Schülernahe Dilemmasituationen


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Schülernahe Dilemmasituationen

Eine Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe I

Argumente formulieren, das Für und Wider abwägen und dabei die ethische Urteilskraft schärfen – dies sind zentrale Elemente des Ethikunterrichts im Rahmen von ERG. Dilemmadiskussionen sind eine gängige didaktische Methode, um die entsprechenden Fähigkeiten zu schulen. Doch viele der klassischen Dilemmata sind für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I lebensfern. Im vorliegenden Beitrag wird eine Unterrichtseinheit skizziert, die auf acht schülernahen Dilemmata basiert.
Von Tanja Kurzo

Einleitung

Wann erlebten Sie zuletzt eine Dilemmasituation, waren unschlüssig, wie Sie handeln sollten, weil keine der möglichen Handlungsalternativen moralisch befriedigend war? Welche Argumente sprachen für welche Entscheidung? – Solchen Dilemmasituationen wird beinahe jeder Mensch ausgesetzt sein, sei dies bewusst oder unbewusst. Entscheidend ist die Art und Weise, wie die Handlung reflektiert und begründet wird – die moralische Urteilsfähigkeit. Das Abwägen und Begründen in Dilemmasituationen ist jedoch keine selbstverständlich vorhandene Fähigkeit und muss eingeübt werden. Jonas Pfister formuliert dies wie folgt: «Bereits Kant forderte der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen, indem das eigenständige Denken entwickelt wird» (Pfister 2014, S. 152). Um die moralische Urteilsfähigkeit mit Schülerinnen und Schülern einzuüben, wird im vorliegenden Beitrag eine Unterrichtseinheit zu alltagsnahen Dilemmasituationen für den Ethikunterricht auf der Sekundarstufe I vorgestellt. Die Unterrichtseinheit richtet sich methodisch nach der Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion von Georg Lind.

Dilemmata: begriffliche Unterscheidungen

Ein Dilemma ist eine offene Situation. Synonyme aus dem Alltag sind die missliche Lage oder die Klemme. Bei jedem Dilemma befindet man sich in einer misslichen Lage. Aber nicht jede missliche Lage ist ein Dilemma. Wenn ich grosse Schulden habe, befinde ich mich zwar in einer misslichen Lage, aber noch nicht zwingend in einem Dilemma. Die Klemme beschreibt ein Dilemma relativ treffend. Denn das Wort sagt nichts anderes aus, als das Eingeklemmt-Sein zwischen zwei Sollens-Anforderungen (Raters 2013, S. 60ff.). Soll ich das eine oder das andere tun?

Marie-Luise Raters unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Dilemma-Arten mit jeweils unterschiedlichen Implikationen. Zum einen gibt es die sollensbasierten Dilemmata. Dabei muss der Akteur zwischen zwei sich ausschliessenden Sollens-Anforderungen entscheiden. Der Akteur kann unmöglich beiden Sollens-Anforderungen gerecht werden (Raters 2013, S. 46f.). Zum anderen gibt es, in Anlehnung an Thomas Nagel, sogenannte echte Dilemmata. Bei echten Dilemmata gibt es zwingende Gründe für zwei nicht-kompatible Handlungsmöglichkeiten. Der Akteur befindet sich somit in einer Zwangslage. Auch Nicht-Handeln wird als eine Handlungsmöglichkeit betrachtet. Denn auch Nicht-Handeln ist eine Entscheidung und bringt Folgen mit sich (Pfister 2014, S. 236). Die Gründe für die zwei Handlungsmöglichkeiten müssen verschieden, aber gleichgewichtig sein. Wären die Gründe nicht verschieden, würde man von einem symmetrischen Dilemma sprechen. Dabei gäbe es jedoch kein Ringen um die richtige Entscheidung (Raters 2013, S. 49ff.). Und genau dieses Ringen sollen die Dilemmata bei den Schülerinnen und Schülern auslösen. Daher haben die für die vorliegende Unterrichtseinheit entworfenen Dilemmata den Anspruch, echte Dilemmata zu sein. Nebst den verschiedenen, aber gleichwertigen Gründen für Handlungsmöglichkeiten schreibt Nagel dem echten Dilemma das Merkmal der Ausweglosigkeit zu. Es gibt bei echten Dilemmata keinen dritten glücklichen Ausweg (ebd., S. 52). Ähnlich beschreibt auch Georg Lind das Dilemma: «Die Wahl zwischen zwei Verhaltensalternativen, wenn beide eigenen moralischen Prinzipien widersprechen und es keine dritte Alternative gibt» (Lind 2009, S. 79).

