiedliche Szenen zu sehen: Da greift ein Mann einem Mädchen in Shorts an den Po. Ein Mädchen stiehlt in einem Laden Süssigkeiten. Jemand knackt das Schloss eines abgestellten Velos. Eine Gruppe Jugendlicher lässt mitten in einem Wohnquartier laute Musik laufen, einer von ihnen tanzt akrobatisch Breakdance dazu. Eine Sprayerin besprayt eine Wand. Eine junge drogensüchtige Frau sitzt am Boden. Drei Jugendliche bedrohen einen anderen Jugendlichen. Polizei ist auf dem Bild nirgends zu sehen.

Diese Szenen werden spontane Reaktionen der Schülerinnen und Schüler provozieren: Sie empfinden Abscheu über die Zudringlichkeit des Mannes gegenüber dem Mädchen, haben wahrscheinlich Mitleid mit der jungen drogensüchtigen Frau, manche sind vielleicht fasziniert von der Gruppe der Breakdancer, empören sich über die Jugendlichen, die zu dritt auf einen anderen gewalttätig losgehen. Einige finden es womöglich gar nicht so schlimm, wenn ein Mädchen einmal Süssigkeiten stiehlt oder eine kahle Betonwand mit einem Graffiti besprayt wird.

Fragen stellen

Warum fordern manche dieser Situationen uns moralisch heraus? Welche Wertvorstellungen werden tangiert oder stehen auf dem Spiel?

Im Beispiel «Polizeieinsatz»: Der Mann, der gegenüber dem Mädchen auf der Bank zudringlich wird, verletzt dessen Würde und Integrität. Die Gruppe der Breakdancer mit ihrer lauten Musik verhält sich rücksichtslos gegenüber den Bewohnern des Quartiers. Das Bild der jungen drogensüchtigen Frau, die auf dem Boden sitzt, aktualisiert das Muster eines Menschen, der auf Hilfe angewiesen ist – ebenso der Jugendliche, der von den drei anderen bedroht wird.

Wie sollen wir in diesen Situationen konkret reagieren? Sollten wir überhaupt eingreifen? Sind wir verantwortlich, anderen zu helfen? Wer hat das Recht und die Pflicht einzuschreiten? Wer ist verantwortlich für Recht und Ordnung? Bei welchen Situationen sollte die Polizei eingreifen? Bei welchen nicht? Aus welchen Gründen? Welche Aufgaben hat eigentlich die Polizei?

Es ist ein wichtiges Anliegen von «Schauplatz Ethik», dass die Schülerinnen und Schüler lernen, in den lebensweltlichen Kontexten der Schauplätze Fragen zu finden, die für die Lebens- und Weltorientierung relevant sind.

  • Was steht eigentlich auf dem Spiel? Worum geht es?
  • Welche Fragen des Lebens und Zusammenlebens werden berührt?
  • Welche Wertvorstellungen, die für mich persönlich bzw. für das Zusammenleben in der Gesellschaft, in der Schule, in der Familie wichtig sind, werden tangiert?

Aufschliessseite

Unmittelbar auf ein Schauplatzbild folgt jeweils eine «Aufschliessseite» mit zahlreichen Fragen. Es handelt sich dabei um Fragen, die in den verschiedenen Szenen des Schauplatzes ins Blickfeld rücken könnten, und anhand derer mit den Schülerinnen und Schülern der Schauplatz «aufgeschlossen» werden kann.

Auf der Aufschliessseite zum Schauplatzbild «Polizeieinsatz» finden sich Fragen, die ausgehend von den einzelnen Szenen diese zugleich überschreiten und zu grundlegendem philosophischen und ethischen Nachdenken anregen: Wo fühle ich mich sicher? Warum gibt es Gewalt? Was wäre, wenn es keine Polizei gäbe? Warum braucht es Regeln und Gesetze? Wer ist verantwortlich, dass Gesetze eingehalten werden? Was können Strafen bewirken? Wer hat die Macht? Müssen wir Autoritäten immer anerkennen? Sind auch Situationen denkbar, in denen wir ungehorsam sein sollten und Gesetze bewusst übertreten, um anderen Menschen zu helfen?

