500 Jahre Reformation: tote Geschichte oder lebendige Gegenwart?
Ein Unterrichtsentwurf für den 3. Zyklus
Einleitung
Die Idee und auch die in der Praxis erprobte Umsetzung des Unterrichtsentwurfs entstand im Rahmen des kirchlichen Religionsunterrichts in der Pfarrei Bruder Klaus in Bern. Der vorliegende Entwurf wurde aber sowohl inhaltlich als auch zeitlich für den konfessionsungebundenen schulischen Unterricht im Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG) für die Sekundarstufe I überarbeitet und ergänzt. Der Entwurf versteht sich als Hilfe und Anregung. Eine Anpassung an die jeweilige Klassensituation seitens der Lehrperson ist Grundvoraussetzung für einen gelingenden Unterricht. Zumal es schwierig einzuschätzen ist, welches Vorwissen und welche religiösen Hintergründe die Schülerinnen und Schüler jeweils mitbringen. Es ist gut möglich, auch nur einzelne Bausteine des Entwurfs zu übernehmen oder die im Lehrplanbezug vorgestellten weiterführenden Ideen und Umsetzungsvorschläge aufzugreifen, gegebenenfalls auch fächerverbindend mit Geschichte, Musik und/oder Bildnerischem Gestalten.
Zielsetzung
Das Ziel der Unterrichtseinheit ist es, anhand eines religionsgeschichtlich zentralen Themas wie der Reformation den Blick für komplexe gesellschaftliche, religionspolitische und religiöse Zusammenhänge zu schärfen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Wahrnehmung historischer Ereignisse zu schulen und dabei den Bogen immer in unsere heutige Zeit, in die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu schlagen, indem sie sich fragen: Was hat das mit mir zu tun? Betrifft mich das in meinem Alltag? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht?
Bei aller Geschichtsträchtigkeit steht also das, was wir heute von den Spuren vor und nach der Reformation noch in unserem Alltag vorfinden, wozu wir Zugangsmöglichkeiten und eventuell auch Fragen haben, im Fokus der Unterrichtseinheit.
Dabei werden praktische Umsetzungen wie der Besuch in einem reformierten, ehemals katholischen Kirchengebäude ebenso empfohlen, wie der Gegenbesuch in einer katholischen Kirche. Es werden mit Hilfe eines Filmausschnitts exemplarische Lernformen ermöglicht und kreative Methoden erprobt. Auch der Umgang mit biblischen Texten und deren Bedeutung für die Argumentation der reformatorischen Idee wird mit Hilfe von schüleraktivierenden Methoden erarbeitet.
Da die spätmittelalterliche Didaktik uns erfreulicherweise eine grosse und reichhaltige Anzahl an Bildern überlassen hat, wird die Methode der Bildbetrachtung und -beschreibung auf verschiedene Art und Weise immer wieder in den einzelnen Sequenzen aufgegriffen und mit den Schülerinnen und Schülern geübt.