Bei dem echten Dilemma gibt es nun weitere Differenzierungsmöglichkeiten. Relevant für den Ethikunterricht ist das moralische echte Dilemma, weshalb weitere echte Dilemma-Arten wie das pragmatisch-echte Dilemma, das juristisch-echte Dilemma oder das ästhetisch-echte Dilemma hier nicht weiter thematisiert werden (vgl. dazu Raters 2013, S. 77).

Jedes moralische Dilemma ist nach Thomas Nagel auch ein echtes Dilemma. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Beim moralischen Dilemma muss mindestens eine der beiden Handlungsmöglichkeiten einen moralischen Handlungsgrund aufweisen. Ein Handlungsgrund wird beschrieben als die Antwort auf die Frage: «Warum hast du das getan?». Der Grund ist dann moralisch, wenn die Antwort mit Blick auf die Interessen Dritter gefällt wird (ebd. S. 73f.). Dabei treffen eine oder mehrere Wertvorstellungen aufeinander. Ein Beispiel von zwei entgegengesetzten (moralischen) Prinzipien wäre Ehrlichkeit versus Leidensverminderung (Aufenanger et al. 1981, S. 18.).

Das moralische Dilemma kann weiter differenziert werden:

  1. Reines versus vermischtes Dilemma: Bei einem reinen Dilemma sind beide Handlungsgründe von gleicher Sorte. Ein reines moralisches Dilemma speist sich somit aus zwei moralischen Handlungsgründen, wogegen ein vermischtes Dilemma neben einem moralischen Handlungsgrund einen aussermoralischen, z. B. pragmatischen Handlungsgrund aufweist. (Raters 2013, S. 78ff.).
  2. Banales versus teuflisches Dilemma: Beim banalen Dilemma steht für den Akteur, der die Entscheidung treffen muss, nicht viel auf dem Spiel. Bei einem teuflischen Dilemma andererseits steht viel auf dem Spiel und der Ausgang kann für den Akteur im Nachhinein belastend werden (ebd., S. 82f.). Aus dem Anspruch, schülernahe Dilemmata zu entwickeln, ergibt sich für die vorliegende Unterrichtseinheit, dass es sich vorrangig um banale Dilemmata handeln wird.
  3. Reales versus hypothetisches Dilemma: Beim realen Dilemma unterliegt der Akteur einem unmittelbaren Entscheidungsdruck. Zusätzlich bringt die Entscheidung reale Folgen mit sich. Im Gegensatz dazu weist ein hypothetisches Dilemma keine realen Folgen auf. Der Akteur verweilt dabei in der Entscheidungsphase und muss nicht in die Handlungsphase übergehen (ebd., S. 84f.).

Für die vorliegende Unterrichtseinheit sind moralisch-echte, reine, hypothetische Dilemmata konzipiert worden. Georg Lind verwendet anstelle des Begriffs des hypothetischen Dilemmas den Begriff des konstruierten semi-realen Dilemmas (Lind 2009, S. 78). Die beiden Begriffe sind deckungsgleich.

Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion

Die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion ist eine Unterrichtsmethode, die von Georg Lind in Anlehnung an die Theorie der moralischen Entwicklung von Lawrence Kohlberg entwickelt worden ist. Es geht darum, die Schülerinnen und Schüler zum kritischen Denken und Handeln anzuregen (Kahlert/Multrus 2012, S. 120). Ziel ist es, die moralische Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern (Lind 2009, S. 74f). Dafür setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit moralischen Dilemmata auseinander, hören sich Gegenargumente an und denken darüber nach. Sie werden mit konkurrierenden Wertvorstellungen konfrontiert und müssen einen eigenen Standpunkt finden und begründen (Pfeifer 2003, S. 23). Es kommt weniger auf die Meinung, als vielmehr auf die Art der Begründung der eigenen Meinung an (Kesselring 2014, S. 42). Die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion unterscheidet sich insofern vom Ansatz von Kohlberg, als im Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit Gegenargumenten steht, die nicht unbedingt einer höheren moralischen Entwicklungsstufe entsprechen müssen, wie dies Kohlberg fordert. Lind geht davon aus, dass generell von der eigenen Meinung abweichende Argumente das moralische Denken der Schülerinnen und Schüler herausfordert (Lind 2009, S. 73). Die Plus-1-Konvention von Kohlberg wird somit in der Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion verworfen.