Abb 3: Aufschliessseite Polizeieinsatz, © Lehrmittelverlag Zürich 2020

Gute Fragen

Vielleicht ist es so, dass die Fähigkeit, gute Fragen zu stellen, wichtiger ist, als Antworten darauf zu finden. Der Philosoph Michael Sandel sieht jedenfalls darin das Selbstverständnis eines Philosophen:

«Philosophen sollten sich nicht als Menschen verstehen, die Fragen beantworten, sondern als solche, die Fragen stellen. Sokrates hat Fragen gestellt, bei ihm kann man in die Lehre gehen.»[8]

In einer bestimmten Situation erkennen, welche philosophischen und ethischen Fragen sich stellen; zu sehen, worauf es in ethischer Sicht ankommt, welches Denken und Handeln der Situation in diesem Augenblick im Horizont ethischer Leitvorstellungen wie Gerechtigkeit, Verantwortung und Menschenwürde angemessen sein könnte – das ist im Zusammenhang philosophischer Reflexion und ethischer Urteilsbildung eine entscheidende Fähigkeit. Im Anschluss an Aristoteles könnten wir diese Fähigkeit «Klugheit» (phronesis) nennen.[9]

2.3 Begründen

Auf die Schritte «Wahrnehmen» und «Fragen stellen» folgt als letzter Schritt das «Begründen». Ein philosophisches Gespräch ist mehr als ein Austausch persönlicher Meinungen. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, ihre Wahrnehmungen sorgfältig zu formulieren, Begriffe präzise zu definieren und zu verwenden, Einsichten, Behauptungen, Thesen mit Hilfe von Argumenten vernünftig zu begründen, so dass die anderen ihre Überlegungen verstehen und gegebenenfalls kritische Einwände formulieren können.

Abb 4: Schauplatz Schulweg, © Lehrmittelverlag Zürich 2020

Schauplatz Schulweg

Im Schauplatz «Schulweg» (Zyklus 2, 3./4. Klasse) setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit dem Phänomen der Zeit auseinander: Ausgehend von Szenen auf dem Schauplatzbild begegnen sie Fragen wie:

  • Kann man Zeit sehen?
  • Woran lässt sich erkennen, dass die Zeit vergeht?
  • Vergeht die Zeit immer gleich schnell?
  • Wer bestimmt über meine Zeit?
  • Was wäre, wenn es die Zeit nicht gäbe?

Das philosophische Nachdenken über die Zeit verliert sich dabei nicht in abstrakten Höhen, sondern wird geschickt immer wieder zurückgebunden an die Zeiterfahrungen der Kinder: an das Vergessen der Zeit beim Spielen; an eine langweilige Schulstunde, in der die Zeit nicht vergehen wollte; dass oft Erwachsene (Eltern, Lehrerinnen und Lehrer) über ihre Zeit bestimmen usw.

Philosophische Gespräche

Um eine Kultur des philosophischen Gesprächs aufzubauen, sollen mit den Schülerinnen und Schülern fünf unterschiedliche Zugänge eingeübt werden, die sich an das philosophiedidaktische Modell von Ekkehart Martens anlehnen. Martens versteht Philosophie als «elementare Kulturtechnik».[10] Im Schauplatzbuch findet sich dafür jeweils eine hilfreiche Seite «Werkzeuge zum Philosophieren», welche den Schülerinnen und Schülern sprachliche Unterstützung in Form von Fragen und Formulierungselementen für ein philosophisches Gespräch anbietet. Für den Zyklus 2 sieht diese Seite so aus:

Abb 5: Werkzeugseite Zyklus 2, © Lehrmittelverlag Zürich 2020

Auch in der Praxis ethischer Urteilsbildung spielt das Philosophieren als «elementare Kulturtechnik» eine wichtige Rolle. Auch da müssen die Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Überzeugungen, ihre das eigene Denken und Handeln orientierenden Wertvorstellungen und die sich daraus ableitenden ethischen Urteile mit Hilfe vernünftiger Argumente so zu begründen, dass sie andere rational nachvollziehen können.