Überblick
Der Unterrichtsentwurf umfasst zehn Lektionen (L), die folgendermassen aufgebaut sind:
L | Inhalt / didaktischer Gegenstand | Didaktische Begründung |
1 | Einstieg ins Thema anhand einer spielerischen Zuordnung mittelalterlicher Kopfbedeckungen
Das Eingangsportal des Berner Münsters |
Die Kopfbedeckungen können in den folgenden Sequenzen immer wieder entdeckt werden
Annäherung an mittelalterliche Ständegesellschaft Annäherung an das mittelalterliche Welt- und Menschenbild: Jenseitsvorstellungen |
2 | Gruppenarbeit zu den spätmittelalterlichen Lebensumständen um 1500 mit anschliessender Präsentation
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Themenspezifisch vertiefende Erarbeitung in Gruppen
Alle Arbeitsaufträge beinhalten mindestens einen Teil, der die Schülerinnen und Schüler zur persönlichen Auseinandersetzung anregt bzw. sie dazu befähigt, sich in die Lebensumstände der damaligen Zeit hineinzuversetzen |
3 | Zuordnung der Gruppenergebnisse zu den vier Begriffen Angst, Not, Hoffnung, Trost
Ausschnitt aus dem Film «Luther», Der junge Martin Luther in Rom |
Wissensstrukturierung und Ergebnissicherung
Audiovisuelle Annäherung an das spätmittelalterliche Lebensgefühl mit Hilfe des Films Exemplarisches Lernen anhand kreativer Methoden, u. a. Tagebucheintrag |
4 | Einstieg: Titelbild von Luthers Streitschrift «Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche»
Auswertung der Tagebucheinträge Der Ablasshandel: «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt!», Filmausschnitt zum Auftritt des Ablasspredigers Johannes Tetzel Die Thesen Luthers (Auswahl) als Antwort |
Inhaltliche Herleitungen durch erarbeitetes Vorwissen
Exemplarisches, personenbezogenes Lernen; Aktivierung von Vorwissen |
5 | Das Evangelium als Grundlage der reformatorischen Idee: Erarbeitung anhand einschlägiger Bibelstellen
Abschluss: Provokantes Flugblatt zu Luthers Schrift |
Quellenarbeit: Umgang mit religiösen Texten als Grundlage für die reformatorische Idee
Bewusstwerden der gesellschaftspolitischen Folgen der Reformation |
6&7 | Besuch einer reformierten, ehemals katholischen Kirche (z. B. Berner Münster)
Spuren der Geschichte entdecken |
Lebensumfeld als Lernwelt
Noch heute sichtbare Folgen der Reformation erkennen |
8 | Auswertung der Exkursion
Besuch einer katholischen Kirche – Schülerinnen und Schüler als Ratsmitglieder: Wenn der Rat für den Bildersturm stimmt, was müsste aus der Kirche entfernt werden? Ratsversammlung zum Bildersturm |
Lebensumfeld als Lernwelt
Rollenspiel Festigung und Vertiefung des erarbeiteten Wissens |
9 | «Reformation heute» – Teil I
Einstieg mit Karikatur Schülerinnen und Schüler erstellen einen Wikipedia-Artikel zur Reformation |
Wissenssicherung und -transfer |
10 | «Reformation heute» – Teil II
Stationenarbeit: Annäherung der Konfessionen
Abschluss: Zitat Luther «Wenn Du die Welt verändern willst, nimm einen Stift und schreib.» |
Verbindende Elemente und verschiedene Formen der Annäherung beider Konfessionen 500 Jahre nach der Reformation
Möglichkeit, zuvor Erlerntes argumentativ aufzugreifen und die persönliche Meinung fundiert zu begründen |
Lehrplanbezug
Auf den ersten Blick mag das Thema «Reformation» zur Bearbeitung im Fach ERG eher sperrig und unzugänglich erscheinen. Zudem wird man einwenden können, dass es wohl eher in den Geschichtsunterricht passt. In der Tat, es gibt eine gewinnbringende Verbindung zum Fach Geschichte, zugleich bestehen aber reichhaltige Möglichkeiten die «Reformation» bewusst im Fach ERG zu verorten. Die Bezüge zum Lehrplan 21 des Kantons Bern sollen dies im Folgenden verdeutlichen.