Moralische Urteilsfähigkeit

Georg Lind geht davon aus, dass alle Menschen über moralische Grundsätze verfügen – selbst Straftäter. Ihnen mangelt es allerdings an der kognitiven Fähigkeit, moralische Konfliktsituationen auszumachen und darin anschliessend moralisch korrekt zu handeln (Kahlert/Multrus 2012, S. 125). Die moralische Urteilsfähigkeit wird entsprechend verstanden als Fähigkeit, Werte und Prinzipien angemessen anzuwenden. Bei einem Dilemma treffen verschiedene sich ausschliessende moralische Prinzipien aufeinander. Die moralische Urteilsfähigkeit befähigt den Menschen nun, dieses moralische Dilemma zu lösen. Die Fähigkeit, moralische Dilemmata zu lösen, wird von Lind auch als eine Schlüsselqualifikation für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft benannt. Die moralische Urteilsfähigkeit hilft den Menschen im Umgang mit Dilemmata in Familie, Schule, sozialen Beziehungen, aber auch im Beruf. Sie befähigt zum Einhalten von Regeln und Gesetzen, zum Widerstand gegen unbefugte Autoritäten und zum Hilfeverhalten gegenüber Mitmenschen (Lind 2009, S. 16ff.), weswegen sie unter anderem auch eine wichtige Kompetenz für Schülerinnen und Schüler darstellt.

Eine wichtige Voraussetzung für die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion ist die Annahme der Lehrbarkeit von moralischer Urteilsfähigkeit. Georg Lind konnte nachweisen, dass beinahe jeder Mensch moralische Prinzipien besitzt und fähig ist, moralische Urteilsfähigkeit zu erlernen. Er beschreibt dies treffend: «Die Fähigkeit, moralische Konzepte im eigenen Verhalten konsistent und different anzuwenden, also das, was wir als moralische Urteilsfähigkeit bezeichnen, ist in jungen Jahren noch wenig ausgebildet; sie bedarf der Entwicklung» (Meyer-Ahlen 2010, S. 45). Die Bildungsbemühungen im Allgemeinen und somit auch die Schule im speziellen sind für diese Entwicklung unter anderem zuständig (ebd., S. 46).

Gelingensbedingungen

Nebst einer eingehenden Vorbereitung von Seiten der Lehrperson sollte ein angemessenes Erregungsniveau bei den Schülerinnen und Schülern vorhanden sein, d. h. die Schülerinnen und Schüler sollten aufmerksam und neugierig für das kommende Dilemma sein. Auch sollte sich der Lernprozess selbst an moralischen Prinzipien orientieren. Dies bedeutet z. B., dass die Lehrperson zwar den Unterricht leitet, aber keine ungerechtfertigte Macht ausübt, oder dass sie auch andere Meinungen als die ihre akzeptiert. Die Meinungsfreiheit und die gegenseitige Achtung sollten auch im Unterricht gelebt werden (ebd., S. 47).

Auch die zu verwendenden Dilemmasituationen sind Gelingensbedingungen unterworfen. Die folgende Checkliste, die sich an Lind (2009, S. 78–81) anlehnt, listet die wichtigsten Anforderungen für ein didaktisch angemessenes Dilemma auf.

  • Liegt eine moralische Zwangslage vor (d. h. zwei bis drei Wertvorstellungen, die sich unauflöslich gegenüberstehen)?
  • Gleichbedeutende Wertvorstellungen
  • Wird Neugier, Empathie und Spannung ausgelöst?
  • Auslöser einer emotionalen Reaktion bei Schülerinnen und Schüler, aber ohne emotionale Überforderung
  • Gibt es keine leichten Auswege aus der Zwangslage?
  • Kurz (ca. eine halbe A4-Seite), verständlich und so einfach wie möglich
  • Offener Ausgang
  • Nur wenige handelnde Personen
  • Hat die Dilemma-Person einen Namen?
  • Geeignet für anvisierte Altersgruppe
  • Realistisch und glaubwürdig
  • Interessant für die Schülerinnen und Schüler
  • Aus unmittelbarem Erfahrungsbereich der Schülerinnen und Schüler stammend
  • Keine richtige Antwort möglich/erstrebenswert