3. Aufbau einer Haltung der Aufmerksamkeit

Ethik, so haben wir gesagt, denkt über die moralischen Fragen nach, mit denen wir im Leben, Denken und Handeln konfrontiert sind. Oft liegen die relevanten philosophischen Fragen und ethischen Herausforderungen an den verschiedenen Schauplätzen nicht offen zutage, sind nicht auf den ersten Blick sichtbar, sondern müssen entdeckt und herausgearbeitet werden. Daher gilt es, mit den Schülerinnen und Schülern eine Haltung der Aufmerksamkeit, eine Sensibilität für Fragen und Probleme zu entwickeln, so dass sie an den Schauplätzen die moralischen Fragen erkennen, die uns herausfordern, weil sie wichtige Wertvorstellungen tangieren. Daher ist der erste Schritt in der ethischen Urteilsbildung, die Wahrnehmung, so eminent wichtig.

Schauplatz Asylunterkunft

Im 3. Zyklus findet sich ein Schauplatz «Asylunterkunft». Da begegnen die Schülerinnen und Schüler einerseits dem Schicksal von Flüchtlingen, welches sie in die Schweiz geführt hat, lernen politische Regelungen wie das Asylgesetz kennen, das definiert, wer das Recht hat, als Flüchtling anerkannt zu werden, und sie orientieren sich in der politischen Diskussion in Zusammenhang mit den Flüchtlingsfrage. Andererseits setzen sie sich mit weiterführenden philosophischen bzw. ethischen Fragen auseinander: Was bedeutet es für Menschen, eine Heimat zu haben? Was gehört alles zu unserer Vorstellung von Heimat? Ist es moralisch überhaupt legitim, Grenzen zu ziehen und Menschen daran zu hindern, sich dort niederzulassen, wo sie möchten?

An anderen Schauplätzen werden die Schülerinnen und Schüler unmittelbarer mit ethischen Fragen konfrontiert. Besonders im 3. Zyklus (Sekundarstufe I) setzen sie sich mit kontroversen ethischen Fragen auseinander, die auch immer wieder Gegenstand der politisch-gesellschaftlichen Diskussion sind. So begegnen die Schülerinnen und Schüler im «Schauplatz Labor» der strittigen Frage, ob Tierversuche unter gewissen Voraussetzungen ethisch gerechtfertigt werden können.

Abb 6: Ausschnitt aus Schauplatz Labor, © Lehrmittelverlag Zürich 2020

Schauplatz Labor

Auf dem Schauplatzbild ist ein Wissenschaftler zu sehen, mit weissem Kittel, Brille und Mundschutz, in gewisser Weise so seiner Individualität beraubt, ein Mensch, der ganz in seiner Forschung aufgeht. Er setzt eben einer weissen Maus – die er aus einem Glasbehälter genommen hat, wo sich noch andere Mäuse befinden – eine Spritze. Daneben ein traurig und etwas misstrauisch dreinblickender Affe, mit einer Nummer versehen und in einem Käfig sitzend, der dem Wissenschaftler dabei zuzusehen scheint.

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass diese Szene bei zahlreichen Jugendlichen unmittelbar spontane emotionale Reaktionen provozieren wird: «Diese armen Tiere!» «Tierversuche sollten verboten werden!» «Woher nehmen wir uns das Recht, Tiere für Versuche einzusetzen? Gut – vielleicht Mäuse, aber sicher nicht höher entwickelte und intelligente Tiere wie Affen!». Vereinzelte Einwände werden auch zu hören sein: «Um neue Medikamente zu entwickeln, können wir darauf nicht verzichten – traurig, aber wahr.» Mit anderen Worten: Die ethischen Urteile scheinen bereits intuitiv gefällt.