Der Kompetenzbereich ERG 3 im Lehrplan 21 verweist auf Kompetenzen, die in der Auseinandersetzung mit dem Thema «Reformation» in vielerlei Hinsicht gestärkt werden können. Der weitläufige Analphabetismus des Spätmittelalters beschert uns heute eine grosse Menge an Bildmaterial, die uns die Lebens- und Glaubenshaltung der damaligen Zeit anschaulich vermittelt. Die religiösen Motive im Alltag, wie z. B. das Kreuz, der Hahn und das Gebet (früher und heute), dazu in kulturellen Werken wie z. B. Kirchenbauten vor und nach der Reformation, Musik wie die Werke von Johann Sebastian Bach, aber auch die Bibel als kulturelles Erbe, können in der Analyse als reformatorische Wirkung auf unsere Kultur erkennbar werden. Um die Einflüsse der Reformation auf das gesellschaftliche Gefüge damals und heute verstehen zu können, braucht es Vorwissen über die Lebensumstände und die gesellschaftliche Ordnung im Spätmittelalter (ERG 3.1 und ERG 3.2).
Auch hinsichtlich des Kompetenzbereichs ERG 4 bietet das Unterrichtsthema «Reformation» vielfältige Umsetzungsmöglichkeiten: Die Bedeutung des biblischen Textmaterials für die Vehemenz und den Erfolg der Reformatoren, allen voran Martin Luther und Huldrych Zwingli mit ihren Bibelübersetzungen, ist offensichtlich (ERG 4.1). Auch die (historische) religiöse Praxis muss zum Verständnis des Anliegens der Reformation in den lebensweltlichen Kontext eingeordnet und ihre wechselseitigen Beziehungen beleuchtet werden. Es kann darüber hinaus auch auf heutige Praxis und ihren jeweiligen Kontext Bezug genommen werden (ERG 4.2). Die Diskussion um Festtraditionen, wie beispielsweise die Fastnacht bzw. das Fasten, lässt anhand reformatorischer Fragestellungen, wie z. B. der Abschaffung des Fastens und damit auch der Fastnacht, jedoch Erhalt der Festtradition «Fastnacht» z. B. in Basel mit der provokanten Verschiebung von einer Woche nach Beginn der katholischen Fastenzeit, anschauliche Erklärungen heutiger Festtraditionen zu (ERG 4.3). Wissen erzeugt Wertschätzung und Respekt und beugt Vorurteilen vor – so kann der interkonfessionelle, aber auch der interreligiöse und der Dialog zwischen Gläubigen und Agnostikern anhand des Unterrichtsthemas «Reformation» gewinnbringend vorangebracht werden. Der zeitliche Abstand der Fragestellung von 500 Jahren entschärft das Konfliktpotenzial, zeigt zugleich aber in spielerischer Weise auf, welche Unterschiede im Glauben heute noch bestehen und welche davon bis heute auf der institutionellen Ebene nachwirken, aber eventuell auf der individuellen Ebene gar keine Rolle spielen. Zugleich bieten sich, wenn Schülerinnen und Schüler mit hinduistischem, jüdischem oder muslimischem Hintergrund in der Klasse sind, Verknüpfungen für einen spannenden interreligiösen Austausch an, z. B. hinsichtlich des Bildersturms (ERG 4.4). Die Weltsicht und Weltdeutung des Spätmittelalters sind insbesondere durch ihr reichhaltiges Bildmaterial für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I leicht zugänglich, zugleich sind einige Elemente der mittelalterlichen Lebenswelt für uns heute so unverständlich (z. B. Ablasshandel), dass sie von uns umgehend hinterfragt werden wollen und zum Diskutieren anregen (ERG 4.5).
Zusatzmaterial
In der Lektionenplanung und den weiteren Zusatzmaterialien werden folgende Abkürzungen verwendet: Arbeitsauftrag (AA), Arbeitsblatt (AB), Arbeitsform (AF), Gruppenarbeit (GA), Gruppenpräsentation (GP), Hausaufgaben (HA), Lehrer-Schüler-Gespräch (LSG), Lehrervortrag (LV), Lehrperson (LP), Martin Luther (ML), Materialblatt (MB), Mittelalter, eigentlich: Spätmittelalter (MA), Partnerarbeit (PA), Schülerinnen und Schüler (SuS), Schülervortrag (SV), Tafelanschrieb (TA), Unterricht (U), Unterrichtseinheit (UE)