Bei der Umsetzung der Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion ist es wichtig, dass die Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit im Fokus steht und nicht auf eine gemeinsame abschliessende Entscheidung gezielt wird. Dabei ist auch die Rolle der Lehrperson klar definiert. Sie darf weder Moralpredigten halten noch belehrend wirken. Die Lehrperson regt zum kritischen Nachdenken, zum Diskutieren und Argumentieren an und berät die Schülerinnen und Schüler (Kahlert/Multrus 2012, S. 126).

Ablauf

Lind schlägt für den Unterrichtsaufbau einen 10-Minuten-Rhythmus vor. Dieser Rhythmus besteht aus abwechslungsweise herausfordernden und unterstützenden Phasen, was für ein optimales Aufmerksamkeitsniveau der Schülerinnen und Schüler sorgen soll. Während den herausfordernden Phasen werden Probleme gelöst, mit den Gegnern diskutiert und Themen wiedergegeben. Im Gegensatz dazu werden in den unterstützenden Phasen Theorien erklärt, Filme gezeigt oder mit Gleichgesinnten diskutiert (Lind 2009, S. 77).

Einen konkreten Unterrichtsablauf zur Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion skizziert Meyer-Ahlen (2010, S. 48.):

  1. Dilemma vorstellen (herausfordernde Phase)
  2. Dilemma selbst durchdenken (unterstützende Phase)
  3. Öffentliche Entscheidung über Dilemmasituation (herausfordernde Phase
  4. Diskussion in separaten Pro- und Contra-Gruppen (unterstützende Phase
  5. Diskussion mit gegnerischer Gruppe (herausfordernde Phase)
  6. Bestes Argument der gegnerischen Gruppe küren (Versöhnungsphase)
  7. Abstimmung

Für die Phase zwei, in der es darum geht, das Dilemma zu verstehen, schlägt Aufenanger vor, die Ausgangssituation als Rollenspiel darzustellen oder die Geschichte in eigenen Worten nacherzählen lassen. Dabei sollen zum einen das Dilemma verstanden werden, zum andern die Wertkonflikte herausgearbeitet werden (Aufenanger 1981, S. 25). In den Phasen drei und vier ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler selbst Stellung nehmen und eine Entscheidung für sich treffen. Anschliessend hören sie sich in Phase fünf die Gegenargumente an, was zu einer Verunsicherung führen kann und auch soll. Denn diese Verunsicherung führt automatisch zu einer kritischen Reflexion des eigenen Arguments (ebd., S. 79). In den Phasen der Entscheidung, des Austausches und der Verunsicherung gilt eine starke Zurückhaltung seitens der Lehrperson. Diese Phasen sind als Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern zu verstehen (ebd., S. 88). Gemäss Meyer-Ahlen besteht die letzte Phase der Dilemmadiskussion in einer Abstimmung über das moralische Dilemma. Da eine abschliessende Abstimmung dem Prinzip der Konzentration auf das Argumentieren entgegenläuft und stattdessen den Fokus auf die abschliessende Meinung legt, wurde in der vorliegenden Unterrichtseinheit auf dieses Abschlusselement verzichtet.

Die Umsetzung der Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion wird von Georg Lind für die Klassen 5 bis 10 empfohlen. Die einzelnen Sequenzen, in vorliegenden Fall Lektionen, sollten auf ein paar Wochen verteilt umgesetzt werden, da man eine Überdosierung der Methode vermeiden sollte. Lind geht von vier bis fünf Sequenzen à 80 Minuten aus. Dieses Zeitgefäss reiche, um die moralische Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Mehr Sequenzen am Stück würden nicht zwingend zu einem besseren Resultat führen (Lind 2009, S. 82).

Beschreibung der Unterrichtseinheit

Ziel und Kompetenzen

Das Hauptziel der Unterrichtseinheit ist die Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit. Die Schülerinnen und Schüler sollen durch die Arbeit mit Dilemmasituationen und der Konfrontation mit Gegenargumenten ihre Position argumentativ vertreten und ggf. auch revidieren.