Die spontanen emotionalen Urteile, welche die Jugendlichen intuitiv äussern, widerspiegeln ihre moralischen Überzeugungen und Wertvorstellungen, welche sie im Lauf ihres Lebens gelernt und verinnerlicht haben.[11] Der Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einer «moralischen Landkarte»[12], anhand derer wir uns moralisch orientieren. Diese Landkarte bestimmt unser Leben, Denken und Handeln und damit unsere Identität. Wie diese moralische Landkarte aussieht, ist abhängig von unseren sozialen und kulturellen Prägungen und individuellen Erfahrungen.

Spontane Reaktionen als Ausgangspunkt

Die intuitiv geäusserten Reaktionen und moralischen Urteile sind der Ausgangspunkt der ethischen Urteilsbildung und sollten in einem nächsten Schritt genauer in den Blick genommen werden: Was ist es genau, das mich zu meiner ablehnenden Haltung gegenüber Tierversuchen führt? Was irritiert mich an dieser Szene im Labor? Was empört mich? Welche Fragen stellen sich unausweichlich? Möglicherweise tauchen im Gespräch Fragen auf wie:

  • Haben wir Menschen überhaupt das Recht, Tiere für die Forschung zu verwenden?
  • Haben Tiere dasselbe Recht auf Leben wie wir Menschen?
  • Haben die Interessen von uns Menschen Vorrang vor den Interessen der Tiere?
  • Haben Tiere eine Würde, die wir zu achten haben?
  • Gibt es moralisch achtbare Gründe, Tiere in der Forschung einzusetzen?

Damit die Schülerinnen und Schüler ihre intuitiven moralischen Urteile überprüfen und allenfalls differenzieren bzw. revidieren können, setzen sie sich in einem nächsten Schritt vertieft mit diesen Fragen auseinander. Sachliche Fragen gilt es zu klären: Im Schauplatzbuch (S. 71) finden sie einen statistischen Überblick über die in der Schweiz eingesetzten Versuchstiere und den Grad der Belastung der Versuche. Informationen über die geltenden Bedingungen für Tierversuche in der Schweiz finden sich zusammengefasst ebenfalls im Lehrmittel.

In den Arbeitsmaterialien (AM 72.2) sind unterschiedliche philosophische Positionen zum Verhältnis von Mensch und Tier (bzw. der Natur oder der Welt) skizziert. Welche Auswirkungen haben sie auf die Frage der Tierversuche? Welche Positionen erscheinen plausibel?

Anhand eines Gesprächs unter Jugendlichen über Pro und Contra von Tierversuchen (S. 72–73) stellen die Schülerinnen und Schüler die Argumente einander gegenüber und versuchen, sie zu gewichten. Welche Argumente sind moralisch höher zu gewichten? Die Integrität und das Leben der Tiere oder die Aussicht, mit Hilfe der wissenschaftlichen Forschung Medikamente zur Heilung schwerer Krankheiten zu entwickeln? Welche Argumente überzeugen die Schülerinnen und Schüler?

Ethische Urteilsbildung

Das Ziel dieses Prozesses ethischer Urteilsbildung ist, dass jede Schülerin, jeder Schüler in der Lage ist, sich ein eigenes ethisches Urteil zu bilden und dieses mit vernünftigen Argumenten im Gespräch mit anderen zu vertreten. Fragen wie: Welche Überzeugungen und Wertvorstellungen sind für das eigene Urteil leitend? Welche Überlegungen sind relevant – und warum? spielen dabei eine zentrale Rolle.