Mit der Unterrichtseinheit werden die folgenden Kompetenzen des Lehrplans 21 angestrebt:

ERG 2.1 Die Schülerinnen und Schüler können Werte und Normen erläutern, prüfen und vertreten.

Die Schülerinnen und Schüler …

a) können gesellschaftliche und individuelle Werte und Normen vertreten und über ihren Sinn und Nutzen kritisch nachdenken.

b) können nach gemeinsamen Werten suchen, Normen aushandeln und sich daran orientieren.

ERG 2.2 Die Schülerinnen und Schüler können Regeln, Situationen und Handlungen hinterfragen, ethisch beurteilen und Standpunkte begründet vertreten.

Die Schülerinnen und Schüler …

a) können erlebte, beobachtete oder erzählte Situationen anhand der Perspektiven verschiedener Beteiligten beurteilen.

b) –

c) –

d) können kontroverse Fragen diskutieren, Positionen, deren Interessen und Begründungen vergleichen und einen Standpunkt vertreten (Erziehungsdirektion des Kantons Bern, 2016).

Die Kompetenz 2.1a wird durch die Dilemmadiskussion selber geübt. Die Schülerinnen und Schüler vertreten in der Diskussion gesellschaftliche und individuelle Werte und Normen. Über deren Sinn und Nutzen denken sie während und nach der Diskussion nach, indem sie eigene Argumente ggf. anpassen oder revidieren. In den Vorbereitungen zur Dilemmadiskussion wird die Kompetenz ERG 2.1b bearbeitet. Die Schülerinnen und Schüler suchen in meinungshomogenen Gruppen nach gemeinsamen Werten und handeln diese untereinander aus, indem sie sich beispielsweise auf eine gemeinsame Reihenfolge einigen. Die Kompetenz ERG 2.2 stellt die Hauptkompetenz für diese Unterrichtseinheit dar. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich mit erzählten Situationen, d. h. den Dilemmasituationen. Sie beurteilen die Situation mit Pro- und Contra-Argumenten und vertreten in den Diskussionen einen begründeten Standpunkt. Die Kompetenz ERG 2.2d wird folgendermassen in der Unterrichtseinheit bearbeitet: Während der unterstützenden Phase in den meinungshomogenen Gruppen vergleichen die Schülerinnen und Schüler Begründungen und einigen sich auf einen Standpunkt. Dieser wird in den darauffolgenden Diskussionen vertreten.

Aufbau der Unterrichtseinheit

Für die Unterrichtseinheit sind acht schülernahe Dilemmasituationen konzipiert worden. Es hängt von den Präferenzen der Klasse und der Lehrperson ab, welche und wie viele der acht Dilemmasituationen zum Zug kommen. Die Unterrichtseinheit erstreckt sich über sechs Lektionen, die wie oben bereits erwähnt, über eine Zeitspanne von mehreren Wochen verteilt werden.

Die Lektionen bauen aufeinander auf, weswegen sie in der vorgegebenen Reihenfolge durchgeführt werden sollten. Im Mittelpunkt jeder Lektion stehen die Dilemmata. Eine eigene Auseinandersetzung mit den Dilemmata ist von Vorteil. Auch wurde in den Lektionen bewusst auf eine gemeinsame abschliessende Handlungsentscheidung verzichtet. Dies ist nicht Ziel der Unterrichtseinheit, sondern, wie oben erwähnt, die Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit.

Die Abfolge der Inhalte ist auf die Theorie der abwechselnden Phasen angepasst. Nach jeder herausfordernden Phase folgt eine unterstützende Phase. So sollte das Aufmerksamkeitsniveau der Schülerinnen und Schüler stets hoch sein und bleiben.

Differenzierungs- und Individualisierungsmöglichkeiten

Jede Klasse ist in ihrer Zusammensetzung, Grösse, Leistungsniveau und Persönlichkeit unterschiedlich. Deswegen werden nun einige Vorschläge gemacht, wie die Unterrichtseinheit mit minimalem Aufwand persönlich auf die eigenen Klasse anzupassen ist. Denn jede Lehrperson kennt ihre Klasse am besten.

  • Je nach Lesefähigkeit der Schülerinnen und Schüler können die Dilemmata vorgelesen, einzeln gelesen oder im Klassenverband gelesen werden.
  • Je nach kooperativen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler und Klassengrösse kann bei Gruppenarbeiten die Gruppengrösse angepasst werden.
  • Die Form der Besprechung von Arbeitsblättern bestimmt die Lehrperson. Ob dies mündlich oder schriftlich an der Wandtafel, am Beamer oder am Visualizer geschieht, spielt keine Rolle.
  • In Lektion 3 kann ein Dilemma, das am besten zur jeweiligen Klasse passt, ausgewählt werden.
  • Falls in Lektion 4 und 5 mit vier Dilemmata gearbeitet wird, bleiben zwei Dilemmata übrig, die nicht verwendet werden. Hier ist die Lehrperson frei zu entscheiden, welche Dilemmata für ihre Schülerinnen und Schüler interessant und inhaltlich passend sind.
  • In Lektion 6 kann zwischen zwei verschiedenen Hauptteilen gewählt werden.
  • Die erstellten Argumentationshilfen können den Schülerinnen und Schülern individuell je nach Argumentations-Schwierigkeiten zur Verfügung gestellt werden. Dazu kann das Arbeitsblatt 2 leicht angepasst werden, indem man die einzelnen Spalten herauslöscht und nur noch eine Hilfestufe, auf die Schülerin oder den Schüler angepasst, abgibt. Die Hilfestufe 1 ist für argumentationsstärkere Schülerinnen und Schüler. Die Hilfestufe 3 bietet die grösste Hilfestellung. Die Hilfestufen 1 und 2 sind nicht spezifisch auf das Dilemma «unfaire Hilfe» abgestimmt und können somit in den Lektionen 3 bis 6 weiter gebraucht werden.
  • Falls die Klasse im Diskutieren noch ungeübt ist, empfehle ich die Seiten 24 bis 26 (Kapitel Pro und Kontra) im Sprachbuch «Die Sprachstarken 7». Darin werden der Ablauf einer Diskussion, sowie Regeln und Satzanfänge erklärt.

Die zur Verfügung gestellten Materialien bestehen aus acht Dilemmasituationen und einer tabellarischen Analyse der Dilemmasituationen, einer Grobplanung mit Lektionszielen, Inhalten und Material sowie der Legende für die verwendeten Abkürzungen, aus einer Lektionsplanung mit dem Stundenverlauf für sechs Lektionen sowie aus drei Arbeitsblättern und Zusatzmaterial für die Lehrperson.

Materialien

M1 Acht schülernahe Dilemmata

M2 Analysen Dilemmata

M3 Grobplanung

M4 Lektionsplanungen

M5 Arbeitsblatt 1

M6 Arbeitsblatt 2

M7 Arbeitsblatt 3

M8 Zusatzmaterial

Literatur

Aufenanger, Stefan / Garz, Detlef / Zutavern, Michael (1981): Erziehung zur Gerechtigkeit. Unterrichtspraxis nach Lawrence Kohlberg, München.
Erziehungsdirektion des Kantons Bern (2016): Lehrplan 21. Ethik, Religion und Gemeinschaft, https://be.lehrplan.ch/index.php?code=b|6|5 (02.12.2019)
Kahlert, Joachim / Multrus, Ute (Hrsg.) (2012): Ethik. Didaktik für die Grundschule, Berlin.
Kesselring, Thomas (2014): Ethik und Erziehung, Darmstadt.
Lind, Georg (2009): Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, 2. Aufl., München.
Lindauer, Thomas et al. (2013–2014): Die Sprachstarken 7. Deutsch für die Sekundarstufe 1, Baar.
Meyer-Ahlen, Stefan (2010): Ethisches Lernen. Eine theologisch-ethische Herausforderung im Kontext der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn.
Pfeifer, Volker (2003): Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen?, Stuttgart.
Pfister, Jonas (2014): Fachdidaktik Philosophie. 2. Aufl., Bern.
Raters, Marie-Luise (2013): Das moralische Dilemma: Antinomie oder praktische Vernunft? Freiburg i. Br.
Artikelnachweis
Kurzo, Tanja (2019): Schülernahe Dilemmasituationen. Eine Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe I, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/kurzo-schuelernahe-dilemmasituationen/

Über Tanja Kurzo

Tanja Kurzo ist Lehrerin für die Sekundarstufe I und unterrichtet u. a. ERG im Kanton Bern. Seit 2018 ist sie Fachverantwortliche ERG an ihrer Schule.