Ein Blick auf die politisch-gesellschaftlichen Diskussion der Frage Pro und Contra von Tierversuchen (wie anderer ethischer Fragen) zeigt, dass ein Konsens in der Klasse nicht zu erwarten ist. Die von eigenen Lebenserfahrungen geprägten individuellen moralischen Haltungen und Überzeugungen scheinen oft stärker zu sein als rationale Argumente, welche der eigenen Haltung widersprechen. Die Wahrnehmung der gleichen Situationen können sich erheblich unterscheiden:

Am Beispiel Schauplatz Labor: Wenn eine Schülerin zutiefst davon überzeugt ist und sieht, dass der Forscher im Labor die Tiere grausam behandelt – das heisst auf dem Bild in der Szene, wo der Forscher der weissen Maus eine Spritze setzt, das Muster der Grausamkeit erkennt –, so wird ihr das Argument, dass der Tierversuch vielleicht zur Entwicklung eines wirksamen Medikaments beiträgt, kaum plausibel erscheinen. Umgekehrt sieht ein anderer Schüler in dieser Szene einen engagierten Wissenschaftler, der seine Kraft für den Fortschritt der medizinischen Forschung einsetzt und Tierversuche sorgfältig und ethisch verantwortungsbewusst durchführt.

Im Gespräch werden die beiden Jugendlichen vielleicht an einen Punkt gelangen, an dem sie sagen: «Ich kann nachvollziehen, wie du zu deiner Haltung zu Tierversuchen gekommen bist, aber ich könnte sie nie übernehmen, weil ich die Situation irgendwie anders sehe als du.»

Angesichts der kontroversen Standpunkte stellt sich nun weiterführend die Frage, wie wir in einem politischen Prozess zu rechtlichen Regelungen kommen, welche den Anliegen aller beteiligten Parteien Rechnung trägt: den Befürwortern, die überzeugt sind, dass die wissenschaftliche Forschung auf Tierversuche angewiesen ist, um wirksame Medikamente zu entwickeln, aber auch den Gegnern, welche die Würde der Tiere und ihr Recht auf Leben entschieden höher gewichten und deshalb Tierversuche ablehnen. Damit sind wir bereits auf dem Gebiet der Politischen Bildung gelandet.

4. Zum Abschluss

Wahrscheinlich überschätzen wir die Wirkung rationaler Begründungen auf unsere moralischen Überzeugungen und Haltungen. Die in tiefste Schichten unseres Menschseins reichenden moralischen Verhaltenseinstellungen, geprägt durch Erfahrungen in der Familie, Schule und Gesellschaft, erweisen sich als äusserst stabil und bestimmen unsere Identität.

Der Philosoph Michael Hauskeller schreibt in seiner Kritik an der modernen, begründungsorientierten Moralphilosophie:

«Argumente können uns nicht dazu bewegen, eine bestimmte moralische Haltung einzunehmen, weil diese Haltung ein wesentlicher Grund dafür ist, dass uns diese Argumente einleuchten. Die Begründung, die wir für die Richtigkeit unserer Einstellung anführen, erscheinen uns nur deshalb so überzeugend, weil wir diese Einstellung haben […] Den, der anders denkt und empfindet als wir, können wir nicht überzeugen, und den, der genauso denkt und empfindet, brauchen wir nicht zu überzeugen.»[13]

Einüben philosophischer Gespräche

Trotz dieses skeptischen Einwandes ist das Einüben philosophischer Gespräche und kontroverser Diskussionen über ethische Fragen von grosser Bedeutung. Denn es ist in einer pluralen Gesellschaft wichtig, Menschen zu verstehen, die in kontroversen Fragen anders denken als ich, und sich mit ihnen auf gemeinsame Regeln des Zusammenlebens zu verständigen. Insofern leistet «Schauplatz Ethik» einen Beitrag zur Politischen Bildung. Daher ist es ein wichtiges Ziel gerade auch ethischer Bildung, dass wir mit den Schülerinnen und Schülern «Diskurstugenden»[14] aufbauen und einüben. Dazu gehören:

  • die Bereitschaft, im Diskurs vom eigenen moralischen Standpunkt Abstand zu nehmen
  • die Bereitschaft, den eigenen Standpunkt zur Diskussion zu stellen und im Licht anderer Gründe und Argumente zu überprüfen
  • die Bereitschaft, dem Gegenüber aufmerksam zuzuhören und sich zu bemühen, ihn und seine Haltung zu verstehen
  • die Bereitschaft, andere Auffassungen und Gegenargumente fair zu erwägen

Ziele ethischer Bildung

Welches sind die Ziele ethischer Bildung? Letztlich geht es um die Entwicklung einer Sensibilität für ethische Fragestellungen und den Aufbau einer Haltung der Nachdenklichkeit, d. h. einer reflexiven Haltung, die der Komplexität der Phänomene und Situationen gerecht wird. Es geht nicht um endgültige Antworten auf die Frage, was in einem bestimmten Fall bzw. in einer konkreten Situation ethisch geboten oder verboten ist, sondern darum, dass jeder und jede einzelne für sich etwas mehr Klarheit bekommt und fähig ist, seine eigenen Überzeugungen mit Gründen im Diskurs mit anderen zu rechtfertigen. Dazu gehört aber auch die Bereitschaft, sich mit ethischen Haltungen und Standpunkten anderer auseinanderzusetzen und seine eigenen Überzeugungen gegebenenfalls zu modifizieren.

Die ethische Reflexion darf sich nicht in den Höhen abstrakter Konstruktionen und rationalen Argumentierens verlieren, sondern muss an den lebensweltlichen Kontext der Situation zurückgebunden und orientiert bleiben, in dem sich die moralische Herausforderung stellt.[15] Denn die konkrete Situation ist der Prüfstein, an dem sich zeigt, ob das ethische Urteil sich bewährt, das heisst: ob es der Situation der beteiligten und betroffenen Personen gerecht wird und angemessen ist.

Wahrnehmungsvermögen kultivieren

Christoph Ammann hat in einem Impulsreferat an der PH Zürich[16] darauf hingewiesen, dass es im ethischen Lernen darum gehe, ein bestimmtes «Wahrnehmungsvermögen» zu entwickeln und zu kultivieren. Das heisst, dass Schülerinnen und Schüler in einer spezifischen Situation – zum Beispiel auf dem Schauplatzbild «Polizeieinsatz» – erkennen, was auf dem Spiel steht und welche Wertvorstellungen tangiert werden. Um uns im Leben orientieren zu können, müssen wir einen zuverlässigen «moral sense» entwickeln: das heisst einen Sinn dafür, was in der jeweiligen Situation gut und schlecht, richtig und falsch, gerecht und ungerecht ist und welches Handeln der Situation gerecht wird.

Aus der Sicht ethischen Lernens heisst das, einen Schwerpunkt auf das Wahrnehmen und Verstehen der Situationen zu setzen: mit den Schülerinnen und Schülern imaginativ in die auf den Schauplatzbildern abgebildeten Szenen, in die Geschichten und Fallbeispiele eintauchen, so dass sie aufmerksam werden auf die moralischen Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert werden. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich ihrer emotionalen intuitiven Reaktionen bewusst werden und diese in einem zweiten Schritt auf ihre Plausibilität und Angemessenheit hin überprüfen, indem sie im Diskurs mit Anderen die Situation differenziert aus den verschiedenen Perspektiven der beteiligten und betroffenen Menschen (und Tiere) wahrnehmen und verstehen, was die Situation für sie bedeutet.

Die eigentliche Aufgabe der Ethik besteht letztlich darin – wie es Johannes Fischer zugespitzt formuliert hat –,

«Situationen, moralische Phänomene, Konflikte und Probleme in der Differenziertheit ihrer Aspekte zu analysieren und vor Augen zu stellen, in der Hoffnung, dass dies hilfreich und klärend auch für die moralische Orientierung und Urteilsbildung anderer ist.»[17]

Für diese Einübung philosophischen und ethischen Denkens bietet das neue Lehrmittel «Schauplatz Ethik» vielfältige und interessante Anregungen.

Literatur

Ammann, Christoph (2007): Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für die christliche Ethik, Stuttgart.
Ammann, Christoph (2018): Impulsreferat Lernen in ethischen Kontexten – in ethischen Kontexten lernen (Script), Zürich.
Bleisch, Barbara / Huppenbauer, Markus (2011): Ethische Entscheidungsfindung. Ein Handbuch für die Praxis, Zürich.
Fischer, Johannes (2012): Verstehen statt begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart.
Fischer, Johannes (2010): Grundlagen der Moral aus ethischer Perspektive und aus der Perspektive der empirischen Moralforschung, in: Fischer, Johannes / Gruden, Stefan (2010): Die Struktur der moralischen Orientierung, Berlin, S. 19-48.
Fischer, Johannes (Script, o. J.): Vorlesung Medizin und Ethik.
Hauskeller, Michael (2001): Versuch über die Grundlagen der Moral, München.
Luckner Andreas (2005): Klugheit (Grundthemen Philosophie), Berlin / New York.
Martens, Ekkehart (92016): Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik, Hannover.
Sandel, Michael / von Thadden, Elisabeth (2014): «Gute Fragen sind einfach», in: DIE ZEIT (Hrsg.) (2014): Wie soll ich leben? Philosophen der Gegenwart geben Antwort, München, S. 103-122.
de Sousa, Ronald (1987): The Rationality of Emotions, Cambridge/London.
Taylor, Charles (2012): Quellen des Selbst, 8. Aufl., Frankfurt am Main.

Anmerkungen

[1] Fischer 2012, S. 61f.
[2] Das Stellen von Fragen ist ein wichtiges Anliegen des Lehrplans 21 (NMG 11.2a und b).
[3] Zum Folgenden vgl. Fischer 2010.
[4] Zur Bedeutung der Emotionen für die Ethik: Ammann 2007.
[5] Taylor 82012, S. 290.
[6] de Sousa 1987, S. 182: «We are made familiar with the vocabulary of emotion by association with paradigm scenarios. These are drawn first from our daily life as small children and later reinforced by the stories, art, and culture to which we are exposed.»
[7] Fischer 2010, S. 42.
[8] Sandel / von Thadden 2014, S. 106.
[9] Zum Begriff der Klugheit: Luckner 2005.
[10] Martens 92016.
[11] Hauskeller 2001, S. 11: «Aber die Moral ist immer schon da; sie bestimmt unser Denken, Empfinden und Wahrnehmen. Es gibt keinen archimedischen Punkt, keinen moralfreien Raum, der die objektive, quasi-wissenschaftliche Begründung einer für alle verbindlichen Moral erlauben würde. Jeder der in einen solchen Diskurs eintritt, hat bereits eine Moral.»
[12] Taylor 82012, S. 59f.
[13] Hauskeller 2001, S. 11. Er schreibt weiter: «Alles in allem scheint daher eine Moralphilosophie, der es vorrangig um die Begründung von moralischen Standpunkten geht, ein recht überflüssiges Unternehmen zu sein» (ebd.).
[14] Bleisch/Huppenbauer 2011, S. 157-159; Fischer (Script).
[15] Fischer 2012, S. 71.
[16] Ammann 2018.
[17] Fischer 2012, S. 62.
Artikelnachweis
Pfeiffer, Matthias (2020): Schauplatz Ethik. Wahrnehmen – fragen – begründen. Ein erläuternder Kommentar, in: erg.ch – Material zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/pfeiffer-schauplatz-ethik/

Über Matthias Pfeiffer

Dr. Matthias Pfeiffer ist Dozent für «Religionen, Kulturen, Ethik» an der Pädagogischen Hochschule Zürich und war Mitglied des Projektleitungsteams für die Erarbeitung des Lehrmittels «Schauplatz Ethik».